Künstler: Lou Reed
Album: Berlin (RCA Records, 1973)
Lewis Allan „Lou“ Reed (1942-2013) ist einer der zehn wichtigsten Namen der Rockmusik. Diesen Status hat er allein schon für sein Werk mit The Velvet Underground inne, heute ein Monolith in der Geschichte der Kunstform. Jedwede „alternative“, auch nur dunklere, radikalere Form des Rock ist ohne die quintessenzielle New York Band nicht denkbar.
Viel ist geschrieben worden über Lou Reed, John Cale, Sterling Morrison, Maureen Tucker, Nico und auch Doug Yule, viele haben sie als große Vorbilder und Inspiration besungen. Lou Reed war immer die Galionsfigur, er ebnete den Weg für Iggy Pop, David Bowie, Pattie Smith, John Lydon und so viele andere Ikonen. Reed verband den kaltschnäuzigen Rock’n’Roller mit dem Habitus des Beatnik, strahlte Coolness, Dekadenz und ein wenig Gefahr aus, spielte Soli, die er ganz nah am Free Jazz eines Ornette Coleman ansiedelte. Doch dies war nicht sein größter Verdienst.
Reed war nicht nur Rockstar, er war ein Rock-Songwriter, ein Rock-Autor. Ein Song wie „I’m Waiting For The Man“ ist eine 4:37-Komprimierung von William S. Burroughs’ „Junkie“. „White Light/ White Heat“ kann als Amphetamin-Hymne gelesen werden oder auch als Moment einer spirituellen Erweckung. Das sanfte, ursprünglich von Doug Yule gesungene „Candy Says“, eine Hommage an den transsexuellen Warhol-Star Candy Darling, ist die einfühlsame Studie eines Menschen, den man heute als „Transgender“ bezeichnen würde.
Lou Reed bewies, dass ein Rocksong über die typischen Themen hinausgehen, über die reale Welt erzählen kann, auf eine literarische Weise. Das ist kein Zufall: Lou Reed war ein mehr als nur belesener, kulturell vielseitig interessierter Mann, der an der Syracuse University sein Studium in Englischer Literatur absolvierte, wo er unter Delmore Schwartz studierte. Der junge Reed liebte den Doo Wop der 50er, verehrte den Rock’n’Roll und war live dabei, als in den Clubs von New York der Free Jazz entstand – doch las er auch Ginsberg, Burroughs, Hubert Selby Jr., James Joyce, Shakespeare, Brecht und Wedekind. Der Große Amerikanische Roman, er könnte auch ein Rockalbum sein. Und warum nicht eines aus New York?
1973, drei Jahre nachdem Reed die Velvets nach vier Alben ausgebrannt verließ, fand er sich in einer ungewohnten Situation: Der Junge aus Long Island war plötzlich internationaler Rockstar. With a little help from his friend, zu dem Zeitpunkt das Aufregendste, was Rock zu bieten hatte: David Bowie.
Dieser war Velvets-Fan der ersten Stunde und brannte darauf, mit seinem Helden zu arbeiten. Reeds erstes Solo-Album, schlicht „Lou Reed“ betitelt, ging ohne große Fanfare unter, sein Nachfolger, „Transformer“, hingegen war ein Hit. Das lag natürlich an der Produktion von Bowie und seinem musikalischen Partner Mick Ronson, vor allem aber an Reeds einzigem Welthit: „Walk On The Wild Side“, mit der orchestralen Ballade „Perfect Day“ als B-Seite. Natürlich eine der größten Singles der Popgeschichte,
Die ganze Welt liebte den sanft groovenden Song über Transsexuelle, Drag Queens, Speedfreaks und Stricher, eine bissige Hommage an die Gestalten um Reeds Mentor Andy Warhol. „Transformer“, mit seinem polierten Glam Rock, machte Reed zum weltweit tourenden Rockstar, dem „Phantom of Rock“ in schwarz-weißem Make-Up, der mal mehr, mal weniger nüchtern über die Bühne wütete. Eine erfolgreiche Rolle – die aber dem Darsteller schnell leidig geriet.
Lou Reed wollte wieder als Künstler respektiert werden, als Autor – und vor allem nicht als David Bowies Anhang. Das nächste Album sollte komplett anders werden. Die Inspiration dafür trug er seit den Tagen in Syracuse mit sich herum, die Kreation eines eigenes Musik-Theaterstücks, inspiriert von Brecht, Weill und Frank Wedekind. Tatsächlich gab es hier schon einen gewaltigen Vorstoß: „Walk On The Wild Side“ war ursprünglich gedacht für eine Broadway-Adaption des gleichnamigen Romans von Nelson Algren, bevor es dann seine ultimative Fassung fand. Doch diesmal sollte es eine eigene Geschichte sein. Der nötige „Keim“ für die Idee lag in der Vergangenheit, bei Velvet Underground und bei einem guten Ratschlag.
