Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.
Der menschliche Kosmos #10
Wappentier und Erfolgsgarant der Medien ist der Sündenbock. Er ist unausrottbar, obwohl nichts in der Welt so unbeirrt wie einfallsreich mit allen Mitteln verfolgt und zur Strecke gebracht wird, denn er trägt die Schuld. Vermutlich können auch Sie leicht etliche „Sündenböcke“ aus Ihrem aktuellen Erleben aufzählen – viel mehr als erfreuliche Zeitgenossen. Das Volk, dem Christus entstammte, wurde insgesamt zum Sündenbock bis zum grausigen Höhepunkt der „Endlösung“ und den bestialischen Terrorattacken des Oktober 2023. Das „vorsintflutliche“ Ritual erweist sich immer noch als mächtiges Verhaltensstereotyp. Und das gilt für den Einzelnen genau wie für kleine und große Sozialgebilde.
Vom Sündenbock
Das älteste und unentbehrlichste Haustier des Menschen ist der Sündenbock.
Dieses Tier besitzt einige erstaunliche Eigenschaften: Es ist praktisch fast überall und jederzeit verfügbar, ohne dass es anwesend sein müsste. Seine Gestalt ist von unbegrenzter Mannigfaltigkeit: Gerade war es noch der Nachbar mit seinem knatternden Rasenmäher, da nimmt es schon verallgemeinert die Form einer stinkenden, umweltzerstörenden Autolawine an, beschleunigt jäh bis zum Überschallknall eines Militärjets. Die Fratze der Kommunisten erscheint kurz im Abgasstrahl. Die Menschen schütteln noch die Fäuste gegen den Himmel, da plumpst der Sündenbock ihnen als Kohlendioxyd speiender amerikanischer Politiker vor die Füße. Der aber löst sich sofort in Nebel auf: „Die CIA!“ raunt es dunkel. „Die Illuminati“, grunzt der populärwissenschaftlich gerüstete Papa und greift zum Bier.
Auf dem Bildschirm erscheint ein mit professoralen Weihen geadelter Sachverständiger und schickt sich an, den Schuldigen des jeweiligen Elends dingfest zu machen, aber plötzlich verlischt das Bild.
„Vanessa, du kleines Mistvieh, leg sofort die Fernbedienung auf den Tisch“, kreischt die Mama, es folgt das Geräusch eines schweren pädagogischen Missgriffs und das Geplärr jener kleinen, schwachen Figur, in die der Sündenbock gerade inkarniert ist.
Vom Sündenbock lässt sich nur eines mit Sicherheit sagen: er ist schuld. Niemand hat meines Wissens – und das grenzt in der Ära des quantifizierenden Denkens und der Kosten-Nutzen-Rechnungen an ein Wunder – genau berechnet, wie viel Zeit Menschen im Laufe ihres Lebens mit der Jagd nach Sündenböcken verbringen. Es ist sehr viel. Denn nicht nur die wirkliche Jagd – etwa auf den Pfuscher am Arbeitsplatz oder in der Verkehrsbehörde – frisst ja Zeit, auch die Beschreibungen, Analysen, Klassifizierungen seiner politischen, wirtschaftlichen, moralischen Erscheinungsformen samt Motivation müssen dazu gerechnet werden, seine Auftritte auf Bühnen, in Film, Funk, Fernsehen und Computerspielen, in Büchern und Zeitschriften. Genau genommen sind Politik und Medien mit wenig anderem so ausdauernd beschäftigt wie mit dem Sündenbock. Feindbilder zu zeichnen und Schuld zuzuweisen ist im Kampf um informelle Macht ein Dauergeschäft. Und dabei wird eine Menge Geld verdient.
Ich vermute, dass auch Sie leicht etliche „Sündenböcke“ aus Ihrem aktuellen Erleben aufzählen könnten – viel mehr als erfreuliche Zeitgenossen. Kein Wunder: feindliche und behindernde Faktoren werden viel stärker und lebhafter wahrgenommen und Aggression schneller antizipiert als Freundlichkeit. Die Qualitäten anderer Menschen erstrahlen übrigens nie so hell wie – womöglich durch Lob bestätigte – eigene. Eigene Fehler und Schuld werden dagegen rasch ausgeblendet, vergessen, verdrängt. Genau dazu dient der Sündenbock.
