Fast acht Wochen nach der Veröffentlichung des ersten Artikels von Seymour Hersh über die Sabotage der Nordstream-Pipelines wissen wir immer noch nicht, was am 26. September vergangenen Jahres in der Ostsee passiert ist. Dafür bekamen wir aber immerhin Einblicke in die Funktionsweise unseres Mediensystems.
In den vergangenen Tagen veröffentlichten verschiedene Medienanbieter unter dem Namen „Vulkan-Files“ Daten, die ein anonymer Informant nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine der „Süddeutschen Zeitung“ zugespielt hat. Dessen Identität sei nicht bekannt, so die Aussage, die man glauben darf oder auch nicht: Es gehört zum journalistischen Selbstverständnis, seine Quellen zu schützen.
Die daran beteiligten Zeitungen und Fernsehsender lesen sich wie ein „Who is who“ westlicher Medienunternehmen. Daran sind in Deutschland der „Spiegel“, die „Süddeutsche Zeitung“ und das ZDF beteiligt. In Großbritannien der „Guardian“, in Österreich der „Standard“ und in den Vereinigten Staaten die „Washington Post“. Hoffentlich wurde niemand vergessen.
Es geht um die Aktivitäten der Moskauer Firma NTC Vulkan, die offenbar im Auftrag russischer Regierungsbehörden Hackerangriffe auf die kritische Infrastruktur im Westen unternimmt. In den beteiligten Medien gibt es eine ausführliche Berichterstattung, etwa beim „Spiegel“ und der „Süddeutschen Zeitung“.
Interessant ist zweifellos der Umgang mit den Informationen. So schreibt der „Spiegel“: „All das lässt sich herauslesen aus mehr als tausend geheimen Dokumenten: 5299 Seiten mit Projektplänen, Anleitungen und internen E-Mails von Vulkan aus den Jahren 2016 bis 2021. Sie sind auf Russisch und oft extrem technisch, aber wer beginnt sie zu verstehen, bekommt einen einmaligen Einblick in die Abgründe der russischen Cyberkriegspläne. In einen Militärstaat, der nicht nur mit Kampfflugzeugen, Panzern und Geschützen bedroht, sondern mit Hackern und Angriffssoftware aufrüstet.“
Das Material wurde automatisiert übersetzt, so der für die Plattform „paper trail media“ arbeitende Hannes Munzinger gegenüber dem ZDF. Zudem würden in diesen Dokumenten „sehr viele Namen erwähnt: Namen von Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums, des Generalstabs, von Geheimdiensten. Es sind Namen, die man in anderen Quellen überprüfen kann. Das hat uns dazu geführt, dass wir dieses Material für echt eingeschätzt haben.“
Außerdem habe man „sehr viele E-Mails aus der Firma in diesem Leak“ gefunden. Auch darin stünden „Namen, Handynummern, Funktionen – also Job-Beschreibungen“, die sich aus anderen Quellen überprüfen ließen. Zudem hätten fünf westliche Nachrichtendienste die Authentizität der Daten bestätigt, wie der „Spiegel“ schreibt. Dagegen, so wiederum der „Standard“, sei bislang unklar, „ob und wo die Produkte von Vulkan eingesetzt wurden“.
Anders als einst die von dem Whistleblower Edward Snowden geleakten NSA-Files enthielten „die Vulkan-Files keine Informationen über konkrete Ziele der russischen Cyberkrieger.“
So ist es auch zu erklären, dass sich bei Munzinger die Resultate dieser russischen Anstrengungen im Cyberkrieg eher bescheiden anhören: Was die Russen jetzt mit Drohnen in der Ukraine zum Beispiel gegen Stromnetze machten, „das haben sie vorher schon digital versucht.“
Wenn die russischen Hacker erfolgreicher wären, müsste Moskau wohl kaum auf die aus jedem Krieg seit den 1930er Jahren bekannten Luftangriffe auf die gegnerische Infrastruktur zurückgreifen. Tatsächlich sind die Erfolge der bisherigen ukrainischen Kriegführung vor allem auf die überlegene westliche Technik in den Informations- und Kommunikationstechnologien zurückzuführen.