„Berlin“ war ein Lied, an welchem Reed schon seit den späten Tagen der Velvets arbeitete. Eine erste vollständige, etwas im Elton-John-Territorium wildernde Fassung erschien auf dem ersten Solo-Album. Zu Gehör kam es wenig später in einer reduzierten Fassung im Pariser Bataclan 1972, als Lou Reed zusammen mit John Cale und Nico ein Unplugged-Konzert gab. („Berlin“, mit Reed an der akustischen Gitarre und Cale am Piano, gehört zum schönsten, was beide Herren je aufnahmen).
Ein besonders hellsichtiger Zuhörer war der Produzent, der Reed bei der Erschaffung seines nächsten Albums helfen sollte: Bob Ezrin, verantwortlich für die aufregenden Hits von Alice Cooper. Er hörte die Skizze Reeds und fragte dann lapidar: „Wir geht es weiter? Was passiert mit den Figuren?“ Er solle die Geschichte ganz erzählen, meinte Ezrin, und Lou Reed fand seine Geschichte. Sogleich begab er sich ans Schreiben neuer Songs und ersann die Geschichte der Leute aus „Berlin / by the wall“.
„Berlin“ ist keine Geschichte über die deutsche Hauptstadt. Lou Reed hatte diese zu jener Zeit noch nie besucht. Vielmehr war die damalige Mauerstadt als Symbol gedacht, für eingesperrte Leben in Ruinen alter Zivilisationen. Reeds Faszination für das Berlin der Weimar-Zeit, damals auch kulturell ein Phänomen dank des Erfolgs von Bob Fosses „Cabaret“, schien deutlich durch. Erzählt wird in zehn Songs eine Dreiecksbeziehung zwischen Caroline, ihrem Liebhaber Jim und dem Erzähler, der sich als „Waterboy“, als schwächlichen Wasserträger für Jim und Caroline bezeichnet. Es ist eine grimmige Geschichte: Das Leben von Jim und Caroline wird bestimmt von Armut, Prostitution, Gewalt und Drogen. Als Caroline ihre Kinder an die staatlichen Behörden verliert, begeht sie Selbstmord. Mitleid empfindet der Erzähler nicht – „I’m not at all sad.“
Reed plante die ganz große Inszenierung. „Berlin“ sollte nicht nur ein elaboriertes Album sein, sondern ein Bühnenerlebnis, mehr als nur ein Konzert, ein Theaterstück, eine Verbindung aus Schauspiel und Musik. Im Studio hatte er dafür die besten Voraussetzungen: Ezrin gab Reed einige der besten Musiker ihres Fachs an die Hand. So etwa spielte Steve Winwood die Orgel, Aynsley Dunbar saß u.a. für Frank Zappa und Jeff Beck am Schlagzeug, Cream’s Jack Bruce bediente den Bass und das Duo Steve Hunter und Dick Wagner steuerten funkelnde Hardrock-Soli bei. Sie sollten auf der anschließenden Tour und dem dazugehörigen Live-Album „Rock’n’Roll Animal“ den Sound massiv prägen. Produzent Bob Ezrin ließ seinen kreativen Impulsen freien Lauf und schuf große, extravagante Arrangements.
Lou Reed ist normalerweise für seine puristische Klang-Auffassung bekannt – „Two guitars, bass, drums“ – „Berlin“ klingt deutlich anders. Die rauen Songs sind gebettet auf orchestrale Klänge, Blech- und Holzbläser, Streicher und Chöre. Ein „Rockalbum“ ist „Berlin“ eigentlich nicht. Die damalige PR-Kampagne der Plattenfirma RCA sagte die Wahrheit: „Berlin is a film for the ears“. Doch, trotz allem: Die Dunkelheit der Songs ließ sich nicht überdecken, auch nicht bei ungewöhnlich schönen Melodien.
Nicht alle der Songs waren komplett neu, wie schon der Titelsong basieren „Men Of Good Fortune“, „Caroline Says II“, „Oh Jim“ und „Sad Song“ auf erst 1985 offiziell veröffentlichten Velvets-Songs. Reed hatte sie jedoch für die Erzählung passend umgearbeitet.
Verstörend sind sie in diesem Kontext – aber auch aus dem „Konzept“ herausgelöst, blickt man auf den Autor selbst. Als Reed den Liederzyklus komponierte, spielte er diesen auch seiner damaligen ersten Ehefrau Bettye Kronstadt vor. Diese war danach so getroffen, dass sie einen Heulkrampf bekam. Leider aus nachvollziehbaren Gründen, denn es war keine glückliche Ehe. „Caroline Says II“, trotz seiner wunderbaren Melodie und Arrangements, ist ein erschütternder Monolog über Beziehungsgewalt. Caroline empfindet schon nicht mal mehr Schmerz, nur noch Kälte – „It’s so cold in Alaska“. Man muss, so berichten es diverse Biographen, davon ausgehen, dass Lou Reed selbst einige Male Täter wurde.
