Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.
Der menschliche Kosmos #17
Sei’s Krieg, Sport oder wirtschaftliche Höchstleistung im globalen Wettbewerb: Es gäbe sie nicht ohne den Dominanzimpuls. Ob und inwieweit er in fairer und friedlicher Konkurrenz oder feindseligen Handlungen des Typs „Mir nützt was anderen schadet“ ausgelebt wird, schließlich ins Geschehen von Gewalt – Macht – Lust mündet, in Terror und Krieg, hängt davon ab, wie hoch der Wert eines Menschenlebens von den streitenden Parteien bewertet wird. Dabei geben nicht zuletzt demographische Voraussetzungen den Ausschlag – und jeweils herrschende Ideologien.
Stammeskriege, Religionen und die „höhere Moral“
Die vorige Folge schloss mit einem Blick auf den Dominanzimpuls und – wie schon mehrfach in meinen Überlegungen – auf die materielle und informelle Dimension von Macht. Kriege wurden und werden immer sowohl um den Besitz von Territorien als auch die Deutungshoheit über gesellschaftliche Rangordnungen, ideologische, sprachliche, moralische Vorherrschaft geführt, in Zweikämpfen geht es um soziale Stellung und physische Existenz. Wer verliert, wer behält Gesundheit und Leben, wer seine Ehre, wer beherrscht die Straßen, wer die Medien – das wurde und wird auch in „zivilisierten“, industrialisierten Gesellschaften ausgefochten. Menschenleben zählen hier – schon wegen demographischer Verhältnisse – ungleich mehr als in tribalistischen mit hohen Geburtenraten. Der 2023 verstorbene Wissenschaftler und Publizist Gunnar Heinsohn hat dazu wesentliche Beiträge veröffentlicht.
Zu den globalen zivilisatorischen Wandlungen gehört, dass aus dem Duell Wettkämpfe im Fechten, aus Schlägereien das Boxen, Ringen, Judo und andere Kampfsportarten wurden, manche sportlichen Disziplinen nennt man „körperlos“ – wie Basket- und Volleyball – bei ihnen werden unfaire Attacken, Fouls weitgehend vermieden. Jedenfalls gibt es Regeln, nach denen gekämpft wird, sie gelten als Belege der Zivilisation: Fairness ist eine Tugend. Auch Schützen trainieren für friedliche Wettbewerbe, nicht nur für Kriege und Polizeieinsätze; das tödliche Duell verschwand weitgehend aus dem zivilisierten Leben, auch die Todesstrafe. Und selbst für Kriege hat die Zivilisation des Westens Regeln herbeigeführt, die Bestialität verurteilen und vermeiden sollen. Es bleibt eine interessante Frage, welche kriegerischen Parteien sich daran halten.
Physische Gewalt, durch die Menschen verletzt, gar getötet werden, ahndet das Gesetz nur dann nicht, wenn sie in Notwehr erfolgt. Oder auf militärischen Befehl. Dann darf der Finger den Abzug drücken. Notwehr setzt eine Drohung gegen Leib und Leben voraus, im Verteidigungsfall stellt Subordination den Schützen frei von Schuld – aber das entlastet nicht unbedingt sein Gewissen. Wer handelt, ist verantwortlich. Auch wer notwendige Hilfe unterlässt – und da ist im entscheidenden Augenblick die Zeit oft zu knapp fürs Nachdenken. Was also heißt „dem Gewissen folgen“?
In Shakespeares Königsdrama „Richard III.“ zweifelt ein von Richard gedungener Mörder, ob nicht das Meucheln ihn vors ewige Gericht Gottes bringt, aber er beruhigt sein Gewissen, indem er feststellt, dasselbe stecke ja im Geldbeutel des Auftraggebers. Richards Bruder Clarence wird also umgebracht, der Mörder konstatiert, wie lästig ein Gewissen ist:
„Es ist ein gefährlich Ding, es macht einen zur Memme. Man kann nicht stehlen, ohne daß es einen anklagt; man kann nicht schwören, ohne daß es einen zum Stocken bringt; man kann nicht bei seines Nachbars Frau liegen, ohne daß es einen verrät…und jedermann, der gut zu leben denkt, verläßt sich auf sich selbst und lebt ohne Gewissen.“
Lesen Sie die ganze Szene, die vierte im ersten Aufzug: Wie der große Dramatiker Politik und Moral sarkastisch entblößt, ist brandaktuell.
