Das System der demokratischen Widersprüche #5
Die seit kaum mehr als zweihundert Jahren praktizierte Form der parlamentarischen Demokratie, gepriesen als die Krone der Herrschaftslegitimierung sowie des gesamten Denkens über ein gerechtes und soziales Zusammenleben, beruht auf den beiden Säulen Repräsentation und freies Mandat. Ich werde zeigen, dass beide Säulen schon für sich genommen das Wählen zu einem eitlen Vorgang machen und überdies in klarem Widerspruch zueinander stehen.
Die tagespolitischen Auseinandersetzungen über Wahlen drehen sich meistens um Fehler bei der Durchführung der Wahl (Vorwurf der Wahlmanipulation) oder um den Modus der Wahlen (nicht-repräsentative Einteilung der Wahlbezirke oder auch Verhältnis- im Gegensatz zum Mehrheitswahlrecht). Wenn es beim Auszählen von Wahlausgängen darum geht, dass eine Handvoll Stimmen innerhalb einer Gesamtzahl von Wahlberechtigten, die Millionen umfasst, die Lächerlichkeit des Anspruchs deutlich machen könnte, die Mehrheit würde zu einer legitimen Herrschaft führen, geht dies im Spektakel der Tagespolitik leider unter. Aber auch bei einer satten Mehrheit stellt sich die ironische Frage, inwiefern eine Mehrheit, die dumme Entscheidungen trifft, besser sein sollte als eine Minderheit, die eine kluge Entscheidung getroffen hätte.
Die „Volksvertreter”
Das Problem, weshalb die Mehrheit das «Recht» habe, sich durchzusetzen, liegt hierbei erstaunlich nahe an der Oberfläche. Dies lässt sich daran erkennen, dass Beteuerungen nach der Wahl meistens dahingehend lauten, die gewählten Politiker würden irgendwie das ganze Volk repräsentieren. Manche mit einer idealtypischen Mehrheit (meistens freilich mit einer faktischen kleinen Minderheit) in ihre Ämter entsandten Politiker verkünden es nach einer Wahl sogar lauthals: Nein, sie würden nicht nur ihre Wähler und deren Interessen vertreten, sondern auch die mit einbeziehen, die sie nicht gewählt haben. Präsidenten, Kanzler und Minister, sie alle agieren als Repräsentanten des ganzen Volks.
Die Verwandlung einer von einem größeren oder kleineren Teil der Wahlberechtigten gewählten Person in einen Repräsentanten des ganzen Volks ist ein überaus sonderbarer Vorgang, der seine Sonderbarkeit nur dadurch verlor, als er in der Demokratie täglich zelebriert wird: Das Wahlvolk ist an ihn gewöhnt. Der Politiker wird also von einem Teil des Volks gewählt, repräsentiert dann aber das ganze Volk einschließlich der ärgsten Gegner (und des uninteressierten Restes sowieso). Da müssten, wenn es mit ein wenig Logik zuginge, seine Wähler sich doch gelinde gesagt verarscht vorkommen.
Aber nicht nur das: Wenn es dem Politiker möglich ist, die Interessen des ganzen Volks zu erkennen und ihnen entsprechend zu handeln, macht es keinen Sinn, dass er sich der Wahl stellt. Stehen mehrere Kandidaten zur Wahl, die alle über diese recht sonderbare Gabe verfügen, die Interessen des ganzen Volks zu erkennen und zu repräsentieren, so würde es reichen, dass zwischen ihnen ausgewürfelt werden würde.
Freilich erwartet man von verschiedenen Kandidaten, dass sie nach erfolgter Wahl auch eine unterscheidbare Politik betreiben, denn ansonsten hätte das Wählen noch weniger Sinn. Das Gerede vom Interesse des ganzen Volks ist leer; es kaschiert, dass der Politiker im Sinne einer bestimmten Interessengruppe des Volks handelt. Die Behauptung, ein Einzelinteresse, bloß weil es zufällig die absolute – oder (meist nur) relative – Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erreicht, sei berechtigt, gegen ein anderes, in der Minderheit befindliches Interesse zu obsiegen, kann so wenig Rationalität beanspruchen, dass kaum jemand sie vorbringt.
