Sein, Bewusstsein und ein bisschen Nihilismus

Wer da wen bestimmt – das Sein das Bewusstsein oder umgekehrt – ist vermutlich ebenso ungeklärt wie die Frage nach der Henne und dem Ei. Disruptive Ereignisse der Geschichte rufen oft einen plötzlichen Bewusstseinswandel hervor: 1919, 1945, 1989 – schon diese wenigen Daten der deutschen Geschichte belegen, dass die Niederlage eines Systems massiv auf das kollektive Bewusstsein einwirkt. 

Angefangen damit, dass keiner dabeigewesen sein will, dass das fatale Geschehen nur einer kleinen Minderheit der Herrschenden zugeschrieben wird – die im Extremfall dann einfach eliminiert wird –, bis hin zum Aufbrechen intellektueller und künstlerischer Möglichkeiten. Alles ist denkbar. Sicher war die Zeit der Weimarer Republik – bei allen unleugbaren Problemen – künstlerisch und vielleicht auch wissenschaftlich eine der produktivsten in Deutschland. Die Niederlage setzte Kräfte frei. 

Unbemerkt bleiben eher die massiven Veränderungen, die nicht vom Kanonendonner begleitet sind, wie zum Beispiel – ich nenne es so – die „Revolution der 60er-Jahre“. Angestoßen durch das amerikanische Vietnam-Debakel und die Jugendrevolte dagegen, untermalt von den Beatles, Dylan und dergleichen, wurde ein tiefgreifender Mentalitätswandel angestoßen, der die vergangenen 50 Jahre wie eine hoffnungslos verstaubte und altbackene Epoche erscheinen ließ. 

Ob das nun gerechtfertigt war, sei dahingestellt – manches spricht auch für die 50er, zweifellos. Aber dahin war dahin. 

Ich war einmal Gast bei einem Essen, dessen Teilnehmer hauptsächlich Mitglieder einer russischen evangelischen Freikirche waren. Der anwesende Pastor, ein sehr charismatischer Mann, wetterte gegen die Frankfurter Schule: Diese sei schuld an allem gesellschaftlichen Elend der Gegenwart – sexuelle Libertinage, Zerfall der Familie, Korruption der Gesellschaft überhaupt. All das zurückgeführt auf ein paar greise Häupter, die von Frankfurt in die USA und wieder zurückgewandert seien – von denen einer, Adorno, sich hauptsächlich als Musiktheoretiker mit schwer verständlicher Diktion hervortat, ein anderer mit dem Versuch, die kollektiven Ursprünge des Faschismus psychoanalytisch zu erklären oder die „vaterlose Gesellschaft“ zu beschreiben oder den Verlust des historischen Bewusstseins infolge des Verblendungszusammenhangs der Medienindustrie. All das in einer Sprache, die deutlich hermetisch ist – also kaum zum Frühstücksei genießbar. Eine nicht uninteressante Melange aus kommunistischer und psychoanalytischer Theorie, getragen von einem gewissen Freiheitspathos, auch wenn das in der Praxis oft nur das Wuchern der Haartracht, Verwirrung im Liebesleben und Löcher in der Hose zur Folge hatte. 

Schon damals konnte man bezweifeln, ob die vorgeblichen Adepten dieser Schule ihre Texte überhaupt verstanden – oder ob der Sinn nur im Drogennebel auftauchte, was nicht an den Texten lag, sondern eher an den psychotropen Substanzen. Ganz nebenbei: Könnte nicht schon die Einführung der „Pille“ da mehr bewirkt haben, als ein paar remigrierte Denker? 

Wie gesagt: kein Krieg, nur Demonstrationen, wenige Schüsse. Die RAF kam später – damals reichten Wasserwerfer aus, um die Straße zu räumen. Oder eben nicht. Das Phänomenale war: Das „alte“ System kapitulierte fast ohne Widerstand. Man schämte sich der ungloriosen Vergangenheit vor ’45, gab Ämter und Posten auf, reformierte, was das Zeug hielt – rückblickend sicher nicht besonders glücklich, aber Widerstand war wenig. Auch, weil die Exponenten der Revolution – wie Dutschke – so unrecht nicht hatten und fast in ein christliches Erlöserschema gedrängt wurden. Dass der ganze Impuls gewissermaßen im Sande verlief, ist eine andere Sache. 

Die Mutation der Grünen zum Beispiel – von den Beuys’schen Forderungen nach Volksabstimmungen und direkter Demokratie hin zur heutigen Partei der Kriegsbefürworter und „Spezis“ – ist ein schlagendes Beispiel dafür. Mit dem Neuen lässt sich eben immer Geschäft machen, und die Löcher in den Hosen wurden schon in Bangladesch appliziert. 