Im Kapitel 7 des Matthäus-Evangeliums zeichnet die Bibel das Bild vom Splitter im Auge unseres Nächsten, den wir sehen, ohne den Balken im eigenen Auge wahrzunehmen. Es ist nicht die einzige präzise biblische Beschreibung menschlicher Verhaltensweisen, und es ist immer noch ein großer Gedanke, dass ein allerletzter, universeller Sündenbock die Menschen daran hindern könnte, sich selbst und andere weiterhin mit Schuldzuweisungen zu quälen. Alle Schuld, alles Versagen sei durch den Opfertod Jesu Christi am Kreuz abgegolten, und wer tätige Reue übt – also aus Fehlern erkennbar lernt – sei Gott sogar lieber als 99 Gerechte.
Rituale und Rollen
Im rituellen Abendmahl, bei dem die Gläubigen symbolisch vom Blute ihres Erlösers trinken und von seinem Leib essen, wird die Vereinigung mit dem unschuldig und stellvertretend für alle Sünder gerichteten Religionsstifter vollzogen, die Schuld des einzelnen erlischt, und damit seine Rolle als Sündenbock. Wahrhaftig: eine befreiende Ermunterung zum Lernen – denn ohne Fehler lernen wir nichts! – und eine Botschaft für den befreiten, verantwortungsbewussten und vertrauensvollen Umgang miteinander.
Die Kirche Christi – eine wirklich altehrwürdige Korporation! – interpretierte diese Botschaft allzu oft dahingehend, dass nur die Christengemeinschaft solche Gnade verdient. Ungetaufte und unbußfertige Sünder verfielen über die Jahrhunderte erbarmungsloser Verfolgung. Missliebige Frauen wurden zu Hexen; ihnen schrieb man die Schuld an Missernten und Krankheiten zu. Wissensdurstige und Reformwillige wurden als „Ketzer“, „Leugner“ und „Abweichler“ gefoltert und verbrannt, eine Praxis, die alle Religionen und Ideologien ziemlich ausnahmslos bis heute pflegen, auch wenn statt Scheiterhaufen, KZ oder GULAG nur der öffentliche Rufmord zelebriert wird.
Das Volk, dem Christus entstammte, wurde insgesamt zum Sündenbock – bis zum grausigen Höhepunkt der „Endlösung“ und den bestialischen Terrorattacken des Oktober 2023. Das „vorsintflutliche“ Ritual erweist sich immer noch als mächtiges Verhaltensstereotyp. Und das gilt für den Einzelnen genau wie für kleine und große Sozialgebilde: Familien, Stämme, Völker und Religionsgemeinschaften, Nationen, weltumspannende politische Bewegungen und Unternehmen: Der individuelle wie kollektive Bedarf an Sündenböcken ist unstillbar.
„,Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ,Das kann ich nicht getan haben‘, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“
Das Zitat stammt aus Friedrich Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ und sagt alles über die Fähigkeit, sich von eigenen Taten und deren Wirkungen zu distanzieren.
Es fehlt nicht – in jüngster Zeit schon gar nicht – an Belegen für die Vitalität dieser Selbstinteraktion, dieses von beschönigender Selbstwahrnehmung induzierten Vergessens.
Politiker, Manager, Journalisten, Finanzberater und andere „Experten“ verlieren die Erinnerung an ihre Fehlleistungen wohl am schnellsten. Kein Wunder eigentlich, denn das Verdrängen eigener Schuld löst nur die eine Hälfte des Problems – das Selbstbild bleibt heil – nicht aber die andere, nämlich dass auch das Ansehen, der Sozialstatus, also die Teilhabe an informeller Macht, intakt bleiben muss. Unweigerlich verbindet sich das Verdrängen mit dem Abwälzen von Schuld und Versagen auf Dritte (oder ein Drittes – etwa störrische Technik, minderwertiges Material oder den Klimawandel).
Diese dem mechanischen Schema von Ursache und Wirkung verhaftete Strategie nennen Psychologen Kausalattribuierung (oder Kausalattribution). Sie folgt fast jeder Störung wie der Donner dem Blitz. Sie ist ein Ritual, und Rituale definieren Rollen.
Hier findet sich ein besonders auffälliges Beispiel für die Definition einer „Rolle“ – nämlich des Sündenbocks – durch ein charakteristisches Muster aus Interaktion und Selbstinteraktion, ein Ritual. Und dieses Ritual besetzt eben nicht nur Individuen, sondern – wir erkennen wieder „fraktale Selbstähnlichkeit“ – auch Sozialgebilde: Familien, Firmen, ethnische Gruppen, Organisationen, Staaten, Religionsgemeinschaften… Die Besessenheit steigert sich nicht selten zum Massenwahn.