Schönste Blüte im Garten medialer Spekulation
Die beteiligten Redaktionen aus aller Welt haben einen enormen Aufwand betrieben, um Licht in das Dunkle des russischen Cyberkriegs zu bringen. Das Material scheint nicht mehr sicherheitsrelevant zu sein, weil die beteiligten Geheimdienste ansonsten sicherlich Einspruch gegen die Veröffentlichung erhoben hätten. Es handelt sich also um investigativen Journalismus, wo alle Redaktionen auf Grundlage anonym zugespielten Materials zum gleichen Ergebnis kommen.
Nun muss man das nicht gleich so kritisch sehen, wie fefe in seinem Blog, der das unter Propaganda einreiht. Aber der von ihm angestellte Vergleich mit Seymour Hersh’ These über die Saboteure der Nordstream-Pipelines ist durchaus zielführend. Bei Hersh gäbe es eine Konstellation, dem Hersh zu vertrauen, dass seine Quelle glaubwürdig sei: „Diese Cyberwar-Nummer kam von einer anonymen Quelle, d.h. die SZ ist in der Position, in der ich bei Hersh bin.“
Es gäbe für fefe „also keinen Grund, der SZ zu glauben, dass ihre Quelle kein ukrainischer Geheimdienst-Psyops-General war. Das wissen sie selber nicht.“
Es gibt aber einen Unterschied: Die zahllosen Kollegen haben versucht, die zugespielten Daten zu verifizieren. Das ist ein Unterschied zu Hersh, der in der Beziehung bis heute wenig anzubieten hat. Trotzdem bleibt diese Story das Ergebnis einer Kooperation von Medien mit westlichen Geheimdiensten. Sie hat somit einen propagandistischen Wert in unserem nicht deklarierten Krieg mit Russland.
Insofern ist es nicht erstaunlich, welcher Aufwand bei den „Vulkan Files“ seit einem Jahr getrieben wird. Und man muss das jetzt vergleichen mit den armseligen Ergebnissen unserer Medien, wenn es um die Aufklärung der Sabotage der Nordstream-Pipelines geht. Seit der Veröffentlichung des ersten Artikels zu dem Thema im Sandwirt ist einiges passiert, aber nichts war mit dem Aufwand vergleichbar, den das „Who is who“ unserer Medien bei den „Vulkan Files“ betrieben hat.
Dabei lässt sich in der Ostsee ein realer Schaden feststellen, der bei den „Vulkan Files“ erst einmal nicht zu erkennen ist. Das Spektrum reichte von der Realsatire bis zur Räuberpistole. Die Bemühungen des Faktenfinders der Tagesschau waren sicherlich die schönste Blüte in diesem Garten medialer Spekulation. Autor Pascal Siggelkow diskutierte mit einem Experten für Sprengstofftechnik über pflanzliche Sprengstoffe, um den als Verschwörungstheoretiker apostrophierten Seymour Hersh zu widerlegen. Ihn interessierte erkennbar nicht das Tatgeschehen in der Ostsee, wie ihm noch der von ihm befragte David Domjahn anfänglich zu gute hielt, sondern lediglich die Widerlegung von Hersh. Siggelkow interessieren nicht Sachverhalte, sondern seinem Selbstverständnis entsprechend Narrative genannte Propaganda. Es war ein Armutszeugnis für die Tagesschau, was allerdings am Engagement der Narrative-Erfinder bis heute nichts geändert hat: Sie machen ungerührt weiter.
Von anderer Qualität waren dagegen die fast zeitgleich in der “New York Times“ und in einem deutschen Medienverbund erschienenen Artikel über die Urheber der gesprengten Pipelines. Die Times machte das, was Hersh immer vorgeworfen wird: Sie berichtete auf Grundlage anonymer Regierungsquellen über die Sichtweise der Biden-Regierung. Das ist für denjenigen interessant, der sich für die Meinungsbildungsprozesse in der amerikanischen Regierung interessiert.
Es kam das vermeintliche Rätselraten amerikanischer Dienste über die mysteriöse Sprengung zum Ausdruck, wo keiner etwas Genaues zu wissen scheint. Amerikaner und Briten seien es nicht gewesen, der ukrainische Präsident Wolodimyr Selenskyj habe keine Kenntnis von den Vorgängen.
