Der Vertrag als Dreh- und Angelpunkt des Statuarischen Rechts

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Protokolle der Aufklärung #44

„Das Menschenrecht schafft Freiheit, das Statuarische Recht schafft Frieden“ hieß es in meinem Sandwirt-Beitrag Naturrecht der Freiheit und Statuarisches Recht. Aber Frieden ist nicht von Natur aus da. Er „muss gestiftet werden“ (Immanuel Kant). Das Menschenrecht (Naturrecht auf Freiheit) lässt – wie wir a. a. O. gesehen hatten – eine Stifterfunktion zu. Es verlangt sie sogar, obwohl sie nicht durchweg freiheitsförderlich ist, sondern auch freiheitsberaubend sein muss. 

Die Grenze zwischen Freiheitsförderung und Freiheitsberaubung möglichst genau festzulegen, ist Aufgabe des Statuarischen Rechts. In einem schlüssig-human organisierten Rechtswesen – und nur um ein solches geht es uns hier – sind es vor allem die Vereinbarungen, die Recht schaffen. Das Sich-einig-werden mittels Vereinbarung ist das Kerngeschehen in einer freien Rechtsgemeinschaft.

In einer Gesellschaft ohne Rechtsdiktat gibt es nur zwei Wege, einer anderen Person Lebensmöglichkeiten zu eröffnen und damit Rechte zu schaffen: die Schenkung, z. B. anlässlich einer Kindesaufzucht oder einer Vererbung, und die Vereinbarung, z. B. anlässlich eines Tausches (Kauf/Verkauf), eines Verleihs, oder eines Kredits. 

Vertrag als dokumentierte Vereinbarung

Eine Vereinbarung erfolgt – wo die Moral noch intakt ist – auf der Basis von Treu und Glauben, d. h. konkret: von mündlicher Absprache. Heute – nach mannigfacher Erfahrung – wissen wir: Mündlichen Absprachen fehlt eine gewisse Konsistenz. Die Konsistenz lässt sich steigern durch die schriftliche Abfassung des Vereinbarten – in Form eines Vertrags. 

Im Grunde kann man in jeder Vereinbarung einen Vertrag sehen. Wir sprechen aber erst dann ausdrücklich von Verträgen, wenn etwas Schriftliches vorliegt, also ein Dokument. Verträge sind verbriefte Vereinbarungen. Als solche sind sie symbolische Objektivationen von Geistesakten auf einem Trägermedium. Diese Art von Objektivation kommt übrigens nicht nur den Verträgen zu. In vielen anderen Bereichen können Objektivationen ebenfalls nur symbolisch erfolgen: in Gestalt des gesprochenen oder geschriebenen Worts.

Die bindende Macht der Verträge erwächst aus der Beweiskraft des Schriftlichen. Man sagt zwar, ein Vertrag wird abgeschlossen, um sich zu vertragen. Dem ist nicht zu widersprechen. Denn ein Vertrag ist, selbst wenn es oft aufs erste nicht so aussieht, ein Friedensbeschluss. Das wahre Motiv für die schriftliche Abfassung einer Vereinbarung ist jedoch der mögliche Streit, verursacht durch Vergessen oder Betrug. 

Beim Streit geht es darum: Was war nachweisbar vereinbart? Der Nachweis ist deshalb wichtig, weil das Vereinbarte sich auf Zukunft bezieht, oft sogar auf eine sehr ferne Zukunft. Dann ist es gut, die Abmachung liegt als intersubjektiv wahrnehmbares Objekt vor, in Form eines Dokuments. 

Gleiches gilt für die Schenkung. Um zu verhindern, dass der Schenkende oder seine Erben die einmal erfolgte Hergabe rückgängig machen wollen oder dass dieser Akt angezweifelt wird, ist hier oft ebenfalls ein Dokument erforderlich.

Das Geschehen um die Verträge ist uns im Großen und Ganzen so geläufig, dass wir in den allermeisten Fällen Vertragsabschlüsse schlicht vollziehen, ohne dass uns die Wesensstruktur des Vorgangs bewusst ist. Oft machen wir uns nicht klar, dass unser gesamtes Erwachsenenleben getragen ist von einem vielfach verwobenen Geflecht von Vereinbarungen und Verträgen. 