Geschehen, Wahrnehmung und ihre Korruptheit
Richten Sie mit mir noch einmal den Blick auf die Interaktion. Bewusst registrieren wir fast nur die Störungen – so wie wir einen Zeh erst wegen eines schmerzhaften Dorns oder Hühnerauges beachten. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf den schmalen und begrenzten Ausschnitt, wo die Störung zu vermuten ist. Die Erfahrung hat gelehrt, dass mit der Ursache auch die Störung endet. Diese einfache Strategie ist sehr oft erfolgreich und in unbewussten, impulsiven Reaktionen manifest. Sie beeinflusst aber auch die Wahrnehmung, indem sie „feindlich-negative“ Züge eines Gegenübers verstärkt: Auch Geringfügiges wird „kontrastierend“ – schärfer – wahrgenommen. Selbst Hühneraugen oder Pickel können Krebsängste mobilisieren, nicht nur bei ausgemachten Hypochondern. Es bedarf fast immer besonderer Reflexion oder spezifischer Lernprozesse, dem Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster von Kausalattribuierung und Aggression gegen vermeintliche Störungsursachen nicht zu folgen.
Wie übermächtig solche Verhaltensstereotype sind, zeigt sich tagtäglich, wenn die Dorftyrannen dieser Welt die Überbringer schlechter Nachrichten oder Kritiker maßregeln: Ihre Kreise wurden gestört und die Ursache ist der Unglücksbote.
Die meisten „Aufklärer“ oder „Investigativen“ (neuerdings firmieren sie auch als „Faktenchecker“) des Medienbetriebes weichen bei ihrer Jagd nach quoten- und klickträchtigen Schuldigen um keinen Deut vom Sündenbock-Schema ab, denn die gerissenen unter den Mächtigen dieser Welt geben ihnen gern einen Sündenbock nebst guten Gründen für dessen Delinquenz zum Abschuss frei. Doppelte Verlockung für die Jäger: Was sie bei kritischen Attacken auf den Erhabenen riskieren würden, verwandelt sich in dessen Wohlwollen und nährt ihre Teilhabe an informeller Macht. So werden nicht nur in Deutschland Journalisten, Satiriker und Kabarettisten zu Schoßhündchen der Regierenden – jedenfalls bis zum Sturz des Despoten oder seiner Partei.
Während des Corona-Geschehens sonnte sich die Mehrzahl der „Was mit Medien“-Macher in musterhaftem Konformismus, leider auch ein sehr großer Teil der Fachwissenschaftler und in ihrem Windschatten die „Prominenz“ aus Sport und Kulturbetrieb. Burkhard Müller-Ulrich hat archiviert, wie sie sich totalitären Maßnahmen unterwarfen, deren Kritiker verleumdeten und schmähten. „Ich habe mitgemacht“ heißt das von ihm herausgegebene Buch, eine wichtige historische Quelle für längst fällige Analysen.
Mehr Desselben
Natürlich wandele ich wieder auf platten Sohlen, wenn ich an dieser Stelle betone, dass Aggression und Autoaggression so elementar fürs physische und psychische Überleben sind, wie das Agieren von Fresszellen im Immunsystem. Aber die bloße Fokussierung auf Ursachen hindert daran, zweckmäßigere Wege zur Lösung von Konflikten zu gehen. Stattdessen reagieren Konfliktparteien auf Antworten des Gegenübers fast stereotyp mit Eskalation: Nach dem Prinzip „mehr Desselben“ stolpern sie in sich unaufhaltsam verschärfende aggressive Handlungen hinein, deren Schaden dem Maß der ursprünglichen Störung nicht entspricht.
Es wird Ihnen nicht schwer fallen, Beispiele katastrophaler Eskalationen aufzuzählen. Geschichte und Gegenwart sind voller Massaker, und Heerscharen von Sündenböcken dienten und dienen ihrer Rechtfertigung. Ganz alltägliche Feindseligkeiten laufen nach demselben Muster ab.
