Können Libertäre politisch sein?

„Haben Sie je gehört, dass man mit Logik aufkommt gegen eine Leidenschaft? Dass man dem Fieber zureden kann: >Fieber, fiebre nicht!< oder dem Feuer: >Feuer, brenn‘ nicht!<“

(Doktor Condor zu Leutnant Hofmiller in Stefan Zweig: „Ungeduld des Herzens“)

Gefangen im Fieberwahn

Ein Fieber tobt fürwahr ausgiebig in unserer Mitte. Es frisst und brennt sich in wütender Raserei durch alle Geister, die – einmal infiziert – kaum umkehrbar zum Wirt des greifenden Wahns werden. Doch wann ebbt es ab? Und wie lassen sich die allzu heißen Flammen löschen?

Dem Fieber etwas Leidenschaftliches beizumessen, erklärt sein wild-hungriges Erscheinen. Hat die bloße krankhafte Temperatur doch etwas Störrisches an sich, wie sie trotzig über den Machtlosen fällt und auf ihm lastet – beinahe gelangweilt –, attestiert ihm die Leidenschaft zusätzlich ein feuriges Eifern nach Extension, sodass die heiße Temperatur, das Fieber, nicht mehr bloß renitent, sondern zugleich frenetisch daherreitet – ein schauriger Krieger.

Dies also ist der Klimawahnhafte, der Wokeismusgefangene, der Kriegssehnsüchtige. Doch vergessen wir nicht, er hat Fieber, er ist krank und er ist ansteckend. Zuerst gilt es also, sich ihm fernzuhalten, sich selbst zu immunisieren und sodann – bei Bedarf – sich ihm auszusetzen, um Heilung zu ersuchen.

Corona, Klima, Kulturkampf: Selbstheilung unwahrscheinlich

Wer entgegen den letzten Schocks auf seinem Fieber insistierte, kämpft bis zum endgültigen Sieg mit erhöhter Temperatur. Andreas Tiedtke sprach einmal von Bereichserwachten, die zwar noch keine strukturellen Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen zeitgenössischen Phänomen erkennen würden, doch immerhin in einem spezifischen Bereich aufgeklärt seien.

Hinsichtlich der Resistenten jedoch, den krankhaft renitenten Immunen, kann nicht von einem immerhin, sondern muss von einem nimmermehr die Rede sein. Wem das Fieber über Corona, Kulturkampf und Klima gestiegen ist, dem helfe Gott. Wenn junge Frauen in Deutschland keine Kinder zur Welt bringen wollen, weil sie Angst vor dem leibhaftigen Weltenbrand haben, hilft nachgerade kein vernünftiges Entgegenwirken mehr. Wessen Maximen jeder logischen Betrachtung entbehren, dessen Geist ist nur noch für emotionale Schockereignisse empfänglich, die desto tiefgreifender wirken müssen, je gefestigter der Befallene sich im Fieber wähnt.

Kalte Wickel

Wie endet der Fieberwahn der Kranken? Leutnant Hofmiller will sich der Leidenschaft Fräulein Ediths nicht annehmen, sie gar nicht erst wahrhaben, sie wegdenken, alsbald er von ihr überrannt wurde. Doktor Condor verleitet dies zur oben zitierten Mahnung – Logik kommt gegen Leidenschaft nicht an. Nein, Fräulein Edith ist wahrlich vollends vereinnahmt von ihrem Verlangen, ihrem Brennen und Sehnen. Keine Vernunft drünge nunmehr zu ihr durch, ihr Handeln folgt konsequent ihrer leidenschaftlichen Manie.

Mithin ist der Wille der Begehrenden trotz fiebrigem Verlangen nicht irrational, vielmehr ihre Ratio von Leidenschaft überlagert. Fraglich ist also wesentlich, wie die Rückkehr zur vernünftigen Betrachtung vollzogen, das fanatische Brennen gelöscht, das heiße Feuer besänftigt werden kann. Wie kehrt die Ratio aus dem Überlagerungszustand heraus, wann durchbricht sie die Belagerung durch kopflose Obsession?

Durch den unvermeidlichen Lernprozess, der da irgendwann anheimrinnt (erlauben Sie mir diesen Neologismus). Die Romanfigur Fräulein Edith endet mit einem tragischen Sprung von der Burgturmterrasse.

Das Paradox des kranken Arztes

„Aber ist rechte geistige Herrschaft über eine Macht denn möglich bei dem, der selber zu ihren Sklaven zählt? Kann befreien, wer selbst unterworfen ist? Der kranke Arzt bleibt ein Paradoxon für das einfache Gefühl, eine problematische Erscheinung.“

(Gedanken des Hans Castorp aus Thomas Mann: „Der Zauberberg“)

Korrumpieren stammt vom lateinischen corrumpere, was verderben und vernichten bedeutet. Der Korrumpierte ist innerlich verdorben und vernichtet äußerlich ihm entgegengebrachtes Vertrauen. Er missbraucht seine Verantwortung und handelt wider seine ursprünglichen Überzeugungen; ist befangen, verfangen und schlechterdings in unerkennbare Absichten verstrickt.