Aber in welcher Weise repräsentiert ein gewählter Politiker das Interesse seiner Wähler? Nicht ohne Grund wird hier von Repräsentation und nicht Auftrag gesprochen. Einen bindenden Auftrag der Wähler gibt es nicht. Auch dabei geht die Demokratietheorie davon aus, dass dem Politiker die übersinnliche Gabe zuteil wurde, im Interesse seiner Wähler handeln zu können, ohne mit ihnen Rücksprache zu halten. Die Vorstellung der Repräsentation ist letztlich eine, die im Monarchentum gründet: Der weise Herrscher weiß um die Sorgen und Nöte seines Volks und handelt entsprechend gütig und umsichtig. Gott hat diese Gabe ihm in die Wiege gelegt.
Im Fall der Demokratie ist es nicht Gott, sondern die Mehrheit. Doch wenn bereits Gott sich in der Wahl seiner Repräsentanten oft genug irrte (das Alte Testament ist voll von derartigen Irrtümern), wie sollte die Mehrheit dann unfehlbar sein?
Dem Gewissen verpflichtet oder dem Wähler?
Noch vertrackter wird es, wenn wir uns die zweite Säule der Demokratietheorie neben der Repräsentation anschauen: das freie Mandat. Mit diesem Begriff ist gemeint, dass der gewählte Repräsentant nur seinem Gewissen verpflichtet sei, mithin weder seinen Wählern noch seiner Partei. Diese Regel der Demokratie findet ihren praktischen Sinn darin, dass sie den Abgeordneten vor Fraktionszwang schützen soll, denn ansonsten bedürfte es keiner größeren Zahl von Abgeordneten, sondern nur eines Vertreters jeder Partei, die einen ihrem Stimmenanteil entsprechenden Proporz an den Entscheidungen erhält. Das wäre eine finanziell durchaus günstigere Variante als die Riesenparlamente, und vermutlich entspricht das auch der Realität, trotz der vielen Abgeordneten.
Jeder weiß, dass sie abhängig sind von ihrer Partei, von ihren Posten her und finanziell sowieso. Ein Abgeordneter, der beständig die Disziplin seiner Partei verletzt, fliegt schneller aus dem Parlament als einer, der beständig gegen die Interessen seiner Wähler handelt. Doch Abgeordnete beteuern oft, dass sie die Interessen ihrer Wähler im Auge haben. Gleichwohl ermöglicht ihnen das freie Mandat, auch gegen sie zu verstoßen.
Wenn der Abgeordnete oder ein anderer per Wahl ins Amt gekommener Repräsentant des Staats ein freies Mandat hat und nur dem Gewissen verpflichtet ist, bedeutet dies im Klartext, dass er nach der Wahl und bis zur nächsten Wahl im Prinzip entscheiden kann, was er will.
Machen können, was man will, ist bezogen auf einen Herrscher das Willkürprinzip des Diktators (oder früher eben Fürsten bzw. Monarchen). Jemanden zu wählen, der dann machen kann, was er will, macht offensichtlich keinen Sinn.
Freilich gibt es eine Grenze der Willkür, das ist eben die nächste Wahl, in der die Wähler dem Abgeordneten, der seinem Gewissen folgend ihnen entgegen gehandelt hat, die Wiederwahl verweigern können. Hiermit wiederum wird das freie Mandat ausgehebelt.
Logisch gesehen ist ein anderer Aspekt wichtiger: Die Aufforderungen an den Gewählten, seine Wähler oder gar das ganze Volk zu repräsentieren, und die Regel, dass er per freiem Mandat nur seinem Gewissen folgen solle, stehen in einem absoluten Gegensatz zueinander, außer man ginge davon aus, das Interesse der Wähler und das individuelle Gewissen ihrer Repräsentanten seien stets deckungsgleich. Aber falls beide Aspekte stets deckungsgleich wären, würde es die Regel des freien Mandats nicht geben müssen.
Mehr noch: Indem die Regel des freien Mandats gesetzt wird, gibt die Theorie der parlamentarischen repräsentativen Demokratie implizit zu, dass die Mehrheit mitunter von dem abweichen kann, was ein aufrichtiges Gewissen als Recht erkennt. Zugespitzt gesagt: Man kann der Mehrheit nicht trauen.
Weitere Argumente wider die Demokratie in: Stefan Blankertz, Wider den Triumph repressiver Egalität: Zur Anatomie gekränkter Herrschaft, Berlin 2023.