„Paranoia“ ist das Krankheitsbild, bei dem die Wahrnehmung auf feindlich-negative Einflüsse, auf Feindbilder aller Art reduziert ist. Was dem Betroffenen Angst macht, sorgt für eine selektive Wahrnehmung; er sieht am Ende wie mit einem „Tunnelblick“ nur noch Beängstigendes und seine Reaktionsmöglichkeiten sind entsprechend eingeschränkt. Ganz bewusst habe ich den Begriff „feindlich-negativ“ benutzt, weil er in der Sprache des zutiefst paranoiden kommunistischen Sicherheitsdienstes unangepasste Menschen brandmarkte und jede ihrer Handlungen entsprechend bewertete.
Das lief in der DDR etwa wie folgt: Ein vierzehnjähriger Schüler, dessen Vater in den Westen geflüchtet war, hielt sich in der Schule mit politischen Äußerungen zurück.
„Ganz klar“, vermerkte ein Klassenspitzel im Bericht an den Zuständigen des Staatssicherheitsdienstes, „er verbirgt seine feindlich-negative Einstellung“.
Die „positiven Elemente“ in der Schulklasse wurden also veranlasst, in Diskussionen möglichst auf Stellungnahmen des Verdächtigen zu drängen. Um jene Zeit, im Sommer 1968, hatten gerade Truppen des Warschauer Paktes den „Prager Frühling“ abgewürgt. Was lag näher, als das „solidarische Handeln der sozialistischen Bruderländer“ zum Thema sowohl des Unterrichts in „Staatsbürgerkunde“ als auch gezielter Pausengespräche zu machen.
Der Vierzehnjährige hatte die Wahl, gegen seine Überzeugung zu sprechen oder seine Vorbehalte gegen die Militäraktion zu äußern. Er versuchte, sich aus der Affäre zu ziehen, sagte sinngemäß, dass er den Einmarsch für notwendig halten müsse, wenn dadurch tatsächlich eine westliche Intervention zur Unterstützung tschechischer Konterrevolutionäre und ein Krieg in Mitteleuropa abgewendet worden seien.
Ob er denn an dieser Darstellung des Hergangs zweifle?, hielt man ihm nun vor. Er sei einfach nicht sicher, sagte er, und bis vor ein paar Wochen seien ja auch „die Prager Genossen“ noch „brüderlich Verbündete“ gewesen und keine Konterrevolutionäre.
Dies nun, der bloße Zweifel an der Moskauer Version, dem offiziellen „Narrativ“ der Geschichte, genügte sogleich, das Bild des „feindlich-negativen Subjektes“ um kräftige Farben zu bereichern. Die Wachsamkeit der Parteisoldaten wurde geschärft und es kamen viele weitere Konturen und Details hinzu.
Fünfundzwanzig Jahre und ein Dutzend vom „real existierenden Sozialismus“ zerschlagene Lebenschancen später besichtigte der Sündenbock beim „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes“ eine dicke Akte, wo sogar sein Sexualleben als Beweis staatsfeindlicher Umtriebe aufgeführt war. Während er sie las, musste er sich eingestehen, dass er sich immer wieder verdächtig verhalten, subversiv gegen Partei und Staat gehandelt, am Ende den Zusammenbruch der DDR mit herbeigeführt hatte. Sein Ziel war das niemals gewesen. Er hatte sogar mehr Kompromisse mit den Mächtigen geschlossen, als ihm selber lieb sein konnte.
Aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr erschien ihm sein eigenes Leben und Agieren von eben jener Rolle bestimmt, die ihm die paranoide Form der Wahrnehmung durch die Stasi zuschrieb. Er hatte sie bewusst niemals angenommen, unbewusst aber alle Erwartungen an einen waschechten Staatsfeind erfüllt.
Probieren Sie dieses Spiel einmal aus: Deuten Sie einfach alles, was Ihnen Ihr gegenüber sagt, negativ. Unterlegen Sie seinen – oder ihren – Mienen stets einen Hintersinn. Sprechen Sie den Verdacht aus, nehmen Sie dann jede Antwort als Versuch der Rechtfertigung von immer klarer und bösartiger werdenden Absichten.
Vermutlich werden sich beide bei dem Spiel amüsieren – falls Sie nicht vergessen haben, Ihren Partner vorher einzuweihen. Wenn Sie Pech (oder Glück?) haben, kommen Sie an den Punkt wo, wie bei Kindern „Spaß in Ernst“ umzuschlagen droht. Zeit, sich gegenseitig anzustaunen: Sie haben eine der Methoden verstanden, die von Fachleuten der Stasi zur „Zersetzung“ „feindlich negativer“ Personen angewandt wurde.