Im Erwachsenenalter schließt der Mensch Arbeitsverträge (Tausch Lohn/Gehalt gegen Arbeitsleistung), Kaufverträge (Tausch Sachgüter gegen Geld), Mietverträge (Tausch Wohnrecht gegen Mietzins, manchmal auch Wohnrecht gegen Hausmeisterdienste), Versicherungsverträge (Tausch Sicherheit gegen Beitrag) usw. Schon beim Betreten eines Supermarkts begibt er sich in ein Vertragsverhältnis. Das sollte ihm spätestens klar sein, wenn er an der Kasse steht.

Vertrag und Kompromiss

Schenkungen und Verträge gewähren Rechte. Rechte legen bestimmte Lebensmöglichkeiten der Verkehrsparteien zulasten des jeweiligen Gegenüber fest. Während bei einer Schenkung die Gewährung einseitig (monolateral) ist, ist sie beim Vertrag zweiseitig (bilateral). 

Bei einer Gewährung per Geschenk wird etwas geleistet, ohne eine Gegenleistung zu erwarten bzw. zu erhalten. Der Schenkende setzt sein Vorhaben unabhängig vom Adressaten allein in Gang. Es muss dabei weder Verhandlung noch Einigung geben. Höchstens kann der Adressat das Geschenk zurückweisen. 

Bei der Gewährung per Vertrag sind die Verhältnisse nicht so trivial. Hier spielen zwei Arten des zwischenmenschlichen Verkehrs eine Rolle: die Kommunikation einerseits und das damit intendierte Handeln andererseits. 

Will ich meine Lebensverhältnisse aufgrund neuer Verträge ändern, muss ich mir Leute suchen, die das für sich ebenfalls wollen und die einen Gefallen an meinen Offerten finden. Die dafür erforderliche Kommunikation erfolgt in Form von mehr oder weniger klar formulierten Redeweisen, etwa der Art:  „Ich gebe Dir das und das; dafür gibst du mir so und so viel von dem. Bist Du damit einverstanden? Können wir auf dieser Basis handelseinig werden?“  

Verträge kommen nur zustande auf der Basis kommunizierter Vereinbarungsbereitschaft aller am Vertrag Beteiligten. Es müssen Übereinkünfte erzielt werden. Dabei muss es zu einem Kompromiss kommen. Bei den dafür erforderlichen Verhandlungen ist das Ich mit dem Du und dessen Willen unmittelbar konfrontiert.

Der Kompromiss kommt oft zähneknirschend zustande. Wegen der knirschenden Zähne vergisst man leicht, dass damit eine auf Gegenseitigkeit gegründete Einigkeit geschaffen wird. Jeder Vertragspartner muss Federn lassen – um des lieben Friedens willen. Verträge sind auch dann freie Abmachungen mit dem Ziel eines Friedensschlusses, wenn der durch sie erzielte Kompromiss schmerzlich ist. 

Bei einem Kompromiss haben zwar immer jene die besseren Karten, die am wenigsten auf ihn angewiesen sind. Daraus darf aber keine „Vertragsknechtung“ abgeleitet werden. Denn jeder Vertragspartner kann zu einem Kompromissvorschlag auch Nein sagen. Die Rede von „Vertragsknechtung“ ist nur sinnvoll, wenn ein Monopolist Vertragspartner ist, und zwar dann, wenn dieser eine für das individuelle Leben unabdingbare Leistung erbringt: als obligater Monopolist. 

Rechte und Pflichten

Das Ziel der Bemühung um einen Vertragsabschluss ist der Erwerb des Versprechens eines anderen, dies oder jenes zu leisten, evtl. auch zu unterlassen. Der Vertrag ist – im wörtlichen Sinne von contractus – eine Zusammenziehung gegenseitiger Versprechen. Man kann in jedem Vertrag die symbolische Vergegenständlichung von Versprechen sehen. Versprechen sind keine physischen Ereignisse. Sie sind nichtphysische Geistesakte. Nichtphysische Akte kann man auch metaphysisch nennen. Metaphysisches lässt sich nur symbolisch objektivieren und auf diese Weise, z. B. in Form eines Dokuments, „physisch machen“.

