Protokolle der Aufklärung #34
Der politische Begriff „Subsidiarität“ entzieht sich einer klaren Definition. Er wird zur Kennzeichnung unterschiedlichster Sachverhalte verwendet. Gern assoziiert man mit ihm den föderativen Aufbau einer Gesellschaft. Staaten mit föderalen Verfassungen brüsten bzw. schmücken sich damit, subsidiär organisiert zu sein.
Die staatlich in Anspruch genommene Subsidiarität wird ihrer Vielgestaltigkeit wegen verschieden bewertet. Der SPIEGEL beispielsweise nennt den deutschen Föderalismus mit „seiner ewigen Folklore“ einen „föderalen Sumpf“ (50/2020, 12/2021) Anlässlich der politischen Chaosaktivitäten während der Coronapandemie sah sich der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble genötigt, den Föderalismus mit den Worten zu verteidigen: „Der Föderalismus ist im Prinzip richtig“ (FOCUS 23/2021) – ein Statement pro, das im Grunde nichts besagt.
Der Föderalismus hat hauptsächlich zwei Entstehungsgründe. Einerseits ist er aus einem natürlichen Bündnisbedürfnis heraus erwachsen, z.B. bei der Gründung der Schweiz aus einer ursprünglich locker verbundenen Eidgenossenschaft. Zum anderen hat er sich – ebenso natürlich – aus Feudalstrukturen heraus entwickelt, aus Sozialgebilden also, die aufgrund von Lehensbeziehungen hierarchisch gegliedert waren. Im ersten Fall war die Entstehung geprägt vom sogenannten Bottom-up-, im zweiten vom sogenannten Top-down-Prinzip.
Die Idee der Subsidiarität
Die Subsidiarität wurde ursprünglich aus der Kirchentradition heraus (Calvinismus und später Katholizismus) im Sinne einer nachrangig unterstützenden Hilfsfunktion oberer Instanzen den unteren gegenüber verstanden. So sagt es jedenfalls das Wort subsidiär (unterstützend). Subsidiarität erklärt die Selbstbestimmung des Individuums und seine Eigenverantwortung zum Ausgangspunkt und Fundament gesellschaftlichen Aufbaus.
Auf der untersten sozialen Ebene schließen sich einzelne Individuen oder Familien zu Gemeinden zusammen. Sie schaffen sich damit bessere Möglichkeiten des Überlebens, Möglichkeiten, die sie sonst nicht hätten. Der Zusammenschluss von Gemeinden einer Region mit dem Ziel, eine Leistungsinstanz auf einer weiteren, höheren sozialen Ebene zu nutzen, wird erst gesucht, wenn die eigene Leistungskraft nicht ausreicht, das Überleben ihrer Mitglieder zu sichern. Der Zusammenschluss erfolgt, wenn alle Möglichkeiten sowohl des Einzelnen als auch der Gemeindebetriebe ausgeschöpft sind. Die ansonsten autonomen Gemeinden tun dies aus eigenem Antrieb. Auch Zusammenschlüsse auf noch höheren Ebenen erfolgen nur dann, wenn dies für die Mitglieder der unteren von existentiellem Interesse ist.
Subsidiarität bedeutet im ökonomischen Bereich: Güterangebot je nach regionalem Bedarf. Hier geht es vor allem um die kollektiven Güter, die heute zu Unrecht „öffentliche“ Güter“ heißen. Sie sollen zuerst unten, an der sozialen Basis, erzeugt und angeboten werden. Nur wenn sie dort nicht beizubringen sind, oder vielleicht nicht in ausreichender Menge, ist auf eine höhere Leistungsebene auszuweichen.
Kann ein Gemeindebetrieb ein bestimmtes Wirtschaftsgut, z.B. Wasser, nicht vollständig aus eigenen Reserven bereitstellen, wendet er sich an einen überregionalen Wasseranbieter. Das ist eine Firma, die eventuell andere Kommunalbetriebe ebenfalls mit Wasser versorgt.