Dem Gewissen zu gehorchen, bewirkt bisweilen das Gegenteil klugen Abwägens von Vor- und Nachteilen. Just in entscheidenden Momenten handelt der Einzelne gegen seinen Vorteil, gegen Befehle, gegen religiöse, politische, ökonomische Zwänge, gegen eine herrschende Moral, ohne zu überlegen. Dann schießt er in die Luft, statt in den Rücken, verweigert den Befehl, riskiert buchstäblich Kopf und Kragen – und wird womöglich zum Helden. Davon leben Literatur, Filme, oder auch nur die Narrative von Stammtisch bis Internet: Es ist der von Viktor E. Frankl beschriebene Moment der Intentionalität. In „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“ hat der Überlebende von vier deutschen Konzentrationslagern ihn festgehalten. Seine Schriften und Vorträge dazu setzen bis heute moralische Maßstäbe.
Ein Nein zum Gebrauch des „Menschenlochers“
Ende 1981 stand ich als Reservist der „Nationalen Volksarmee“ der DDR vor der Entscheidung, in voller Montur, die Kalaschnikow samt Munition am Mann, auf einem LKW des sowjetischen Typs Ural zur „Friedensgrenze“ an die Oder und weiter nach Polen gekarrt zu werden. Eine Invasion der sozialistischen „Bruderländer“ stand – wie 1968 in der Tschechoslowakei – bevor. Widerstand der Opposition, vor allem der Gewerkschaft „Solidarność“ war zu brechen. Das bedeutete: Deutschen mit einem „Sturmgewehr“ konnte wieder befohlen werden, auf Polen zu schießen.
Das ging mir in jener Nacht vom 12. auf den 13. Dezember durch den Kopf. Mir war klar, dass ich den Befehl aufzusitzen, verweigern musste, mich folglich zumindest im berüchtigten „Armeeknast“ in Schwedt an der Oder wiederfinden würde. Mein Entschluss stand fest, aber ich hatte Glück: In Polen wurde das Kriegsrecht ausgerufen, weder Rote Armee noch NVA marschierten ein. Die Polen hatten weniger Glück. Viele wurden ermordet, landeten in Internierungslagern, Gefängnissen oder gingen ins Exil. Aber es war ein Nagel zum Sarg der kommunistischen Herrschaft.
Lassen Sie mich auf meinen Exkurs zu „Dimensionen und Dynamik der Macht“ zurückkommen: Kämpfe um Macht werden sowohl in der materiellen wie informellen Sphäre ausgetragen, Geld und gesellschaftlicher Rang sind allgemeine Maße. Nicht messbar sind individuelle Qualitäten, also Begabung, Lernfähigkeit, charakterliche Stärken wie das Gewissen, Kreativität und viele andere mehr, die eine Persönlichkeit ausmachen. Über ihre Entwicklung lässt sich bestenfalls mutmaßen; vorherzusagen, wie sich jemand in einer bestimmten Situation verhält, bleibt spekulativ. Spontan, unberechen- und unvorhersehbar einer Idee, einer Regung des Gewissens zu folgen, ist ein Ausdruck für Freiheit und Intentionalität. Wer Kinder zum Hass erzieht, ihr Gewissen aufs Verteufeln, Brandmarken, gar Ausrotten von Feinden hin zu verstellen trachtet, wie es die Hamas und dienstbare Institutionen aller Art tun, nimmt ihnen diese Freiheit. Er macht sie zu Mitläufern, manche werden in organisierter Verantwortungslosigkeit zu „Angestellten des Todes“, wenn es ans Ausrotten geht, andere – von Heilslehren und johlendem Lynchmob getragen – überlassen sich dem Rausch von Gewalt – Macht – Lust.