Mit seinem Versprechen setzt das Ich irgendwelches Recht für andere, indem es die dem Recht korrespondierende Pflicht übernimmt. Das durch die Pflicht ermöglichte Recht legt den Freiraum fest, innerhalb dessen jeder Mensch sein Leben entfalten, d. h. das Menschenrecht (Freiheitsrecht) ausleben kann. Nicht die sog. „Rechtsnormen“, sondern die im Vertrag festgeschriebenen Pflichten sind die Normen, die das künftige Handeln der Vertragspartner bestimmen.

Rechte und Pflichten korrespondieren miteinander. Was des einen Recht, ist des anderen Pflicht. Die Pflichten der einen Vertragsparteien sind zugleich Rechte für die anderen. Pflichten werden oft als etwas Negatives wahrgenommen. Für den, der dadurch Rechte erhält, sind sie durchaus positiv.

Im Rechtsleben gibt es nur Frieden durch die Zustimmung derjenigen, welche die dem Recht korrespondierende Pflicht erfüllen müssen. Die Zustimmung werden sie geben, wenn sie ihrerseits ein erstrebtes Recht von ihrem Gegenüber erhalten. Je weiter eine Gesellschaft sich leistungsmäßig differenziert, desto mehr gewinnt die Zustimmung eines Du zum Recht eines Ich an Bedeutung, desto mehr Pflichten entstehen. 

Ein Kriterium für die Unterscheidung von (positivem) Recht und Menschenrecht ist die Verklammerung von Recht und Pflicht. Beim Menschenrecht und seinen Derivaten handelt es sich um pure Rechte, um Rechte ohne Pflichten (dutyless rights). Als pure Rechte binden sie niemanden, verpflichten zu nichts. Angeblich sollen sie die Obrigkeit einer Gesellschaft verpflichten, indem sie diese dazu bringt, der Lebensentfaltung ihrer Untergebenen Freiraum zu gewähren. Aber wer zwingt die Obrigkeit dazu, dies zu tun? – Hier bleibt nur die Hoffnung, dass sie beliebt, es zu tun. Eine Pflicht dazu gibt es nicht.

Die Propagandisten des Menschenrechts bauen auf eine gewisse Liebenswürdigkeit der Obrigkeit ihren Untergebenen gegenüber. Sie setzen leichtsinnigerweise die Einklagbarkeit dieses „Rechts“ voraus. Aber die Einklagbarkeit (z. B. der sogenannten „Grundrechte“ in der deutschen Verfassung) ist pure Fiktion. Denn wo sind die Pflichten, die beim Menschenrecht verletzt werden und bei denen man gegebenenfalls klagen könnte?

Auf das Menschenrecht kann man sich nur berufen. Denn für eine Klage bedarf es ganz bestimmter, und zwar möglichst schriftlich fixierter konkreter Pflichten, so dass man hier Rechte einfordern kann. Pflichten findet man aber nur im Bereich des Statuarischen Rechts und nicht beim Menschenrecht – als einem puren Freiheitsrecht.

Vertrag und Markt

Der Vertrag ist der Berührungspunkt zwischen Wirtschaft und Recht. An diesem Punkt fließt das Statuarische Recht als gesonderter sozialer Bereich aus der Ökonomie heraus. Es bleibt der Ökonomie auch nach dieser Ausgliederung eng verbunden. Im Rechtscharakter des Marktes und in der Marktbezogenheit des Rechts ist die enge Verklammerung von Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft begründet. Deutlich erkennbar ist das beim Ablauf von Tauschhandlungen (Käufen bzw. Verkäufen), die in der Regel vertragsbasiert sind.

Die drei Verkehrsformen des Marktes – Tausch, Verleih und Kredit – bestehen aus zwei Teilen: ein Geben und Nehmen einerseits und ein Geben und Nehmen andererseits (s. mein Sandwirt-Beitrag „Der Tausch als binäres Zahlungsereignis“). Bei jedem dieser Teile findet die Übergabe eines Gutes statt. Die Übergabe funktioniert nur, wenn die Güter einerseits herausgegeben und andererseits angenommen werden. Das setzt bei den Handelspartnern eine beiderseitige Begehrlichkeit voraus – materiell-physischer Aspekt des Handelsakts – und eine beiderseitige freie Zustimmung – geistig-metaphysischer Aspekt des Handelsakts. 