Voll Bitterkeit beschreibt Max Frisch in seinem Drama „Andorra“ den Teufelskreis sich wechselseitig verstärkender Schuldwahrnehmung und Schuldzuweisung. Am tragischen Ende passt der zum Sündenbock Erwählte in die Rolle.
Der Zwang, sich zu ducken
Dank der wechselseitigen Verstärkung von Schuldwahrnehmung und Schuldzuweisung kommt immer ein hinreichend langes Sündenregister zusammen, um jedes noch so grausame Vorgehen gegen einen Delinquenten zu rechtfertigen. Das lässt sich am Beispiel des geflügelten Wortes „Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft“ belegen. Und unter totalitären Herrschaftsverhältnissen ist jeder Mensch ein potentieller Sündenbock. Die Angst, mit dieser Rolle besetzt zu werden, lässt ihn niemals los. Strukturen und Funktion solcher Verhältnisse hat George Orwell in „1984“ und „Die Farm der Tiere“ unvergleichlich geschildert: nicht nur die Hoheit, sondern auch die Deutungshoheit über die Existenz wird von den Herrschenden usurpiert und dauernde Angst verändert die Wahrnehmungsfähigkeit der Unterdrückten passend zu den Schemata der Verfolger. Auch sie tun „mehr Desselben“; sie ducken sich noch tiefer und zeigen mit dem Finger auf die anderen. Die Unterworfenen zermürbt das Gefühl ihrer Ohnmacht bis zur Selbstaufgabe.
In Claude Lanzmanns Film „Shoah“ wird von einer Episode vor der Stahltür einer Gaskammer in Auschwitz berichtet.
Zweihundert Juden jeden Geschlechts und Alters harrten dort des Augenblicks, wo sich die Tür öffnete und sie „zum Duschen“ hinein geschickt würden. Auf der Böschung über dem „Bereitstellungsraum“ vor der Gaskammer standen ein gutes Dutzend bewaffnete Aufseher. Keiner der todgeweihten Männer machte einen Versuch, durch einen überraschenden gemeinschaftlichen Ausbruch diese Bewacher zu überrumpeln, zu entwaffnen und schlimmstenfalls durch Gewehrkugeln statt durch Zyklon B zu sterben.
Als eine einzelne Frau verzweifelt die Wahrheit heraus schrie, dass in den „Duschen“ Gas und Tod sie erwarteten, hielten die Männer ihr den Mund zu.
Die Geschichte des vom Kollektiv unterdrückten Notschreis einer Einzelnen vor der Gaskammer hat mich niemals losgelassen. Hofften die Leute sogar im Angesicht des sicheren Todes noch, dass vielleicht gerade sie verschont würden, wenn sie sich still verhielten? War ihnen wirklich die Strategie des Duckens vor der Gewalt so ins Fleisch gewachsen, dass sie zu keiner Gegenwehr, ja nicht einmal mehr dazu fähig waren, einen vereinzelten ohnmächtigen Protest zu ertragen? Und: Was hätte ich getan?
Von vier jungen Männern, denen es gelang aus dem Todeslager zu fliehen, wird berichtet, dass sie lebenslang von Schuldgefühlen gequält wurden: Sie hatten überlebt, aber wegen ihrer Flucht hatten die KZ-Führer zur Abschreckung Dutzende Gefangene exekutiert.
Alternativlos eingeschüchtert
Es bedarf nicht solcher auf äußerste Schrecken und Grausamkeit gesteigerter Gewalt, um vergleichbare Verhaltensweisen hervorzubringen. Ohnmacht und Unterwerfung werden schon unter weniger bedrohlichen Verhältnissen als „unentrinnbar“, „unabänderlich“ wahrgenommen – oder auch der Bequemlichkeit halber für „alternativlos“ erklärt.
Deshalb betrachtete die Mehrheit der DDR-Bürger die Oppositionellen als notorische Störenfriede oder sogar Nestbeschmutzer, die eher zu einer Verschärfung der Verhältnisse beitrugen und deren Nähe man besser mied. Mut zur Wahrheit wurde nicht geschätzt, das offensichtlich bevorstehende ökologische, ökonomische und moralische Desaster des „realen Sozialismus“ kleingeredet. Ein déjà vu: Das seit der Merkelschen Kanzlerschaft verdächtig oft von Politikern und ihrer medialen Gefolgschaft gebrauchte Wort von der „Alternativlosigkeit“ taugt sehr gut, kritische Meinungen abzuwerten und zu ersticken. Hier scheint das uralte „Kassandra“-Motiv auf: Die Unheil vorhersehende Trojanerin aus der antiken Stadt wird von ihren Mitbürgern isoliert und ignoriert.