Aber immerhin ließen die Presseflüsterer verlauten, dass sie nur begrenzten Einblick in die ukrainischen Entscheidungsfindungsprozesse hätten. Wie Kreml-Astrologen früher in der „Prawda“, mussten auch die Leser der „New York Times“ zwischen den Zeilen lesen. So versuchten die Mitarbeiter der Biden-Regierung das Rätsel nach der Qualifikation der eingesetzten Taucher zu lösen: Einerseits durften sie nicht amerikanische oder britische Militärangehörige sein, andererseits hatten sie keine Hinweise auf eine russische Beteiligung. Also sei es möglich, „that the perpetrators received specialized government training in the past.“ Das ist auch die einzige Möglichkeit, wenn es keine Hobbytaucher gewesen sein können.
Wieck oder Wiek?
Während die amerikanischen Kollegen die Sichtweise ihrer Regierung mitteilten, protokollierten deutsche Journalisten vom Berliner Hauptstadtstudio der ARD über Kontraste bis zur Zeit gewissermaßen den Unterbau der in der Times veröffentlichten Mutmaßungen. Sie teilten mit, was unsere Ermittlungsbehörden bis dahin herausgefunden hatten: Es wäre eine von unbekannten Personen mit falschen Pässen gemietete Yacht ausfindig gemacht worden, wo man aber rätselhafterweise die einzige Frau an Bord als Ärztin identifizieren konnte. Diese sollen genügend Sprengstoff an Bord gebracht haben, um auf einem Segeltörn durch die Ostsee die Pipeline gesprengt zu haben. Dort finden sich auch die in der „New York Times“ erwähnten Taucher, die keine Hobbytaucher waren. Nach der gelungenen Sabotage hätten sie die Yacht ungeputzt zurückgebracht, so dass auf dem Kajütentisch sogar Sprengstoffspuren gefunden wurden.
Der Clou war das Auffinden zweier gefälschter Pässe, die Saboteure bekanntlich immer am Ort des Verbrechens zurücklassen. Die Yacht sei von einer Firma in Polen angemietet worden, die zwei ukrainischen Geschäftsleuten gehöre, so konnten wir noch lesen. Der deutsche Medienverbund berief sich auf „Quellen“ in verschiedenen Ländern, die selbstredend nicht genannt wurden.
Allerdings verwechselten die Rechercheure bei ihrer mühseligen Kleinarbeit Wieck (Darß) mit Wiek auf Rügen. Das fiel aber erst Günter Platzdasch auf, bevor es die Rechercheure bemerkten. Deren Begründung für diesen Fehler war denkwürdig: Aus ihrer Quellenlage, sie betonen mehrere Quellen, sei es naheliegend gewesen, „dass es das mit ‚ck‘ ist.” Zwar habe unter anderem der geringe Tiefgang des dortigen Hafens dagegen gesprochen, was sie auch gesehen hätten: Jetzt sei „für uns nach Quellenüberprüfung eigentlich sehr deutlich, es ist Wiek auf Rügen – mit einfachem ‚k‘.”
Auf weitere Einzelheiten dieser unterhaltsamen Geschichte muss man nicht eingehen. So ist diese Yacht wohl nicht das geeignete Transportmittel, wie der schon erwähnte David Domjahn feststellte: „Der Sinn, in diesem Fall von einer Motoryacht aus überhaupt mit solchen überdimensionierten Sprengstoffmengen zu arbeiten, erschließt sich mir ebenfalls nicht.“
Aber fassen wir die Aussagen der Presseflüsterer zusammen: Letztlich stimmten die Times und unser Medienverbund darin überein, dass es sich um eine „pro-ukrainische Gruppe“ gehandelt haben könne, aber die ansonsten bei Verschwörungstheoretikern beliebte „false flag“ – Operation nicht auszuschließen sei. Das ist aber offenbar keine Verschwörungstheorie, wenn sie nur die richtigen Leute formulieren – und den Richtigen trifft. In dem Fall Russland, das der Ukraine die Sabotage unterschieben will.
Hinweise dazu kamen schnell. Es fehlten nur noch die passenden Schiffe am Tatort, die aber am 26. März zum Glück „t-online“ fand: Ein Verband der russischen Marine habe „unter strenger Abschirmung im Bereich des späteren Tatorts“ operiert. Die Schiffe hätten – sogar „exakt“ wie betont wird – „die notwendige Ausrüstung gehabt, um Sprengsätze an den Pipelines zu platzieren.“ Dieser Verband sei sogar „wie ein Geist” gewesen, also „ohne Positionsdaten zu senden.“
Wer hätte das gedacht? Seymour Hersh? Und jetzt kommt der Höhepunkt dieser unterhaltsamen Geschichte: Das habe das Nachrichtenportal aus Sicherheitskreisen erfahren. Von Seymour Hersh somit nicht, das steht fest. Das Lustige an dieser Geschichte: Deren Autoren erzählen das Gleiche wie Hersh in seinem ersten Artikel, nur halt in der russifizierten Variante.