„Friede den Hütten – Krieg den Palästen?“
Was ist ein Antikriegsfilm? Vielleicht fällt Ihnen als berühmtes Beispiel „Apocalypse Now“ ein. Es ist keiner. In den Kinos haben immer wieder einmal Männer getobt und mitgejohlt, wenn zu Wagners „Walkürenritt“ die waffenstarrenden amerikanischen Hubschrauber eine Dominanzorgie in Vietnam eindröhnten. Gewalt Macht Lust. Sehen Sie sich dagegen einmal „Catch 22“ an oder lesen Sie den Roman „Der IKS- Haken“ von Joseph Heller, der dem Film zugrunde liegt. Sie bekommen einen Eindruck von der öden Mechanik des Krieges, garantiert keine Lust darauf. Das Geheimnis? Keine besoffenen Machträusche, stattdessen Irrsinn und Elend der Gewalt, erzählt mit einem bizarren schwarzen Humor, mit viel Phantasie und Lust am Nicht-Dazu-Gehören, am Anderssein und: am Lachen darüber, dass diese Form subversiven Freiheitsdranges immer wieder scheitert und nie vergeht.
Zu den unzähligen Alltagsritualen, die unser Leben vom Erwachen bis zum Einschlafen strukturieren und noch in unsere Träume hineinreichen, könnten neue kommen, die uns erleichtern, einander in die Augen zu sehen und gleichberechtigt zu kooperieren. Das wird natürlich nicht so einfach, wie es sich aufschreiben lässt, sondern genau so komplex und vielfältig wie es unsere Kulturen und individuellen Prägungen sind. Alles andere liefe auch nur wieder auf eine Spielart mechanischer Dominanz und gut verkäuflicher Patentrezepte hinaus. Aber den Unterschied zwischen lebenserhaltenden Ritualen und jenen der mechanischen Dominanz zu finden – das ist schon eine lohnende Aufgabe, und Sie haben sicher nicht ernsthaft erwartet, dass ich sie Ihnen mit diesem Buch abnehme.
Es ist auch eine Verpflichtung, umso mehr, je größer die Bevölkerungsdichte und je mächtiger das mechanische Instrumentarium wird. Der Marx’schen These „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern“, müssen wir entgegnen: „Die Welt verändern wir sowieso, es kommt darauf an, unser Verhältnis zu ihr und zu uns selbst ständig zu prüfen und neu zu bestimmen“. Dafür gibt es Verhaltens- und Vorgehensweisen, die helfen – etwa die von Ludwig von Mises, dem berühmten Österreichischen Nationalökonomen begründete „Praxeologie“ oder die Mediation anstelle herkömmlicher Gerichtsverhandlungen. Es sind Strategien, die auf sehr langen Erfahrungen im diplomatischen Umgang mit Interessenkonflikten beruhen. Patentlösungen kennen sie nicht, sie sind nicht uneingeschränkt nutzbar, aber sie haben gemeinsam, dass es im Falle des Erfolges keine Verlierer gibt. Weder in Hütten noch Palästen.
Das Gespenst der Freiheit
Ich hoffe, Sie konnten mir insofern folgen, dass Menschen normalerweise von ihrer andauernden Interaktion wenig bewusst ist, dass Handeln und Kommunizieren durch Impulse, Routinen, Rollen und Rituale bestimmt werden. Sie können täglich erleben, dass die uralten Strategien menschlichen Verhaltens – manche sprechen von „Steinzeitritualen“, andere sagen einfach „wider besseres Wissen“ – Konflikte schaffen. Bisweilen helfen sie aber aus Konflikten heraus, wenn etwa Mitgefühl den Wunsch nach Dominanz hemmt.