Der metaphysische Aspekt verlangt, dass alle Differenzen, die das Geschäft verhindern könnten, ausgeräumt sind. Ist das der Fall, mündet die Handelsabsicht in einen Vertrag, also in ein Dokument über zwei metaphysische Akte (zwei Versprechen). Hier werden Güternutzungsrechte gegenseitig festgelegt. Im Vertrag ist auch geregelt, nach welchen Modalitäten der Handel vonstattengehen soll. Schließlich kommt es zum Handelsvollzug: physische Hergabe einer Sache gegen Erhalt einer anderen. 

Die zwischenmenschlichen Aktivitäten in einer entwickelten Gesellschaft, vor allem der Marktverkehr, beinhalten also stets eine rechtliche Komponente. So sind Tausch, Verleih und Kredit auch Rechtsakte. Das (metaphysische) Rechtsgeschehen ist Teil des (physischen) Marktgeschehens. Immer ist ein Tausch verbunden mit einem Kompromiss, also einem Rechtsakt. Das Gleiche gilt für den Verleih und für den Kredit. Hier ist die enge Verklammerung von Recht und Wirtschaft sogar noch besser zu erkennen – wegen der bei beiden vorauszusetzenden Trennung von Besitz und Eigentum (s. meinen Sandwirt-Beitrag „Vernachlässigte Verkehrsformen des Marktes“). 

Die Vertragsbürgschaft

Ein Vertrag hat zunächst zwei Parteien: den Anbieter eines Rechts (den „Promittenten“) und den Abnehmer und Nutzer dieses Rechts (den „Promissar“). Beide Vertragsparteien haben diese Rollen gleichzeitig inne. Denn im Unterschied zur Schenkung erwächst aus einem Vertrag inter pares gültiges Recht.

Bei jedem Vertrag ist aber – indirekt und oft unbemerkt – noch eine dritte Partei beteiligt, der sogenannte „Kavent“. Das ist derjenige, welcher die Realisierung der im Vertrag abgegebenen Versprechen verbürgt. Weil die Menschen nur Menschen sind und keine Heiligen, bedarf es für jeden privat geschlossenen Vertrag eines Bürgen. „Niemand hat ein Recht auf irgendeinen bestimmten Sachverhalt, wenn es nicht irgendjemandes Pflicht ist, ihn zu garantieren“ (Friedrich von Hayek).

In einer schlüssig-human organisierten Rechtgemeinschaft schließt jeder Rechtsmündige zweierlei Art von Verträgen ab: einmal privat mit irgendeinem Mitmenschen, zum anderen öffentlich mit dem Vertragsbürgen. Öffentlich heißt der zweite Vertrag, weil er für jeden mündigen Rechtsgenossen derselbe ist: Rechtsschutz gegen Gebühr. Die Gebühr ist unterschiedlich, je nachdem wie umfangreich der Rechtsschutz sein muss.

Der private Vertrag schafft das Recht, der öffentliche schützt es. Der private wird jeweils aus aktuellem Anlass abgeschlossen, der öffentliche muss schon früher in Kraft treten, und zwar mit Eintritt in die Rechtsgemeinschaft. Wer den öffentlichen Vertrag nicht abschließt, genießt keinen Rechtsschutz. Dann wären seine privatvertraglich erworbenen Rechte ohne jeden Wert. Sie wären jeder Wegnahme und jedem Raub ausgesetzt, es sei denn, der Rechtsinhaber könne sie selbst verteidigen. In einer entwickelten Rechtsgemeinschaft gelingt eine umfassende Selbstverteidigung in der Regel nicht. Jedes Mitglied der Gesellschaft muss im Ernstfall (z. B. Vertragsbruch seines Partners) auf das Leistungspotential des Bürgen zurückgreifen können. Das kann es nicht, wenn es keinen Vertrag mit diesem hat. 

Die Vertragsbürgschaft wird bei vertragstheoretischen Erörterungen gern unterschlagen, wohl deshalb, weil hier oft Zwang und Gewalt ins Spiel kommen muss. Und Zwang und Gewalt sehen viele nicht gern. Sie blicken lieber auf den Frieden, den Verträge stiften sollen.

Der Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt die Buchreihe „Die freie Gesellschaft und ihre Entstellung, Band 1-4“ veröffentlicht.

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