Was für die Wasserlieferung gilt, gilt auch für alle anderen kollektiven Güter (Verkehrs- und Kommunikationsnetze, Bewachung, Gerichte, Exekutiven usw.). Ihre Anbieter müssen gemäß Subsidiarität stufenweise gegliedert und angeordnet sein – von der Individual- und Gemeindeebene aufwärts bis zu überregionalen Instanzen. Kollektive Güter sollten von Betrieben erbracht werden, die idealerweise wirtschaftlich und rechtlich völlig voneinander getrennt(!) agieren, jeweils in jener Region und auf jener Ebene, wo sie benötigt werden. Dadurch wird nebenher auch eine optimale Ressourcenverteilung (Allokation) erzielt. Je nach Situation kommen entweder die regionalen oder die überregionalen Leistungsträger zum Zuge. Auf höherer Hierarchieebene wird man nur tätig, wenn man eine tiefere Hilfe braucht und diese abruft.
Aus der Forderung, dass höhere Leistungsinstanzen nachrangig sein sollen und niedere vorrangig, lässt sich ein sozialphilosophischer Grundsatz für schlüssig-human organisierte Gesellschaften ableiten: Höhere gesellschaftliche Leistungsinstanzen sind geboten und allein zu rechtfertigen aufgrund der Bedürfnisse der niederen.
Subsidiarität im Parteienstaat
Alle heutigen Staaten sind von ihrer Grundgestalt her sogenannte „Parteienstaaten“ (Begriffsbildung von Gerhard Leibholz). Auch der deutsche Staat ist Parteienstaat. Seine föderale Struktur wird zusammengehalten durch ein Parteiensyndikat, das durchgängig alle Regionen des gesellschaftlichen Körpers durchherrscht (siehe mein Sandwirt-Beitrag „Das System“).
Gegen die Kritiker, welche die fehlende Gewaltenteilung im deutschen Parteienstaat anprangern, wird oft argumentiert, dass dieser ein Bund kleinerer Staaten sei und dass deshalb eine zentrale Fehlentscheidung jederzeit durch den Einspruch von Teilgewalten neutralisiert werden könne. Diese Argumentation unterschlägt, dass die politischen Parteien überregional nach dem Führerprinzip aufgebaut sind, und dass es immer eine bestimmte ideologisch verschworene Clique ist, die in der Gesellschaft zentral von oben her die Macht ausübt.
Im Parteienstaat wirkt sich Föderation so aus: Dem Großkönig sind die Kleinkönige und diesen die Kleinstkönige unterstellt, die ab und zu aufmucken dürfen. Die den Kleinstkönigen Unterstellten dürfen nicht einmal das.
Wer den Föderalismus in Parteienstaaten für eine zeitgemäße Form der Machtaufteilung hält, votiert für ein völlig überholtes Gesellschaftsmodell. Wie wenig diese Form in die heutige Zeit passt, konnte man während der Corona-Pandemie beobachten. Jeder der kleinen „Zaunkönige“ (Spottname Konrad Adenauers für die Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer) tanzte aus der Reihe und versuchte, sich durch Sonderaktionen zu profilieren. Dadurch entstand in der Bevölkerung ein heilloses Durcheinander. Eine Reise durch mehrere deutsche Bundesländer geriet zum Abenteuer. Keiner wusste mehr, wo er sich wie richtig verhalten sollte. Am Ende sah sich die „Großkönigin“ veranlasst, ein Machtwort zu sprechen. Die „Zaunkönige“ duckten sich verschämt.
Subsidiarität und Föderalismus
Der staatliche Föderalismus segelt nach wie vor unter der Flagge „Subsidiarität“. In Staatsgesellschaften wird davon auch dann gesprochen, wenn man ein abgestuftes System der Konfliktbereinigung meint, oder eine Kompetenzverteilung zwischen verschiedenen Entscheidungsbereichen. Man will damit das Spannungsfeld der Zuständigkeiten von Gesamtstaat und Gliedstaaten beschreiben.