Um den bisherigen medialen Sachstand zusammenzufassen: Hersh veröffentlicht am 8. Februar seine auf einer Quelle beruhende These über den Sabotageakt auf die Pipelines. Nach anfänglichem ratlosem Schweigen vieler Medien erscheinen zeitgleich am 7. März die Aussagen der Presseflüsterer in der New York Times und im deutschen Medienverbund. Zwischendurch blamierte sich noch der Narrative-Erfinder der Tagesschau am 23. Februar. Als sich auch die Geschichte über die Yacht „Andromeda“ als Räuberpistole herausstellte, lassen die Presseflüsterer die Kollegen von „t-online“ ihre neuesten Erkenntnisse vermitteln, die sich aber seltsamerweise haargenau wie eine russifizierte Version von Hersh anhören. Nur kam niemand nach dem Sabotageakt am 26. September sechs Monate lang auf die Idee, diese Erkenntnisse über den russischen Flottenverband dem Publikum mitzuteilen. Darauf kam man erst nach dem 8. Februar, und auch erst dann, als sich alle anderen Narrative als wenig überzeugend herausstellten.
Mit der Veröffentlichung der Hersh-Story über eine amerikanische Täterschaft kamen die westlichen Regierungen erkennbar unter Zugzwang. Sie konnten sich nicht mehr mit den üblichen Phrasen einer noch stattfindenden Ermittlung aus der Affäre ziehen. Sie brauchten jetzt eine Antwort auf Hersh, jenseits der gescheiterten Bemühungen der Narrative-Erfinder.
Wobei sich sogar der „Spiegel“ über die recht bescheidenen Bemühungen des zuständigen Bundeskriminalamtes (BKA) zur Aufklärung dieses Sabotageaktes wunderte. Nach seinen Informationen seien „nur wenige Beamtinnen und Beamte des Referats ST24 mit dem Fall befasst“ gewesen, etwa im Vergleich zu der „mutmaßlich militanten Reichsbürger-Zelle um Heinrich XIII. Prinz Reuß“. Dort hätten „zeitweilig fast 400 Kriminalisten des BKA“ ermittelt.
Selbst die Verdachtsmomente einer von Deutschland aus gestarteten Sabotageaktion hätten daran nichts geändert. Offenbar sei man davon ausgegangen, so der „Spiegel“, „dass der Fall nicht aufgeklärt werden kann“ oder es „schlichtweg an Personal“ fehlte. Das zuständige Referat sei „derzeit unter anderem mit den aufwendigen Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Spion im Bundesnachrichtendienst, Carsten L., befasst“ gewesen. Vielleicht hatten die Beamten auch alle einen positiven Coronatest, der sie an der Dienstausübung hinderte.
Dysfunktionalität von Mediensystemen
Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen Hersh und den Protokollierern der Presseflüsterer: Ihm geht es darum, die Politik der eigenen Regierung kritisch zu betrachten. Die anderen erzählen das, was die eigenen Regierungen gerne lesen wollen.
Ob das die „Vulkan Files“ betrifft oder den vermeintlich mysteriösen Anschlag auf die Pipelines. In Russland ist die kritische Berichterstattung über westliche Aktivitäten gefahrlos möglich, wie man beim deutschen Dienst des Staatssenders „Russia Today“ nachlesen kann. Allerdings auch nur, wenn man sich im Internet als Japaner oder Schweizer tarnt. Für Deutsche und andere EU-Europäer ist deren Lektüre so gefährlich, dass man sie zu unterbinden versucht.
Nun hat westlichen Regierungen die kritische Berichterstattung über die eigenen Aktivitäten schon immer nur in Sonntagsreden gut gefallen. Sie mussten sie aber als verfassungsrechtlich garantiertes Grundrecht hinnehmen, weil das eine liberale Demokratie von einem autoritären Staat unterscheidet. Umso wichtiger war den Regierungen deshalb schon immer die journalistische Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Presseflüsterern. Das ist eine unvermeidliche Begleiterscheinung unseres Mediensystems, weil der Zugang zu Informationen für die Reputation eines Medienanbieters von zentraler Bedeutung ist. Lediglich ein pluralistisches Mediensystem verhindert dessen Abgleiten zu einem Propagandainstrument von Regierungen.