Die Angst vor dem Verlust eines eigenen – relativ bescheidenen – Vorteils, die Fixierung auf „Sicherheit“, also das Beharren auf gewohnten Verhältnissen, die nur von Einzelnen oder Minderheiten als bedrohlich wahrgenommen werden, steckt auch hinter den meisten Fällen von „Mobbing“. Fast überall wird ein Gemobbter als „Nestbeschmutzer“ angesehen und verschrieen – genau wie Dissidenten in Russland, China, im Iran, in der Türkei oder anderen Diktaturen.
Der „Herdenimpuls“, der kranke oder behinderte Tiere isoliert und verstößt, äußert sich innerhalb menschlicher Gruppendynamik und sucht sich geeignete ideologische Rechtfertigungen. Ist die Mehrheit bereit, sich anzupassen, sieht sie ihr Verhalten niemals als Teil der Despotie, als ein interaktives Rollenverhalten. Handelnde – also nicht nur im risikolosen Protest aus sicherer Distanz geübte – Solidarität mit Verfolgten und Gemobbten ist nach wie vor eine soziale Tat von hohem Anspruch. Sie hat Seltenheitswert: „Freunde in der Not gehen tausend auf ein Lot“, sagt das Sprichwort.
Kollektiv – ohne Verantwortung
Das deutsche Grundgesetz schützt die Rechte des Einzelnen, es nimmt ihn aber auch in die Verantwortung. Das Gewissen des Einzelnen erst verleiht den Grundrechten ihre Wirkung, denn es mahnt diese Verantwortung an. Natürlich ist das Handeln der Menschen nicht nur von tradierte Werten, Glaubenssätzen, ethnischen und kulturellen Ritualen und Regeln geleitet, sondern auch von spontanen Impulsen, die damit kollidieren.
Kollektives Handeln in der Masse aber – randalierend, plündernd, in Massenschlägereien, beim Prangerritual, im Lynchmob oder Krieg – erstickt die Stimme des Gewissens. Sie meldet sich erst wieder im Nachhinein. Und keineswegs bei allen.
Es gehört zu den Grundzügen kollektivistischer Ideologien, das Gewissen des Einzelnen dauerhaft unter Kontrolle zu bekommen. Ihr Sinn liegt genau darin, diese zutiefst menschliche Instanz zu kontrollieren. Dafür sind alle Propagandamittel recht – und alle Bereiche des Lebens werden instrumentalisiert: Medien, Wissenschaft, Sport, Kunst, Religion,… selbst Privatestes wie Sexualität und sprachlicher Ausdruck.
Das Ziel der Totalitären ist, das Gewissen als Ausdruck menschlicher Freiheit zu enteignen und für eine „kollektive Verantwortung“ zu usurpieren, die alleine von ihrer Deutungshoheit bestimmt und von alles durchdringender Propaganda bewirkt werden soll.
Verheißt die Strategie der unterwürfigen Anpassung auch nach einem Machtwechsel gute Aussichten, wird sie fortgeführt – und hilft womöglich dem nächsten Despoten an die Macht. Michel Houellebecque erzählt in seinem Roman „Soumission“ exemplarisch, wie ein französischer Literaturwissenschaftler diesen Prozess durchläuft.
Opportunismus ist ohne Frage eine sehr erfolgreiche und existenzielle Strategie des Überlebens. Dass seine üblen Folgen besonders schnell kollektivem Verdrängen und Vergessen anheim fallen, verwundert also nicht. Anhänger des Nationalsozialismus verschwanden nach 1949 bekanntlich auf ebenso gespenstische Weise wie die des DDR-Sozialismus 1989. Wer „wendige“ Leute nach ihrer Mitverantwortung an staatlichem Unrecht fragt, zieht sich nicht selten deren Hass zu. Und das ist im Alltag der Gestelle halt so.