Ein großer Teil der informellen Macht wird heute von Leuten beansprucht und verwaltet, die „Störendes“ bis ins letzte Detail kontrollieren wollen – bis hin zu einer allweisen, alles verstehenden, kontrollierenden und planenden Weltregierung. Ihre Entscheidungen nennen sie „alternativlos“. Gern sehen sie das Repertoire des technischen Fortschritts erweitert, solange sie an ihrem dominanten Verhalten nichts ändern müssen. Doch Zweifel an ihrer Deutungshoheit mobilisieren äußerste Gegenwehr: Dann opfern sie sowohl technische wie zivilisatorische Errungenschaften dem Machterhalt.
Ohne das Thema weiter ausführen, gar Prognosen geben zu wollen: Wie Politiker hierzulande mit Wissenschaft und Technik umspringen, ist befremdlich. Diskussionen um Klimawandel und „Energiewende“ offenbaren eine bizarre Mischung aus Unkenntnis, bewusster Irreführung und ritualisiertem Beharren auf einer Moral von „Umweltfreundlichkeit“. Windräder offenbaren ebenso wie Maiswüsten und Anti-Kernkraft-Aktivismus deren Absurdität, wenn es etwa ums Vermeiden von CO2-Emissionen und ums Bewahren von Biodiversität geht. Der Stellungskrieg wird so stur und aussichtslos geführt, wie alle Grabenkämpfe. Wer es wagt, den Kopf herauszustrecken statt einer weißen Fahne, wird weggeknallt. Könnte sein, dass die Vorräte an Köpfen schneller zur Neige gehen als die an weißen Fahnen.
Aber es ist unmöglich, die überaus komplexen Strategien der Interaktion gänzlich der Kontrolle eines totalitären Willens zu unterwerfen. Bewusstsein kann nicht einmal den millionsten Bruchteil der Informationen verarbeiten, die während der unablässigen Wechselwirkungen von Menschen mit ihrer Umgebung anfallen. Sie werden aber von der „inneren Matrix“ wunderbarerweise bewältigt. Das konnten Sie schon anhand des einfachen Selbstversuches bestätigen, bei dem Sie die Muskelaktivitäten ihres Körpers während des Aufstehens zu verfolgen suchten.
Erfahrungen mit totalitären Diktaturen und ihrer Ideologie beweisen, wie wenig erfolgreich und wünschenswert absolute Kontrolle ist. Warum also nicht zugeben, dass alles bewusste Wissen und Wollen befangen ist von Dominanzimpulsen, vom Wunsch nach Kontrolle über die Zukunft, eingefahren in den Geleisen mechanischer Kausalität? Davon können Sie und ich uns befreien – und dann wird es spannend, denn es stellt sich die Frage:
Befreien – Wozu?
Der Körper organisiert sich im Alltag unbewusst. Wie der Körper so die Seele: Egal ob Sie oder ich an eine unsterbliche Seele glauben oder nicht: hienieden verfügt sie über nichts Besseres als just den Körper, in den sie hineingeboren ward. Und das ist eine ungeheure Chance, mit der Seele in Kontakt zu kommen, nicht einmal nur mit der eigenen. Bevor Sie das versuchen – falls Sie es nicht längst tun – sollten Sie sich vergewissern, ob Sie nicht nur einer neuen Spielart des Dominanzprinzips aufsitzen. Das heißt: wollen Sie mittels der Kontrolle über Körper und Gefühle, nicht letztlich Ihre innere Matrix beherrschen?
Eine ziemlich erfolgreiche „Persönlichkeitstrainerin“ behauptete schon vor fast 30 Jahren, es genüge, sich an einen stillen Ort zurückzuziehen und längere Zeit mechanisch die Mundwinkel nach oben zu ziehen, um im Körper die Ausschüttung von erheiternden Hormonen auszulösen. Damit ließen sich depressive Momente oder unerfreuliche Situationen überwinden. Solche mechanischen Kopplungen funktionieren tatsächlich. Es ist nur die Frage, wie nachhaltig sie wirken. Das stille Örtchen muss verlassen werden, und die nächste Interaktion beginnt.