Der Unbegriff „Steuerung der Selbststeuerung“, den man dafür erfunden hat, ist geradezu verräterisch. Denn so etwas wie „Steuerung der Selbststeuerung“ kann es nur geben, wenn „Selbststeuerung“ gar nicht existiert. Das Subsidiaritätsprinzip, das man dafür in Anspruch nimmt, ist sichtlich ausgehebelt. Hier versucht man, durch Vortäuschung eines Von-unten-nach-oben einen obrigkeitlichen Zentralismus zu verschleiern.
Es gibt föderative und subsidiäre Gesellschaftssysteme. Das föderalistische Prinzip, nach dem heute viele Staaten aufgebaut sind, hat so gut wie nichts mit dem zu tun, was Subsidiarität im Kern bedeutet. Es gibt zwar noch eine Reihe von kollektiven Gütern in heutigen Gesellschaften, die subsidiär geliefert werden. Aber selbst in der Schweiz und in den USA hat das Wort „subsidiär“ in den meisten Funktionsbereichen nur noch Alibifunktion.
Eine staatliche Föderation ist oft nichts anderes als das bis in unterste Regionen aufgesplittete Funktionsgebilde einer Zentrale. Ein solcher Aufbau müsste eigentlich „Subordination“ und nicht „Subsidiarität“ heißen
Subsidiarität speziell in Deutschland
Im Artikel 23 GG ist unter Bezugnahme auf den Gründungsvertrag der EU und auf noch weiterer EU-Verträge zwar von Subsidiarität die Rede. Aber schon im darauffolgenden Artikel 31 GG heißt es: Bundesrecht bricht Landesrecht. In der europäischen Gemeinschaft gilt inzwischen in vielen Lebensbereichen: Europarecht bricht Nationalrecht. Konsequent wäre gewesen, man hätte im GG von vorne herein und unverblümt gesagt: Gemeinderecht bricht Individualrecht, Landesrecht bricht Gemeinderecht, Bundesrecht bricht Landesrecht. An keiner Stelle kommt die Pseudosubsidiarität einer Staatsgesellschaft klarer zum Ausdruck als im Artikel 31 GG. – Dem Subsidiaritäts-Prinzip gemäß sollte das Recht „unten“, d. h. das positive Recht jedes Individuums, an erster Stelle stehen. Alle anderen Rechte wären nachrangig.
(Übrigens: Für das Verbotsrecht, also für negative Handlungsregeln Subsidiarität einzufordern, wäre nicht sehr intelligent. Denn das Verbotsrecht gilt für die Mitglieder und Institutionen auf allen sozialen Ebenen, ob diese nun oben angesiedelt sind oder unten.)
Subsidiarität und Gewaltenteilung
Der französische Philosoph Charles-Louis de Montesquieu sah im Föderalismus eine Möglichkeit der Gewaltenteilung. Die Schöpfer des sogenannten „Grundgesetzes“ hatten zweifellos eine politische Machtaufteilung solcher Art im Sinn, als sie das alte und inzwischen einigermaßen verwässerte feudaloide Obrigkeitssystem als „Macht der Regionen“ bestehen ließen. Ihnen fiel dazu nichts Besseres ein als den Großkonzern Staat (siehe mein Sandwirt-Beitrag „Der Staat als Monopolkonzern mit Einheitskasse“) in Kleinkonzerne zu splitten. Man verwechselte die Idee einer wahrhaft subsidiären Aufteilung von Macht mit dem Zerhacken eines zentralen Konzernmonopolismus in ebenfalls konzernmäßig strukturierte Babymachtzentren.
Den Föderalismus sehen viele Polittheoretiker und Verfassungsrechtler immer noch positiv. Sie bemerken nicht, dass der neuzeitliche Föderalismus die Wiedergeburt der archaischen Form der Kleinstaaterei ist. Der für fortschrittlich gehaltene föderale Staat ist nichts anderes als der Weiterbestand von Machtstrukturen aus Jahrhunderte alter Tradition.