Der Sündenbock als soziales Wesen
In der jüngsten Geschichte stößt der kritische Betrachter auf eine besonders bizarre Variante der Sündenbock-Strategie: die soziologische. Sie entstand zugleich mit der vernünftigen Einsicht, dass der Mensch ein soziales – oder nach Marx ein „gesellschaftliches“ – Wesen ist. Vernünftige Einsichten verbinden sich aber durchaus mit tödlichen Strategien: So beflügelte die Erkenntnis, dass bei der Spaltung oder Fusion von Atomkernen gewaltige Energien zu gewinnen sind, die Gier nach Weltherrschaft. Und der Gedanke, dass der Mensch „In seinem Wesen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx) sei, wurde zum beflügelnden Element neuer Sündenbock-Rituale.
Inzwischen beruft sich noch der dümmste dreizehnjährige Taschendieb darauf, die Gesellschaft sei an seiner Entgleisung schuld – er wird Verteidiger finden, die ihn mit eleganten Argumenten unterstützen, und zumindest ein großer Teil des Publikums wird applaudieren.
Die Gesellschaft oder „das System“: das sind zugleich alle und niemand, und das bedeutet, dass sich Verantwortung in Nebel auflöst. Das bleibt so, bis die Wahrnehmung hinreichend mächtiger Gruppen oder Individuen im soziologischen Smog doch wieder einen richtigen Sündenbock ausmacht: die Eltern des Taschendiebes, seine Volksgruppe oder sogar er selber können das sein, und er wird dann vielleicht sogar zum Symbol verrohender Erziehung, verwahrloster Jugend, mangelnden politischen Willens zur Fürsorge erhoben. „Das System“ oder „die Gesellschaft“ als Sündenbock – das ist die wohlfeile Rechtfertigung für asoziales Verhalten.
Wer die Gesellschaft zum Sündenbock macht, hat erkennbar ein Ziel: Individuellen oder partikulären (Parteien, NGO, Religionen…) Interessen soll zu sozialer Duldung oder gar Verbindlichkeit verholfen werden. Der Ankläger ist frei zu tun, was er – gegenüber dem zum Schuldigen, zum Feind erklärten „System“ – für rechtens hält, ohne Rücksicht auf die Rechte anderer. Nötigenfalls fordert er zum Gesetzesbruch oder zum Umsturz auf. Natürlich weiß er alles besser, hat Gerechtigkeit und Moral auf seiner Seite. Anarchie und Despotie sind zwei Seiten einer Medaille.
Schadenfreude – ein Bestseller
Das Mediengeschäft lebt nicht schlecht vom Muster „mir nützt, was anderen schadet“. Das Begaffen von Katastrophen, die Empörung über echtes oder vermeintliches Unrecht, furchterregende Alarmsignale, Mitleidsrituale: Sensationsgier ist so unersättlich wie Schadenfreude. Ein besonderer Clou ist das Aufrichten von Heldenfiguren, die wenig später mit Wonne niedergerissen werden. All diese Quellen von Klatsch und Tratsch werden nie versiegen. Und nie waren sie wirksamer als heute, nie war das tägliche Reizangebot unter dem Motto: „Sei froh, dass du bist, wie du bist – die anderen sind Versager, Dummbeutel, Verbrecher oder Unglücksraben“, nie war das Reizangebot vielseitiger, umfassender und leichter verfügbar als dank moderner Bildermedien.
Über den ganzen Globus verbinden die Schauder beim Anblick blutiger Hetzjagden, Gräuel und Notlagen Milliarden Menschen in den immer enger gestrickten multimedialen Netzwerken, und ebenso milliardenfach erschallt das Hohngelächter über fremdes Missgeschick. Die Objekte der Häme unterscheiden sich bisweilen nach Volk, Rasse, Körpergewicht, Geschlecht oder Religion – oder nach dem politischen Lager. Allein: Nichts bezeugt so sehr menschliche Wesensverwandtschaft – hinweg über alle historischen Epochen und ethnischen Unterschiede – wie Fernsehbilder von „Freiheitskämpfern“ im afrikanischen Dschungel, die Kindern die Hände abhacken, oder das Gelächter über Amateurvideos von Vätern, denen ein Pony gegen das Schienbein tritt, während sie ihren Sprössling zum Reitunterricht hochhieven.
Es ist nicht die „objektive Wirklichkeit“ eines allgegenwärtigen Widerstreites zwischen Gut und Böse, Gott und Satan, Revolution und Konterrevolution, Fortschritt und Reaktion, Links und Rechts, -isten und Anti-isten, die Krieg und Gewalt gebiert, sondern es ist die subjektive Wahrnehmung, der Kampf um die Deutungshoheit, um Teilhabe an informeller Macht. Man will dazugehören – zu den „Guten“.
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