Das hat aber bei uns erkennbar gelitten, wie die konformistische Berichterstattung in weiten Teilen der klassischen Medien in der Flüchtlingspolitik und während der Pandemie bewiesen hat. Eric Gujer, Chefredakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“, nannte das jüngst den „Herdentrieb der Medien“. In den „Twitter Files“ wurde zudem deutlich, wie diese Manipulation der öffentlichen Willensbildung im Detail von Interessengruppen und dem Staat durchgesetzt wurde. Die meisten der an Aufdeckung der „Vulkan Files“ beteiligten Medien hatten an diesen Enthüllungen kein Interesse. Oder sie fabulierten wie der Narrative-Erfinder Siggelkow über „Verschwörungstheorien“.
So haben wir in den acht Wochen nach dem ersten Hersh-Artikel einiges über die Dysfunktionalität von Mediensystemen in liberalen Demokratien gelernt. Es ist Einflüssen ausgesetzt, wo der Impuls zur propagandistischen Unterstützung der eigenen Regierung den an der Aufklärung kritischer Sachverhalte überwiegt.
So wissen wir immer noch nicht, wer für den Sabotageakt vom 26. September verantwortlich ist. Denn Hersh konnte bisher keine validen Hinweise über das Tatgeschehen geben, die nicht nur von seiner ungenannten Quelle stammen. In den vergangenen Wochen hat er sich darum bemüht, die historischen Hintergründe amerikanischer Außenpolitik deutlich zu machen. Sie begründen seine berechtigte Skepsis gegenüber dem Handeln einer Großmacht, die das machte, was Großmächte schon immer taten: Mit wenig moralischen Skrupeln ihre Interessen durchzusetzen, oder was sie dafür hielten.
Seine letzten Artikel machten deutlich, wie sehr ihn die Erfahrungen mit dem Vietnamkrieg geprägt haben (etwa in „Does ist take a war?“ und in „WHO’S YOUR GEORGE BALL? Every president needs a voice of dissent—does Joe Biden have one?“).
Diese Kontextualisierung fehlt heutzutage den meisten Journalisten und vermeintlichen Experten, wenn etwa der Umgang mit der Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen als Angst-Diskurs beschrieben wird. Das kann nur jemand formulieren, der sich mit dem Kalten Krieg noch nie beschäftigt hat. Zum Teil kommt das ironischerweise von den gleichen Leuten, die ansonsten in der Pandemie oder der Klimadebatte diesen Angst-Diskurs systematisch einsetzen.
Ansonsten hat Hersh aber bisher wenig Substantielles beigetragen, um weitere Belege für seine These einer amerikanischen Täterschaft zu liefern. Auch sein Interview mit Marc Friedrich gab mehr Aufschluss über sein Denken als über die Sabotage. Bisweilen verhedderte er sich in den Details, wie auch Kritiker wie Oliver Alexander bemerkten. Deren Thesen sind allerdings noch weniger plausibel, wie er als Co-Autor bei t-online unter Beweis stellte. Bisweilen war diese Kritik absurd, etwa Hersh fehlende Geographie-Kenntnisse vorzuwerfen, weil er in dem Interview von der „baltic sea“ sprach. Den Begriff benutzte auch die „New York Times“ in ihrem Protokoll der Aussagen der Presseflüsterer.
So beschreibt Hersh in seinem Artikel vom 22. März zwar die fehlende Plausibilität der Thesen in der „New York Times“ und im deutschen Medienverbund, aber das belegt nun einmal nicht seine eigene These.
Stattdessen formuliert er Vermutungen über das Treffen zwischen Joe Biden und Olaf Scholz am 3. März in Washington, das ohne Medienbegleitung stattfand. Niemand weiß, was dort besprochen wurde, offenbar hielten beide (oder einer von beiden) sogar das klassische Telefongespräch zur Klärung von Meinungsverschiedenheiten für zu risikoreich. Laut einer Quelle von Hersh soll es dabei aber eine Debatte über die Pipeline-Sabotage gegeben haben und beide hätten sich darauf verständigt, eine alternative Version über die Sabotage in amerikanischen und deutschen Medien anzubieten.
