Meister Eckhart ist einer der wohl wichtigsten Denker nicht nur des Mittelalters, sondern der gesamten abendländischen Philosophie; und wenn er heute allgemein meist nur vage mit dem Begriff der „Mystik“ oder gar der „Esoterik“ in Verbindung gebracht wird, so ist dies zwar nicht ganz falsch, erweckt aber meist eine gewisse Geringschätzung, die der Sache alles andere als angemessen ist. Denn im Gegensatz zu dem, was in den Wohlfühl-Abteilungen moderner Büchereien von Klangschalen über Tantrasex bis hin zu Schutzgeisterkatalogen unter dem Stichwort „Mystik“ angeboten wird, handelt es sich bei der echten Mystik um eine in jeder Hinsicht ernstzunehmende philosophische Schule, deren Tradition bis weit in die klassische Antike zurückreicht und ultimativ von Denkern wie Pythagoras, Platon, den Neuplatonikern, Augustinus, Pseudo-Dionysios, Ruysbroeck, Cusanus, Marsilio Ficino, der hl. Theresa von Avila, dem hl. Johannes vom Kreuz, Angelus Silesius, Jakob Boehme, William Law und vielen anderen vertreten wurde, um von Denkströmungen des Buddhismus, des Daoismus, der antiken Mysterienkulte oder des islamischen Sufismus ganz zu schweigen.
Eins mit Gott
Eckhart wurde um 1260 in Thüringen geboren, wahrscheinlich als Sohn des Ritters Eckhart von Hochheim, und trat um 1275 in den Dominikanerorden ein. Er studierte wahrscheinlich in Köln, wo er vielleicht noch Albertus Magnus kennenlernte, lehrte von 1293-1294 als Lektor an der Sorbonne und wurde dort (nach einem langen Zwischenaufenthalt als Prior des Erfurter Dominikanerklosters) 1302 zum Magister der Theologie promoviert (worauf sich dann auch der Titel „Meister“ Eckhart bezieht).
Nach kurzer Lehrtätigkeit in Paris wurde Eckhart Provinzial der dominikanischen Ordensprovinz Saxonia, 1307 dann Generalvikar der Provinz Böhmen, 1311 erneut Lehrstuhlinhaber in Paris und hielt sich von 1313-1323 größtenteils in Straßburg auf, wo seine genaue berufliche Tätigkeit bis auf eine rege Predigeraktivität allerdings nicht genau bekannt ist. Ab 1324 befand sich Eckhart meist in Köln, wo er wohl als Lektor an der Universität arbeitete und zudem vor allem mit dem Abhalten von Predigten beschäftigt war, die er nicht nur in lateinischer, sondern auch in deutscher Sprache vortrug und auch veröffentlichte. Dort wurde er dann 1325 im Alter von bereits 65 Jahren von einigen Ordensbrüdern der Häresie bezichtigt, und wenn es sich hierbei wohl v.a. um das Austragen interner Rivalitäten handelte, wurde doch eine folgenreiche Untersuchung bei der Inquisition eingeleitet.
Was stand zur Debatte? Eckhart hat in seinen Schriften und Predigten immer wieder versucht, die christliche Grundlehre ontologisch neu zu begründen und sie in einem neuplatonisch-mystischen Sinne zu verstehen. Im Zentrum steht der Gedanke der negativen Theologie: Die Gottheit ist die absolute Transzendenz, die in solchem Maße immer wieder alle Kategorien der Benennung übersteigt, daß in ihr das Kleinste und das Größte, das Sein und das Nichts, der Punkt und die Unendlichkeit, das Jetzt und die Ewigkeit, zusammenfallen. Aus dieser Eigenschaft folgt aber auch die ontologische Notwendigkeit der Existenz der endlichen Welt in ihrer entsprechenden Beschränktheit, da alles für Gott Denkbare durch diese simple Tatsache bereits seine zumindest provisorische Existenz in Zeit und Raum gewinnt; gewissermaßen an der ausfasernden Peripherie zwischen der Absolutheit göttlichen Seins und der Nichtexistenz des Nichts.
Erst aus der Perspektive der Endlichkeit wird aus der absoluten transzendenten Gottheit der gewissermaßen „persönliche“ und dreifaltige Gott des Glaubens, der aber konzeptuell insoweit cum grano salis zu betrachten ist, als er ja aus dem Versuch des Menschen entsteht, Gott als etwas „anderes“ zu fassen, wo doch bereits der Versuch einer solchen gedanklichen Abgrenzung letztlich scheitern oder zumindest sehr unvollständig sein muß, da sie auf das „Ich“ eines Betrachters gegründet ist, der außerhalb der Gottheit keinerlei Bestand hat, denn Sein oder Denken existieren nicht jenseits der Gottheit, sondern sind Gott (wenn hier auch zu betonen ist, daß der Eckhart’sche Gott eben alles andere als pantheistisch ist, sondern in seiner Absolutheit und Transzendenz alles Geschaffene übersteigt, ja übersteigen muß).