Aber: Für einen Moment bestimmte eindeutig das Bewusstsein das Sein. Seinsmäßig war man nach ’45 wieder zu bescheidenem Wohlstand gelangt – um nicht zu sagen: Das bundesrepublikanische Leben war freier und unkomplizierter als heute. Die Sumpfblüte des sozialistischen Denkens wuchs auf einem wachsenden ökonomischen Überschuss, den man noch glaubte verteilen zu können. Und Bildung war nicht mehr bloß Ausbildung. 

In gewisser Weise war es eine Kulturrevolution – nicht wie die maoistische, aber ebenso tiefgreifend und erfolgreich. Nicht einmal der eingezäunte Osten blieb davon unberührt. Zwar war der Prager Aufstand erfolglos, aber die letzten Tage des Ostblocks waren eingeläutet. 

Fassen wir zusammen: Manche Begriffe der Frankfurter waren gar nicht so schlecht: Marcuses „Kulturindustrie“ und der „Verblendungszusammenhang“ könnten uns bekannt vorkommen. Psychologische Erklärungen wie kollektive Traumaepigenese für die allgegenwärtige Russophobie oder die Frage nach der Massenlethargie der Deutschen angesichts eines immer repressiveren Staates – das ist alles nicht ganz unintelligent. Aber vielleicht erwacht angesichts einer doch immer deutlicher werdenden Verknappung der Seinsressourcen am Ende wieder einmal das Bewusstsein. Zu hoffen wäre es.

Ansonsten ist das Frankfurterschulenbashing ein typisches Blamegame, als ob linke Politik in Westeuropa je entscheidenden Einfluss gehabt hätte. Tiefer bohrt da der französische Denker Emmanuel Todd, der sich in einer bemerkenswerten Rede am 14.5.25 in Budapest so äußerte: 

ER habe, sagt er „eine Analyse der Entwicklung einer Religion dargelegt – von der ersten Phase einer aktiven Religion, mit gläubigen Bevölkerungen, die die sozialen Werte der Religion umsetzen; hin zu einer Phase, die ich „Zombie-Religion“ nenne, in der der Glaube selbst verschwunden ist, die sozialen Werte und der Moralkodex der Religion jedoch weiterhin bestehen; und schließlich zur Nullphase, in der nicht nur der Glaube verschwunden ist, sondern auch die damit verbundenen sozialen und moralischen Werte sowie das Rahmenwerk und die Bildungssysteme, die sie stützten. Im Fall der USA muss man, um die Hypothese zu akzeptieren, dass das Land die Nullphase erreicht hat, verstehen, dass die neuen amerikanischen Religionen – insbesondere der Evangelikalismus – keine Religionen mehr im klassischen Sinne sind: Sie sind nicht mehr einschränkend und haben sich in etwas völlig anderes verwandelt.

Das war also meine Sicht auf den Westen. Ich verwende ungern den Begriff „Dekadenz“, aber einige amerikanische Autoren haben das getan. Ich hatte diese ganze Abfolge klar vor Augen und war mir daher meiner Diagnose sehr sicher.

In meinem Buch La Défaite de l’Occident (2024; auf Deutsch: Die Niederlage des Westens) sprach ich auch über die amerikanische Gewalt, die amerikanische Vorliebe für den Krieg, ja sogar über die unaufhörlichen amerikanischen Kriege. Ich erklärte diese Vorliebe mit einem religiösen Vakuum, das Angst nährt und zur Vergöttlichung einer Art Leere führt. Mehrmals im Buch verwende ich den Begriff Nihilismus. Doch was ist Nihilismus?

Nihilismus entsteht aus einem moralischen Vakuum. Es ist das Streben danach, Dinge zu zerstören – Individuen zu zerstören und sogar die Realität selbst. Hinter den etwas verrückten Ideologien, die kürzlich in den Vereinigten Staaten und in Teilen des Westens aufgetaucht sind – ich denke dabei insbesondere an Ideologien wie den Transgenderismus, der auf der Möglichkeit besteht, das Geschlecht zu wechseln – sehe ich einen Ausdruck des Nihilismus. Solche Ideologien sind vielleicht nicht die gravierendsten Beispiele, aber sie sind dennoch Ausdruck von Nihilismus – ein Impuls zur Zerstörung der Realität.“

Die offiziellen Glaubensgemeinschaften hierzulande beschäftigen sich offensichtlich hauptsächlich mit dem Problem schwuler Tierpaare auf der Arche und zelebrieren Events mit geköpften Hühnern im Paderborner Dom. Da wird ein neuer Papst auch nicht viel ändern. Was bleibt da zu sagen: Man kann nur Todds Artikel empfehlen.

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