Infolge der verfassungsmäßig festgeschriebenen Kleinstaaterei sahen sich die Deutschen bald nach Fertigstellung ihres „Grundgesetzes“ (1948) genötigt – veranlasst 1949 durch den Parlamentarischen Rat und angeregt aus ähnlichen früheren Einrichtungen – einen Parlamentarischen Vermittlungsausschuss zu installieren. Dass man ihn für notwendig hielt, war der Beweis dafür, dass man im Grunde von vorne herein keine Subsidiarität wollte. Man wollte das Top-down-Prinzip retten, das durch eine Länderautonomie verloren zu gehen drohte. Ein unerwünschtes „Machtverteilungschaos“ sollte vermieden werden. Nach Errichtung des Ausschusses wurde Vieles in mancherlei Hinsicht noch schlimmer: Oft kommen jetzt in mühevoll erschacherten Kompromissen Gesetze zustande, deren ursprüngliche und eigentliche Intention nicht einmal mehr mit der Lupe zu erkennen ist.
Das Dilemma des föderativen Kleinklein wird seit Jahren beklagt. Dennoch meinen die Leute, hier sei das Prinzip „Subsidiarität“ realisiert. Der heute existente Föderalismus ist aber gerade nicht das, was unter Subsidiarität verstanden werden muss. Er zerspaltet die Gesellschaft in Gebilde, die durch Unterordnung miteinander verbunden sind: Bundes-, Länder-, Bezirks- und Gemeindeverwaltungen. Unterordnung ist nicht Subsidiarität. Sie ist das Gegenteil davon.
Vor allem in gesellschaftlichen Stresssituationen wird sichtbar: Der angeblich machtstreuende Föderalismus wirkt sich auf allen regionalen Ebenen als wüstes Kompetenzgewirr aus. Hier offenbart sich die Kalamität und das ganze Ausmaß des Versagens dieser Gesellschaftsstruktur. Vor allem in Grenz- und Notsituationen erweist sich eine auf diese Weise verteilte soziale Macht als untauglich. Zu oft führt sie zu destruktiver Verantwortungsdiffusion (SPIEGEL 30/2021).
Dass es Subsidiarität innerhalb der Gesellschaft geben solle, ist durchaus sinnvoll, vom ökonomischen und rechtlichen Standpunkt aus sogar unerlässlich. Eine vernünftig eingerichtete Gesellschaft realisiert Subsidiarität jedoch nicht in Form des derzeitigen Föderalismus, den man gern dafür in Anspruch nimmt. – Eine sachgerechte Subsidiarität stelle ich mir anders vor.
Im Zuge der Corona-Aufarbeitung, die momentan in wildes Schuldzuweisungs-Gefuchtel ausartet, wäre es besser gewesen, man hätte gewagt, Grundsätzliches zu bedenken. Eine schonungslose Analyse der These, die in der üblichen Manier aufgebauten Staaten seien Paradiesinseln der Subsidiarität, hätte uns in puncto schlüssig-humaner Gesellschaftlichkeit weitergebracht.
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1 Kommentar. Leave new
Die Bedeutung der Verantwortung für die Subsidiarität ist in diesem Artikel „unterbelichtet“:
Freiheit und Verantwortung sind Antagonisten. Für die Verantwortung gilt das Prinzip der Subsidiarität. Subsidiarität bedeutet eine strukturierte Verantwortung, bei der Aufgabe und Erfüllung der Aufgabe so weit wie möglich selbstbestimmt und eigenverantwortlich durchgeführt werden sollen, und in einer hierarchischen Organisation soweit „unten“ wie möglich. Dafür müssen von den höheren Ebenen die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Da Subsidiarität nicht nur die Verantwortung selbst kennzeichnet, sondern auch die angemessene Übertragung einer Aufgabe, ist sie auch die Voraussetzung für einen wirksamen Pluralismus. Ein wichtiger Verantwortungsbereich jedes Individuums ist die Verantwortung für sich selbst, denn jeder Bürger ist auch ein Unternehmer – nämlich der seines eigenen Lebens.