Der Schlüssel liegt im bombastischen „How Do You Think It Feels?“ und „Oh Jim“ – „How do you think it feels / When you’re speeding and lonely?“, oder „When you’re looking through the eyes of hate“. Hier hält sich Reed selbst den Spiegel vor: Ein ruheloser, rücksichtsloser Freak, permanent auf Amphetaminen und hartem Alkohol, paranoid in einem goldenen Käfig. Auch das gehört dazu, wenn man sich mit Lou Reed beschäftigt: Die vielen Schattenseiten.
Reed galt als legendär „schwierige“ Person, war durchaus zu Recht als (über)fordernder, neidischer Egomane bekannt, der Partner und Weggefährten verprellte. Wie viel davon seinem Drogenkonsum und seiner psychischen Vorgeschichte (seine Elektroschockbehandlung im Teenager-Alter ist geradezu mythisch) geschuldet war, sei dahingestellt. Seine inneren Dämonen fanden immer wieder ihren Weg in seine Songs.
Dass seine eigene Kaltschnäuzigkeit in die Figuren blutete, ist hörbar an der berühmtesten Sequenz des Albums: „The Kids“, „The Bed“ und „Sad Song“. Der Erzähler schildert hier, irritierend sanft, aber ohne Mitgefühl zu vorwiegend akustischen Arrangements, Carolines Niedergang. Er bedenkt sie mit harten Worten wie „That miserable rotten slut couldn’t turn anyone away“ und „Somebody else must’ve broken both of her arms“.
Verstörend ist das eingeblendete Kindergeschrei in „The Kids“ („They’ve taken her children away / Because they said, she was not a good mother“) – tatsächlich die Kinder Bob Ezrins, die im Tausch für ein paar Süßigkeiten etwas Krach machen sollten.
„The Bed“ beschreibt detailliert Carolines Selbstmord („And this is the place / Where she took the razor“). „Sad Song“, mit seinem wirbelnden Orchester und der langen Coda, mag zwar wie Lou Reeds Antwort auf „Hey Jude“ klingen, ist aber der zynische Endpunkt: Letztlich war alles nur Zeitverschwendung, sagt der Erzähler und beerdigt die Tragödie um Caroline als weiteren „sad song“. Dieser „walk on the wild side“ ging an die Nieren.
Nach Ende der Aufnahmen fiel Reeds große Vision Stück für Stück in sich zusammen. Als Doppelalbum angelegt, kürzte RCA Interlude-Stücke heraus, um ein weniger teures Einzel-Album auf den Markt zu bringen. Reeds und Ezrins Pläne für eine Bühnenshow zerschlugen sich mit der Veröffentlichung: Kritiker waren entsetzt, die Verkaufszahlen waren gering. Vor allem die teils heftigen Attacken der Kritiker zerrütteten Reeds ohnehin gespanntes Verhältnis zu Journalisten. Dass am Ende die guten Kritiken überwogen, registrierte er schon nicht mehr. Der Flop beendete Lou Reeds Karriere nicht, sowohl „Rock’n’Roll Animal“ als auch „Sally Can’t Dance“ wurden kommerzielle Erfolge, doch verwandt Reed diesen Tiefschlag nie ganz. Seine konfrontative Einstellung trieb er mit „Metal Machine Music“ auf die Spitze.
Die Geschichte endet hier aber nicht. Der Lou Reed des Jahres 2007 war ein anderer als 1973. Nach weiteren wilden Jahren war dieser Reed ein gesetzterer, vielleicht nicht unbedingt höflicherer, aber milderer Mann. Das war vor allem seiner dritten Frau und Liebe seines Lebens geschuldet, der Multimedia-Künstlerin Laurie Anderson, aber auch seiner Leidenschaft für Tai Chi.
„Berlin“ war nicht mehr der katastrophale Flop, junge Ohren hörten ein missverstandenes Meisterwerk. Der Rolling Stone, 1973 Wortführer der Kritiker, benannte das Album 2003 und 2012 gar als eines der 500 besten aller Zeiten. Bei diesem neuen Interesse nahm Reed seinen alten Plan von „Berlin“ als Musik-Theater wieder auf – und diesmal mit Erfolg. 2007 brachte er sein Werk auf Tour, unterstützt von einer 30-köpfigen Band, einem zwölfköpfigen Chor und Video-Installationen des Künstlers Julian Schnabel (ein Mitschnitt ist als „Berlin: Live At St. Ann’s Warehouse“ erhältlich).
Und plötzlich verstanden es auch die Kritiker: Die Reviews lobten das Werk, das einst so verrissen wurde. An Lou Reed hatte ohnehin niemand mehr Zweifel.
Hier können Sie auf Youtube reinhören in „Berlin” von Lou Reed.