Stellen sie sich vor, Sie beträten derart erheitert das Vorzimmer Ihres Chefs (oder Ihrer Chefin), wo Sie ein Zerberus mit eisiger Miene erwartet, weil die unerfreuliche Auswertung eines Zwischenfalls heraufdräut.
„Nehmen Sie bitte einen Augenblick Platz“. Der Augenblick zieht sich hin. Nun versuchen Sie ruhig weiter, die Mundwinkel hochzuziehen. Selbst wenn Ihnen das gelingt, ohne albern zu wirken, müssen Sie es schaffen, den Anlass Ihres Kommens und die bevorstehende Auseinandersetzung zu vergessen und Ihre hochgezogenen Mundwinkel – oder wenigstens die Endorphine – auch noch über die Schwelle des Chefzimmers zu retten.
Über dieser Mühe entgeht Ihnen das eigentliche Problem: Die körperlichen Rituale, die in dieser Situation Rollen definieren. Sie kämpfen mit Ihren Mundwinkeln, statt das Ritual zu erkennen und zu überwinden, das Sie in die miserable Rolle eines Delinquenten versetzt. In diesem Fall ist es das Ritual des Warten- (oder verschärft: des Schmoren-) Lassens. Zu dem bösen Spiel können Sie gute Miene machen, aber dann sind Sie immer noch der (oder die) Geschmorte. Nur wenn sie das Ritual durchbrechen, und zwar körperlich durchbrechen, kommen Sie aus der unkomfortablen Lage.
Setzen Sie sich also nicht hin. Begeben Sie sich um keinen Preis in die Schmor-Perspektive. Wechseln Sie vielmehr die Perspektive und sehen Sie die Situation aus der Perspektive eines gleichberechtigt Interagierenden. Das bedeutet auch, dass Sie die Leichenbittermiene des Zerberus vollkommen ignorieren. Der oder die Betreffende antizipiert Ihr schlechtes Gewissen – das gehört zum Ritual. Sie müssen ja nicht so dreist sein, zu fragen:
„Sie blicken heute recht verdrießlich drein, kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Denken dürfen Sie das schon. Damit sind Sie auf dem Weg zum Perspektivenwechsel. Sie tun nichts Ungehöriges, denn in der Tat treten Ihnen Menschen gegenüber, die ein Problem haben, und zwar sowohl mit Ihnen, wie auch mit sich selbst. Wäre Letzteres nicht der Fall, bräuchten sie nämlich kein Schmorritual. Dem können Sie abhelfen. Es steht nirgendwo geschrieben, dass Sie dazu ausschließlich in der Rolle des armen Sünders fähig wären.
„Vielen Dank, ich möchte lieber stehen. Wie geht es Ihnen heute?“ Mit einer unverfänglichen Unterhaltung lässt sich einiges erreichen, vorausgesetzt, dass nicht Ihre Kehle ausgetrocknet ist und die Mundwinkel schmerzen. Versuchen Sie ernsthaft herauszufinden, wo es dem Zerberus wehtut, natürlich ohne mit der Tür ins Haus zu fallen. Suchen Sie Blickkontakt, machen Sie ein Kompliment, vertrauen Sie Ihrem Charme. Arme Sünder haben keinen Charme, es sei denn, sie können eine Clownsnummer abziehen oder wenigstens mit der Rolle kokettieren. Dazu gehört Begabung oder gar die hohe Schule der Selbstdarstellung, und in dem Fall definiert das Ritual die Rollen anders, der „arme Sünder“ manipuliert nämlich sein Gegenüber. Bleiben wir bei dem simpleren Schmorfall und nehmen wir weiter an, dass small talk gerade nicht Ihre starke Seite oder der Zerberus wirklich hartgesotten ist. Schlimmstenfalls hat er dieses Buch gelesen und will das Schmorritual auf jeden Fall durchziehen.
Dann können sie ihm nicht helfen. Setzen sie sich und machen Sie es sich bequem.