Die zeitliche Nähe zum 7. März ist für Hersh ein Indiz für eine Kumpanei zwischen Medien und Geheimdiensten, und das auch noch auf Befehl der beiden Regierungschefs. Nur ist diese Theorie aus zwei Gründen wenig wahrscheinlich. Selbst die einfältigsten Journalisten lassen sich nicht einfach zum Befehlsempfänger degradieren, wahrscheinlich noch nicht einmal die Narrative-Erfinder der „Tagesschau“. Zum anderen wird jeder Staatsmann eines vermeiden: Zur offenen Lüge gezwungen zu werden. Die hatten schon immer die kürzesten Beine, wie Richard Nixon in der Watergate-Affäre, Ronald Reagan im Irangate, Bill Clinton in seiner Beziehung zu Monica Lewinsky und George Bush junior bei den irakischen Massenvernichtungswaffen erleben durften.
Insofern ist es eher unwahrscheinlich, dass sich Biden und Scholz mit alternativen Fakten zur Pipeline-Sabotage beschäftigt haben. Das kann man besser den Presseflüsterern überlassen, die machen das hauptberuflich. Hersh wiederholte aber in einem seiner neuen Artikel die Hoffnung, die er auch schon am Anfang formulierte: „Is there anyone in the Senate and the House, or in the American press, interested in finding out what was going on—and what else we do not know?“
Fälschung und Täuschung
So ist weiterhin nichts geklärt, was aber Geheimdienste noch nie störte. Desinformation zur Verwirrung des Gegners gehörte schon immer zu ihrem Kerngeschäft. Bisweilen verwirrten sie sogar die eigenen Regierungen, was zu den Kollateralschäden dieses Metiers gehört. In der Geschichte gibt es dafür unzählige Beispiele.
Dazu gehörte auch die Bergung eines 1968 im Nordpazifik gesunkenen russischen U-Bootes mit Atombewaffnung. Die CIA inszenierte eine gigantische False Flag – Operation namens „Arozian- oder Jennifer-Projekt“, um das Heben dieses U-Bootes durch ein eigens gebautes Bergungsschiff zu tarnen. Es firmierte als ein Schiff für den Meeresbergbau, angeblich im Auftrag des damals sagenumwobenen Milliardärs Howard Hughes.
In dieser später wie eine Posse wirkende Inszenierung spielten die Medien eine zentrale Rolle, einerseits als Verbündete der CIA, um diese Operation im Kalten Krieg mit der Sowjetunion nicht zu gefährden. Andererseits aber auch als Aufklärer, die sich nach der Enttarnung dieser Operation wie die Fliegen auf das Thema stürzten. Einer der beteiligten Journalisten hieß übrigens Seymour Hersh.
Jost Herbig, ein damals bekannter Wissenschaftsautor, hat die Hintergründe in seinem 1981 erschienenen Buch „Im Labyrinth der Geheimdienste – Der Fall Jennifer“ beschrieben. Er zeigt dort akribisch die Rolle der Medien auf, wie sie mit Spekulationen und halbgaren Informationen verwirrten, statt aufzuklären. Für Herbig gehörte „Täuschung zum Alltagsgeschäft jeden Geheimdienstes“. Diese sei „transzendierte Wirklichkeit und sollte nicht mit Fälschung verwechselt werden. Im Gegensatz zur Fälschung, die billige und relativ leicht identifizierbare Surrogate von Wirklichkeit herstellt, bezieht sich die Täuschung auf die wirkliche Welt. Sie schmarotzt bei Tatsächlichkeit, übersteigt diese jedoch und stellt sie in einen anderen Sinnzusammenhang, der für das zu täuschende Publikum ebenso wirklich ist wie die dahinter verborgenen Tatsachen. Der Gegenstand der Täuschung bleibt unverändert. Verändert wird das Bewusstsein des Getäuschten. Fremdes Bewusstsein dringt ein und macht sich breit. Eine nicht diagnostizierbare Form von Wahn entsteht.“
So kann man den Stand der Debatte über die Sabotage der Nordstream-Pipelines gut zusammenfassen. Früher war halt nicht alles besser, aber dafür langsamer. Wahrscheinlich war das besser für uns Journalisten.