Allen Denkprozessen kommt daher auch nur eine relative Wahrheit zu; einzig sinnvoll ist daher für den Menschen, der nach Gott strebt, vielmehr der Weg nach innen, um in seiner Seele jenes „Fünklein“ zu finden, das uns überhaupt unser Denken und Sein vermittelt und das nicht etwa ein „Teil“ Gottes, sondern in sich notwendigerweise auch schon die ganze Gottheit ist, kann Gott doch immer nur ganz oder eben gar nicht existieren, nicht aber in Teilen.
Unser Ziel muß daher die Einswerdung mit der Gottheit sein, die nur durch das vollständige Abwerfen jeglicher persönlicher Bestrebungen gelingen kann, da diese immer von einer illusionären Subjekt-Objekt-Beziehung geprägt sind, die angesichts des absoluten Einen keinen Bestand hat. Das vollkommene Beispiel einer solchen Gottwerdung ist Eckhart zufolge Jesus Christus, der aber ontologisch gesprochen zu diesem Akt dieselben Grundvoraussetzungen wie jeder andere Mensch in sich trug, ja tragen mußte.
Erst in völliger „Gelassenheit“ im Sinne des Loslassens aller äußeren Bestrebungen und am Ende sogar des Strebens nach Gott selbst kann der Einzelne ganz zum Gefäß des göttlichen Willens werden und in vollkommener Spontaneität und innerer Ruhe so handeln, wie es ihm die Gottheit eingibt. Dies bedeutet durchaus auch eine erneute Hinwendung zur „Vita Activa“ mitsamt tätiger Nächstenliebe, die hier aber nicht aus einer rationellen und bemühten Barmherzigkeit geübt wird, die ontologisch ohne größeren Wert ist, sondern aus der inneren Einswerdung mit jener sich auch im Anderen manifestierenden Gottheit.
Der Prozeß
Freilich bemüht sich Eckhart in seinen Schriften, die hier nur kurz umrissenen Eckpunkte seines Denkens immer wieder mit der Heiligen Schrift in Verbindung zu bringen und als den eigentlichen esoterischen Kern der katholischen Exoterik deutlich werden zu lassen; man versteht aber bereits so, wieso viele der hier geäußerten Grundüberzeugungen ohne entsprechende Vorbereitung und Verständnis des Gesamtsystems häretisch, ja geradezu monströs erscheinen mußten, und es sagt viel aus über die heutzutage völlig unterschätzte geistige Größe und Fruchtbarkeit des Mittelalters, daß Eckhart sein Denken bis ins 65. Lebensjahr in unzähligen deutschen wie lateinischen Predigten unter der Protektion des Dominikanerorden und der Universitäten Paris und Köln vortragen konnte, ohne ernsthaft behelligt zu werden.
Die beiden mit der Sache beauftragten Kommissare legten Eckhart zwei Listen mit einer langen Reihe problematischer Aussagen vor, die aus verschiedensten Schriften und Predigten zusammengestellt worden waren und in der Tat, aus dem Kontext gerissen, überaus erstaunlich anmuteten.
Eckhart überreichte der Inquisition seine „Responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis“, in der er sowohl seine Schuld als auch die Zuständigkeit des erzbischöflichen Gerichts bestritt; das Verfahren zog sich aber in die Länge, und Eckhart appellierte 1327 an die Kurie, wobei er gleichzeitig eine schriftlichen „protestatio“ veröffentlichte, in der er versicherte, im Voraus jeden Irrtum zu widerrufen, den man ihm nachweisen könne.
Das Kölner Verfahren wurde daraufhin an den damals in Avignon residierenden Papst überwiesen, zu dem sich Eckhart dann in Begleitung vieler hochrangiger Ordensbrüder begab, die offensichtlich trotz aller Vorwürfe zu ihm hielten. Die päpstliche Untersuchungskommission behielt von den rund 150 inkriminierten Aussagen nur 28 als verwerflich übrig, und Eckhart erklärte erneut seine vollständige Unterwerfung unter das päpstliche Lehramt, um einen Prozeß gegen seine Person zu vermeiden und vielmehr ein bloßes Lehrbeanstandungsverfahren zu erzielen. Während des laufenden Verfahrens verstarb der ca. 68jährige aber am 28. Januar 1328 in Avignon, doch der Prozeß wurde auch nach seinem Tod fortgeführt und führte dazu, daß 17 der 28 inkriminierten Aussagen in der Tat als „häretisch“ oder doch zumindest „irrtümlich“ verurteilt wurden, während die übrigen 11 als zwar übelklingend, aber mit entsprechender Erklärung möglicherweise rechtgläubig eingestuft wurden.
1329 bestätigte Papst Johannes XXII. zwar diese Einschätzung in seiner Bulle „In agro dominico“ und befahl, daß alle Schriften, die besagte Sätze enthielten, zu verbannen seien, um die „einfachen Menschen“ nicht zu verwirren, betonte aber, daß Eckhart vor seinem Tode immerhin alle seine Irrtümer vollständig widerrufen habe und somit als guter Katholik und nicht etwa als Häretiker verstorben sei, wenn der Text auch nahelegt, daß der Dominikaner sich damals eben nicht von seinen Überzeugungen, sondern nur von deren möglichen häretischen Fehldeutungen distanziert hatte.