An dieser Stelle würde ich gern meine Absichten nochmals verdeutlichen: Weder versuche ich „Spielregeln“ zu ergründen und folgerichtige Abläufe zu konstruieren, noch gar Patentrezepte für „richtige“ Verhaltensweisen zu liefern. Vielmehr sind solche – äußerst groben – Simulationen wie die von eben nur dazu da, Ihnen die Simulation als Methode näherzubringen. Natürlich können Sie Situationen in Ihrer Phantasie simulieren, jeder Mensch tut das unablässig. Aber üblicherweise sind diese Vorwegnahmen von Wechselwirkungen besonders bei Erwachsenen an ausgeprägte Verhaltensstrategien gekoppelt: Die meisten „können nicht aus ihrer Haut“ − und meistens kann es auch ihre Phantasie kaum. Es fällt überaus schwer, Schonhaltungen aufzugeben, selbst gedanklich. In der Phantasie steckt aber ein viel größeres Strategiepotential, als vom Alltag abverlangt. Die „Formbarkeit“ von Kindern ist nichts anderes als eine größere Vielfalt möglicher Strategien. Nur deshalb können sie „ihre Eltern erziehen“, während sie selbst erzogen werden.
Es kann also nicht darum gehen, mittels Simulationen reale Situationen kontrollieren zu wollen, sondern nur darum, sich auf Interaktionen anders vorzubereiten – und die Kunst der Improvisation zu schulen.
Das Erkennen von Ritualen ist der erste Schritt, der zweite muss der Perspektivenwechsel sein, der in der Phantasie zu vollziehen ist. Die körperliche Handlung, die ein Ritual durchbricht und eine geänderte Situation schafft, ist der dritte.
Für alle drei gibt es weder Regeln, noch Rezepte, noch gar Erfolgsgarantien – nur einen immensen Erfahrungsschatz: Ihren eigenen und – darüber hinaus – zum Beispiel in der Literatur, in der Schauspielmethodik, in wenigen ausgezeichneten Filmen, die nicht in der Bestätigung von Verhaltensklischees schwelgen. Hier fließt zusammen, was glücklicherweise den meisten Menschen von der Natur vergönnt ist: sich in den anderen Menschen „hineinzuversetzen“ und weit mehr zu „erleben“ – also durch Simulation und Improvisation zu erfahren – als in seinem Alltag normalerweise Platz hat. Dazu gehört etwa paradoxes Verhalten; die Psychologie kennt es unter dem Begriff „paradoxe Intervention“.
Woran „Friedensengel“ scheitern
Gewalt – insbesondere körperliche – ist eine in unserer Kultur weithin unterbundene Erfahrung. Der gewalttätige Befreiungsschlag erscheint in einer seltsam zwiespältigen Rolle: Gewalt wird einerseits als Mittel bei der Lösung von Konflikten inzwischen abgelehnt, selbst wenn sie sich auf das „Gewaltmonopol des Staates“ beruft. Andererseits geht von ihr eine unwiderstehliche Faszination aus.
Die „Friedensengel“ jeglicher politischen Couleur gerieren sich als Beschützer vor Gewalt. Das nimmt man ihnen gern ab, denn kaum einer fürchtet sich nicht davor, Opfer von Gewalt zu werden – oder in irgendeiner anderen Form „verletzt“. Dahinter verbirgt sich in der Regel indessen eine – wenn auch subtilere – Form der Dominanz: Die „Engel“ beanspruchen nämlich letztlich die Deutungshoheit darüber, was eigentlich „Gewalt“ ist, des Weiteren darüber, ob „gerechte“ oder „ungerechte“ Gewalt geübt wird. Nicht nur Marxisten-Leninisten haben es darin zu einer Rabulistik gebracht, deren Scheinheiligkeit wahrhaft bewundernswert ist. Theoretische Schriften, journalistische und künstlerische Rechtfertigungsorgien für Massenmorde so gut wie die für alltägliche Schiebereien, Diebstähle, Lügen sind unerschöpfliche Lehrstücke der Kausalattribuierung. Es sind zu Texten, Plakaten, Filmen und Oratorien gewordene Sündenbockrituale. Erstaunlich ist die Vielfalt der Masken, mit denen gutgläubige „Friedensfreunde“ sich auf den Leim locken lassen.