Die Geschichte ist indes gezeichnet von der Selbstkorrumpierung. Lohnenswert ist hier ein Blick auf Maximilien Robespierre – der Tugendhafte, der den Terror brachte. Aus seinem Zielbild einer neuen, gerechten Gesellschaft wurde schließlich die Herrschaft von Zwang und Gewalt. Maximilien Robespierre – ein kranker Arzt, der der Selbstkorrumpierung unterlag, dessen Zielbild verdarb, und der seine Welt vernichtete – seine Idee verschlang ihn … oder auch: die Revolution fraß ihre Kinder.

Der politische Libertäre

Ist der politische Libertäre ein kranker Arzt? Mithin können wir auf ehemalige Reformparteien zurückblicken, die bald im parlamentarischen Alltag erstarrten oder auf Freiheitsbewegungen, die – einmal an die Macht gekommen – selbst neue Zwangsbewirtschaftungen errichteten. Doch ergibt sich aus dem subjektiven Interpretieren komplexer historischer Phänomene keine zwingend konsistente Evidenz.

Der kranke Arzt ist Sinnbild eines paradoxen Zustandes: Jemand, der heilen soll, aber selbst von der Krankheit befallen ist. Dem politischen Libertären fällt eben jene Zwiespältigkeit anheim. Kann jemand, der das politische System ablehnt oder radikal verändern will, innerhalb eben dieses Systems operieren, ohne selbst von ihm korrumpiert zu werden?

Der Libertäre tritt gegen staatliche Einmischung, gegen Zentralisierung und gegen politische Machtakkumulation auf. Er will den Staat reduzieren, ihn abbauen, im konsequentesten Falle ihn abschaffen. Die Zielsetzung des Libertären ist indes die Mehrung von Freiheit durch das Zerstäuben von Macht.

Als politischer Akteur muss sich der Libertäre nunmehr der Mechanismen des Staates, die durch das Über- & Unterordnungsprinzip des öffentlichen Rechtes Mittel des Zwangs sind, bedienen. Um Macht abzubauen, muss auch der libertäre politische Akteur Macht ausüben.

Dabei bleibt dem vermeintlich kranken Arzt, dem politischen Libertären, nur die Selbstbegrenzung anstelle der Selbstkorrumpierung. Anstatt sich selbst im System zu etablieren, sich dem Sog der Macht zu beugen und sich allzu wohl mit seinen Zwangsbewirtschaftungsmitteln zu fühlen – ähnlich dem kranken Arzt, der sich an seinen Zustand gewöhnt und fortan Routine über Heilung auch bei seinen Patienten stellt, also das Elend zum einen aus Bequemlichkeit, zum anderen aus böser Absicht nur noch verwaltet, statt es zu lindern –, muss der politische Libertäre die ihm nun zur Verfügung stehenden Wirkmechanismen des Staates, die Mittel der Macht, beschneiden, reduzieren und zurechtstutzen, um schließlich dem Einzelnen zu mehr Freiheit zu verhelfen und ihn zu ermächtigen, eigen- sowie selbstständig zu handeln – ganz wie ein Arzt, der seine Patienten zur Heilung geleitet, statt sie in eine dauerhafte Abhängigkeit von ihm zu stürzen.

Auch der politische Libertäre ist insofern ein Paradoxon für das einfache Gefühl, eine problematische Erscheinung. Doch ganz wie dem kranken Arzt steht es ihm offen, der Selbstkorrumpierung zu verfallen und im Sinne von corrumpere zu verderben und zu vernichten, oder sich seine Integrität zu bewahren, integer zu bleiben – lat. integer bedeutet hier unbescholten, unverdorben und unbestechlich.

Die systemische Heilung

„Den Boden für eine wahre Reform der Denkungsart, für das eigene Denken zu kultivieren, ist also ein Vorhaben, mit dem wir nicht neu beginnen müssen, sondern das wir in langer Tradition fortsetzen.“

(Benjamin Mudlack: „Neues Geld für eine freie Welt“, Seite 514)

Den politischen Libertären als Möglichkeit der Genesung des Systems können wir innerhalb libertärer Gedankenkonzepte nur zulassen, wenn wir auch den Wahlen der politischen Herrscher eine Existenzberechtigung zusprechen. Müssen wir Wahlen prinzipiell ablehnen oder sie akzeptieren und dürfen wir von ihnen partizipieren?

Im Vorlauf der Bundestagswahl im Februar haben sich einige Libertäre zu moralisch überlegenen Nichtwählern aufgeschwungen. Fraglich ist, ob diese ethische Betrachtung gerechtfertigterweise alle übrigen überlagert. Jedenfalls könnte ihr eine pragmatische wirkmächtig entgegenschlagen.

Die sich der Ethik bedienenden gegen ein Gebrauchmachen vom Wahlrecht Argumentierenden können mithin den Akt des Kreuzchenmachens als Nachfragesignal nach Herrschaft klassifizieren. Doch sieht sich bereits dieses stärkste Argument der libertären prinzipiellen Nichtwähler erheblichen Mängeln ausgesetzt.