Im Ende ist die Stille
Inwieweit können wir Eckhart unter diesen Perspektiven als „Widerständler“ betrachten, und was hat er uns heute noch zu lehren? Das überaus umstrittene Urteil der Nachwelt ist bezeichnend für die Gefahren, die einem jeden echten Mystiker drohen: Nimmt man solche Geistesgrößen wie Cusanus oder Hegel aus, deren Philosophie ebenso wie diejenige Eckharts letztlich an den esoterischen Platonismus anknüpfte und Eckhart von innen heraus zu verstehen vermochte, wurde der Dominikanerprediger weitgehend falsch gedeutet: Ein „Pantheist“, ja gar ein „Atheist“ war er den einen, ein „schlechter Scholastiker“, „antiklerikaler Vorkämpfer“ oder gar Begründer einer „echt deutschen“ Religion den anderen, noch weitere sahen in ihm einen unbewußten Vertreter des modernen Psychologismus oder schlichtweg einen Spinner – doch alle irrten sich, weil sie Eckhart gewissermaßen nur rationell und von außen wahrnahmen und die von ihm wie allen Mystikern geforderte Öffnung nach innen hin nicht vollzogen oder vollziehen konnten bzw. wollten.
Schon Cusanus hatte daher begriffen, daß Eckharts Erkenntnisse letztlich nur den „klugen“ Leuten zugänglich seien, nicht aber dem „vulgus“, vor dem sie in der Tat besser verborgen blieben, worauf ja auch die Kritik des Papstes hinauslief – und nichts anderes forderte ja auch der englische Autor der in der 2. Hälfte des 14. Jh.s entstandenen mystischen Schrift „The Cloud of Unknowing“, der den Leser inständig um Diskretion bat und forderte, sich erst nach dem Nachvollziehen der entsprechenden inneren Prozesse überhaupt ein Urteil zu bilden.
Aus dieser Perspektive verstehen wir wohl auch erst Eckharts Haltung als „Widerständler“; ein Widerstand, der nicht symmetrisch darauf ausgerichtet war, eine falsche Meinung mit einer richtigen zu bekämpfen oder gar gegen irgendwelche Ungerechtigkeiten zu agitieren, sondern vielmehr auf die immer weitere innere Vertiefung und Gottwerdung ausgerichtet war, deren verschiedenen Etappen nur aus einer oberflächlichen Perspektive zur „Entfernung“ vom ursprünglichen christlichen Glaubensinhalt führen, ihn aber in Wirklichkeit immer breiter von innen eröffnen: Es ist der Widerstand der Esoterik, also des inneren, eigentlichen Sinnes des Glaubens, gegen die Exoterik, also seine äußere Form, die zwar in einem absoluten Sinne die ganze Glaubenswahrheit beinhaltet, aber erst erschlossen werden muß, um auch nach innen wirken zu können; und aus dieser Perspektive ist „Widerstand“ eigentlich weniger antinomisch zu sehen denn vielmehr als Drang, aus dem Äußeren ins Innere vorzustoßen.
Dies erklärt auch die Bereitschaft, mit der Eckhart sich zeitlebens so bereitwillig von seinen eigenen Ansichten „distanziert“ und zur katholischen Orthodoxie bekannt hat, da er, blickt man auf die genauen Formulierungen jener Erklärungen, nie an der tatsächlichen Wahrheit der eigenen Einsichten gezweifelt, sondern eben die in der Tat offensichtliche Gefahr eingesehen hat, diese Wahrheiten durch allzu wörtliche oder unbedarfte und vor allem nicht an der inneren Praxis ausgerichtete Deutung in häretischer Weise fehlzuverstehen.
Dazu kommt noch die Einsicht, daß derjenige, der die Gottheit in ihrer absoluten jenseitigen Transzendenz zu begreifen sucht, in letzter Instanz nur noch schweigen kann, da ihm die Aussichtslosigkeit jenes Versuchs deutlich wird: Denn Gott steht letztlich über allen wie auch immer gearteten Zuschreibungen, so daß selbst die negative Theologie immer nur eine Annäherung bleibt, deren letzter Schritt nur die nicht mehr vernunftmäßig, sondern ontologisch vollzogene Hinwendung zum Göttlichen im eigenen Inneren sein kann: Ebenso, wie Wittgensteins Leiter am Ende nur noch weggeworfen werden kann, geht es auch mit allen theoretischen Überlegungen, die vom Endpunkt her erblickt nur noch eitel und provisorisch scheinen und daher in der Tat als ungenaues, rein approximatives Stückwerk verworfen werden können: Die absolute „Gelassenheit“ und Gotteswerdung durch Verneinung der Selbstigkeit als der Moment, wo selbst der „Widerstand“ gegen die Welt des Nichts in sich zusammenfällt und nur noch die Einheit der Stille und Spontaneität übrigbleibt.
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Ich deute Meister E eher als Panentheisten, da er Gott noch über die Schöpfung stellt. Aber das ist tatsächlich in der pantheistischen Praxis (z.B. bei uns in der Liga der Pantheisten) kaum von Relevanz. Danke für diesen schönen und erhellenden Text.