Alle möglichen Parteiungen – vom Vatikan über die Mullahs bis zu den Zentralen der Liberalen, Demokraten, Republikaner, Grünen, Tories… überall auf der Welt – verstehen sich auf dieses Geschäft. Keiner aber ist je mit dem Versprechen auf Dummenfang gegangen, ohne Zuhilfenahme eines höheren Wesens gleich die ganze Menschheit zu erlösen. Nur die Erben von Marxengels, Lenin, Stalin, Mao,… – meist etikettieren sie sich selbst stolz als „Linke“, „Sozialisten“, gar „Humanisten“ – haben tatsächlich erreicht, dass man ihnen das Aushängeschild selbst dann als „gute Absicht“ anrechnet, wenn wieder ein paar Massengräber gefunden, Länder wirtschaftlich und ökologisch verwüstet oder auch nur gefälschte Wahlen aufgedeckt worden sind. Dass ihnen das gelang, liegt an einem ganz besonders raffinierten Ritual, das sie zwar nicht erfunden haben – so wenig wie das Gestell von jemandem „erfunden“ wurde – dessen sie sich aber mit besonderem Geschick bis heute bedienen, ich nenne es das „Distanzierungs-Ritual“.
Der Trick besteht einfach darin, die Lustempfindungen zu leugnen, die mit dem Ausüben von Gewalt einhergehen, und zwar sowohl mit dem brachialen Totschlag wie mit der subtilen Erpressung, sowohl mit der Vergewaltigung einer Minderjährigen wie mit der Demütigung eines Folteropfers oder dem Bloßstellen eines politischen Konkurrenten.
Gewalt ist entgrenztes Handeln, Befreiung von Gegenwehr und Gegendruck, und Gewalt ist eine in der Natur sinnvolle und überlebenswichtige Strategie, die mit endokrinologischen und neuronalen Glücksschüben einhergeht. Wer nach den Gründen von Gewalt sucht, findet alles und nichts, findet einen Kreisverkehr wechselseitiger Schuldzuweisungen bis zum Sündenfall und begreift niemals, dass Gewalt vor allem ein Ziel hat: Freiheit. Sie will fremde Dominanz brechen, sie durch eigene – womöglich absolute – Dominanz ablösen und den damit verbundenen Glücksrausch auskosten.
Es handelt sich um eine elementare Strategie, um eine Körpersensation von höchstem Rang. Daher die Faszination von Gewalt und Macht, die Faszination des Sieges und der Sieger, deshalb lösen selbst Fußballspiele oder Boxkämpfe noch Glücksgefühle aus, die sich in einem Schrei wie aus einer Kehle entladen und deren der Einzelne nicht Herr ist. Die Kohärenz der Gefühle, wenn im rauschhaften Handeln das Individuum ununterscheidbar wird in der handelnden Masse wie das Molekül im Wasser, schweißt Sturmkolonnen der Kriege und Demonstrationen zusammen.
Die meisten Menschen wünschen sich dieses Erlebnis – sie suchen es in den Stadien oder auf Schlachtfeldern, realen oder virtuellen.
Im Rausch der Gewalt – dank virtueller Drogen?
Sie können im weltweiten Cyberspace sadistische Triebe ausleben, ohne dass Blut, Schweiß und Tränen fließen: Dank KI sind Perversionen quer durch die Lustgärten sämtlicher selbst zugeschriebenen Geschlechter zur kollektiven und/oder Selbstbefriedigung abrufbar; Gewalt – Macht – Lust über alles hinaus, was sich der Marquis de Sade im 18. Jahrhundert ausdachte, um die realen Perversionen seines Zeitalters zu demaskieren. Man sperrte ihn ins Irrenhaus, seine Schriften waren auf dem Index und sind nicht totzukriegen – so wenig wie alle sadistischen, narzisstischen, aggressiven, evasiven, normopathischen Impulse und Strebungen.