  • Notwendige Relativierung: Vermag ein einzelnes Kreuz noch so wenig zu bewirken, entfaltet ein Nicht-Kreuz – das im Außen im Übrigen nicht als Systemwiderstand, sondern bloß als politisches Desinteresse oder unzufriedenes Trotzverhalten aufgefasst wird – jedenfalls geringere Auswirkung. Insofern widerspricht möglicherweise sogar die Intention der Nichtwähler der durch das Unterlassen entfalteten Wirkung.
  • Hinreichender Pragmatismus: Jedenfalls unterliegt aber der Widerstand durch Unterlassen dem durch Handeln. Denn trotz jeder Ablehnung aller politischen Aktivitäten kann das Senden des Nachfragesignals nach Herrschaft eben jene bekämpfen, währenddessen das Verweigern der systemischen Anteilnahme lediglich deklaratorische Wirkung für das eigene Wohnzimmer zu entfalten imstande ist – manchmal sogar darüber hinaus.
  • Performativer Widerspruch: Das intendierte Zielbild widerspricht indes dem theoretischen tatsächlichen Ergebnis der vorgenommenen Handlung des Nichtwählens. Das Unterlassen des Sendens des Nachfragesignals nach Herrschaft erschafft weder eine Privatrechtsgesellschaft noch bereitet es den Boden für die allgemeine Ablehnung politischer Aktivität. Selbst in einer Gesellschaft mit Nichtwählermehrheit entscheidet schließlich die sich numerisch in der Minderheit befindende Wählerschaft über die politische Einflussnahme.

In einem Argentinien mit libertären prinzipiellen Nichtwählern wäre möglicherweise kein libertärer Präsident Javier Milei an die Macht gekommen, um Staatsabbau betreiben zu können.

Dem überzeugten Nichtwähler bleibt also bloß das moralische Besserfühlen im Fernbleiben von systemischer Anteilnahme. Das Schwingen der Moralkeule allerdings verbietet sich in Anbetracht der hiesigen pragmatischen Perspektive.

Das ethische Argument kann für sich stehen und vermag im Einzelnen sowohl notwendige als auch hinreichende Überzeugung zu entfalten. Durch realistisch-pragmatische Argumentation gedeckt steht unterdessen jeder, der in Ersuchen eines systemischen Wandels an eben jenem Anteilnahme erwirkt, indem er sich des Kreuzchenmachens bedient, diesem Übel eines Nachfragesignals nach Herrschaft.

Eine Welt ablehnbarer Angebote

„Wir müssen auf´s Spielfeld“ 

(Javier Milei) 

Kann man den Herrscher zwingen, sein Angebot der Herrschaft einzuschränken oder abzuändern? Kann man die Mehrheit zwingen, ihre Nachfrage nach Herrschaft einzustellen? Kann man Dritte zwingen, anderweitige Angebote im Bereich des Zusammenlebens zu erschaffen? Die Antwort ist dreimal dieselbe.

Wer zunächst durch sein persönliches Handeln auf die gegebenen Umstände sowie die eigenen Analysen reagieren möchte, der kann mit den Füßen abstimmen, wie es so schön heißt. Wer darüber hinaus auf dem Markt des Zusammenlebens agieren, also ein neues Angebot nach eigenen Vorstellungen in die Welt setzen möchte, der kann Titus Gebel nacheifern, der aktuell Pionier-Arbeit leistet, indem er den staatlichen Modellen das der Freien Privatstädte entgegenzusetzen beginnt – was möglicherweise eine neue Ära des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie der zivilisatorischen Entwicklung einzuleiten imstande ist.

Eine Welt ablehnbarer Angebote ist insoweit allgegenwärtig, als sich das Individuum zu jeder Zeit frei entscheiden kann, zu handeln. Lediglich die Konsequenzen des Handelns differieren je nach kontemporärer Umgebung. Wer eine dem freien Handeln günstigere Umgebung schaffen möchte, der muss anfangen zu reagieren und im besten Falle sogar zu agieren – jedenfalls aber aufhören zu resignieren.

Wer nichts wagt, der nichts gewinnt. So weiß es der Volksmund und so ist es auch hier. Der politische Libertäre ist ein Hoffnungsschimmer; ein Ausweg und ein Richtungsweiser. Die Österreichische Schule ist seine Rüstung, die Antipolitik sein Schwert, der Staat sein Feind.

Um nun begrifflich sorgfältig zu sein, muss Andreas Tiedtke abermals zu Wort kommen. Denn sprechen wir vom politischen Libertären, meinen wir mithin den Antipolitiker. Und so wird aus dem kranken Arzt ein Naturheilkundiger.

In der Erwartung der Schaffung neuer Angebote kommen wir um das proaktive Agieren nicht herum. Der Antipolitiker ist wahrscheinlich der wichtigste Verbreiter unserer Erkenntnisse, die größte Chance auf bessere Lebensbedingungen in den existierenden Staatengebilden und ein potentiell entscheidender Verbündeter in der Schaffung neuer ablehnbarer Angebote im wichtigsten Markt der Welt … Geben wir ihm eine Chance, bevor wir ihn entschlossen nichtwählen.

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Der nächste Gang …

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