Gewalt zielt auf Lust. Wer sagen kann: „Dieses Handeln bereitet mir keine Lust. Es geht im Gegenteil mit Qualen einher, denn ich handle unter Zwang, auf Befehl: Ich muss es tun, das Menschheitswohl gebeut’s!“ – also nicht das eigene sadistische Vergnügen –; wer sich zum Schein von seinem eigenen Handeln emotional distanziert, der hat schon fast gewonnen. Wenn er noch hinzufügt: „Das Opfer schließlich hat mein Handeln selbst heraufbeschworen, weil es gegen die X-Norm oder die Y-Regel verstieß“, dann ist die kausal-mechanische Volte perfekt. Wer die hohe Schule beherrscht, schließt das Mitleidsritual an, indem er etwa äußert: „Als Mensch bedaure ich das Leiden der Opfer, als Diener höherer Pflichten darf ich es nicht.“ Das Gewissen verstummt.
Vielleicht ist ihnen schon jemand begegnet, der dafür bemitleidet werden wollte, dass er „in seiner äußerst schwierigen Funktion“ als Vollstrecker mehr oder weniger nackter Grausamkeiten „gegen sein Gefühl“ handeln musste. Der Mitleid erheischende Apparatschik ordnet sich als Opfer seiner eigenen Rolle im Gestell ein: „Ich bin ja nur Rädchen im Getriebe, wenn ich’s nicht tue, ersetzt mich ein Anderer, der schlimmer ist!“ So übt er die unterdrückende Gewalt aus, die seinen Vorteil sichert.
Das ist der vollkommene Ersatz des Lebens – seiner emotionalen Repräsentanz in den Spiegelneuronen nämlich – durch ein mechanisches Ersatzteil: die Logik des Gestells. Statt des Gewissens – dieser zutiefst menschlichen Instanz – spricht die Phrasendreschmaschine. An diese Art „Funktionäre“ müssen Sie nicht allzu viel Mitleid verschwenden.
Oder haben Sie sich selbst schon einmal bemitleiden lassen, weil Sie „Ihr Gefühl unterdrückt“ und „weisungsgemäß“ oder „sachorientiert“ einen Menschen „zusammengestaucht“, „gemaßregelt“, „durch den Wolf gedreht“ oder „abgebaut“ hatten?
Hat Ihnen dann jemand auf die Schulter geklopft und gesagt „Da müssen wir durch“?
Wohlgemerkt: es geht nicht um spontane Wutanfälle, die einem leid tun, für die man sich schämt und um Entschuldigung bittet – da spricht ja das Gewissen mit –; Wutanfälle passieren nur Automaten niemals. Es geht um die korporativ bewehrte Demütigung. Kam sich Ihr Gegenüber minderwertig und ohnmächtig vor, hatte er oder sie keine Chance der Gegenwehr, weil das Recht auf Ihrer Seite war?
Sie haben vielleicht nichts falsch gemacht.
Nur: der Ihnen auf die Schulter klopft, ist Ihr gefährlichster Feind. Sie sollten ihm nicht trauen.
Die Schizophrenie aus „Mensch“ und „Funktion“ – also etwa „Fachmann“, „Experte“, „Aktivist“ oder „Profi“ einer- und der „Privatperson“ andererseits ist akzeptiert, ihr wird gar applaudiert, denn der perfekte Distanzierer beschert seinen Anhängern und Befehlsgebern nicht nur Lüste des Gaffens und der Häme, wenn er einen Menschen demütigt, sondern auch die Rechtfertigung, es ihm nachzutun. Unter der Maske der Selbstlosigkeit – denn er hat ja persönliches Mitgefühl und Empathie geopfert, weil er der „guten Sache“, der höheren Moral diente – darf er weiter in Dominanz schwelgen.
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