War die Verfassung der USA antiliberal?

Das System der demokratischen Widersprüche #8

Die These, dass die Verfassungsgebung der USA ein Putsch gewesen sei, widerspricht der Standarderzählung, die die Historiographie beherrscht. Murray Rothbard (1926-1995) arbeitete sie im posthum erschienenen fünften Band der Geschichte der nordamerikanischen Kolonien «Conceived in Liberty» akribisch aus. Sie ist darum für den Diskurs über die Problematik der Demokratie so wichtig, weil in der Verfassungsgebung der USA sich zum einen zeigt, dass der (konsequente) Liberalismus bereits gegen Ende des 18. Jahrhundert besiegt war, und weil sie zum anderen ganz allgemein die liberale Idee in Zweifel stellt, den Staat könne man reduzieren auf das Minimum eines «Nachtwächters».

Der Unabhängigkeitskrieg, den die dreizehn konföderierten Länder (States) Nordamerikas gegen die britische Kolonialmacht gewonnen hatten, hinterließ Verwüstungen und Staatsschulden in gigantischen Höhen, in den Ländern stand der Freiheit der Siedler und Bauern eine sich verfestigende Oligarchie entgegen, zusammengesetzt aus Großgrundbesitzern, in den Südstaaten mit Sklaven bewehrt, mächtigen Finanziers und privilegierten Manufakturen. Es kam zu Unruhen bei den drangsalierten Bauern. Eine Gruppe von Nationalisten, die sich sinnwidrig Föderalisten (Federalists) nannte, wollte für die Sicherung von Handelsprivilegien, Sklaverei sowie die Möglichkeit, Außenpolitik aggressiv (expansiv) zu betreiben, eine starke Zentralregierung errichten. Der Kampf um die Verfassung (Constitution) dieser Zentralregierung entbrannte, durch welche der lose Staatenbund, die Konföderation, in eine Union verwandelt werden sollte. 

Rothbard beschreibt diesen Kampf detailreich und spannend wie einen Krimi; am Ende aber gewinnen leider die Bösen – dies kann die beste Analyse nicht rückgängig machen. Dabei konzentriert Rothbard sich auf die ökonomische Basis sowohl der einzelnen Akteure beider Seiten als auch der sie jeweils unterstützenden Bevölkerungsteile. Dieses Vorgehen in der Darstellung enthält eine erste wichtige theoretische Implikation: Bei demokratischen Prozessen handelt es sich, anders als Jean-Jacques Rousseau es meinte, nicht um die Frage, was für das Allgemeinwohl das Beste sei («volonté générale»), sondern um ein Aushandeln zwischen verschiedenen ökonomischen Interessen («volonté de tous»).

Verhandlungen um die Verfassung

Zu Beginn der verfassungsgebenden Versammlung schlug ein Antifederalist vor, die Sklaverei abzuschaffen oder wenigstens den Import von Sklaven zu besteuern, denn Sklaverei sei «nicht vereinbar mit den Prinzipien unserer Revolution und des amerikanischen Charakters unwürdig». Die Federalists hingegen verteidigen den Sklavenhandel, und sie erwiderten, dass «Religion und Menschlichkeit nichts mit der Frage der Sklaverei zu tun haben – Interesse allein ist das regierende Prinzip von Nationen». Demnach musste das moralische Prinzip laut der Ansicht der Federalists über den Haufen geworfen werden für hergebrachte ökonomische Interessen; oder, eher noch, das hergebrachte ökonomische Interesse erhoben sie zum Status eines moralischen Prinzips, welches alle anderen Erwägungen außer Kraft setzt.

Im Lager der Nationalisten herrschte freilich keine einheitliche Interessenlage. Die Sklavenhalter der Südstaaten beispielsweise fürchteten, dass die Nordstaaten qua zentralstaatlicher Verfassung der zu installierenden Union die Sklaverei würden ganz abschaffen wollen, dass sie den Handel oder den Import von Sklaven zumindest besteuern würden, um damit die Einnahmen zu generieren, mit denen sich die Verwaltung des Zentralstaats finanzieren lässt, und dass die Maßnahmen der Nordstaaten zur Privilegierung ihres Handels (namentlich Schutzzölle und Bevorzugung einheimischer Schifffahrt) die Staaten Europas zu solch einer Gegenwehr reizen, die den südstaatlichen Exporten (namentlich von Tabak und Baumwolle) schadet. Diese Handelsprivilegien freilich stellten das hauptsächliche Anliegen der nordstaatlichen Nationalisten für die Formierung der Union dar.

Um die südstaatlichen Sklavenhalter zum Mitmachen bei der Koalition für die Verfassung zu gewinnen, boten die nordstaatlichen Nationalisten an: Festschreibung der Sklaverei, keine höheren Steuern auf Sklavenhandel und -import als auf andere Güter, Verpflichtung der Bundesländer, in denen die Sklaverei abgeschafft war, entlaufene Sklaven dennoch zurückzuführen, Anrechnung der Sklavenpopulation zu drei Fünftel auf die Bevölkerung. Die letzte machtlogisch folgerichtige, sonst aber in jeder Hinsicht abwegige Bestimmung hieß, dass die Sklavenhalter sowohl auf der Ebene des Bundes als auch der betroffenen Länder «ihre» Sklaven in demokratischen Prozessen «repräsentierten». Mit diesem Angebotspaket löste sich freilich nicht das Problem, welche Auswirkung die anvisierte Schutzzoll-Politik auf den Export der Südstaaten haben würde, geschweige denn, was ein militärisches Vorgehen gegen Spanien, gegen Frankreich und vor allem gegen das Britische Empire bedeutete – eine aggressive Außenpolitik gegen die genannten Mächte war ebenfalls im Sinne der Nord-Nationalisten. 

Die zwei Knackpunkte der südstaatlichen Sklaverei sowie der Auswirkung nordstaatlicher Zoll- und aggressiver Außenpolitik auf die südstaatlichen Exporte lösten die Nationalisten damals nicht, und sie explodierten sieben Jahrzehnte später in einem blutrünstigen Bürgerkrieg. Eine weitere Spaltung im Lager der Nationalisten war die Befürchtung der kleineren Bundesländer, durch die großen Bundesländer dominiert zu werden. Diese Spaltung kitteten die Nationalisten, indem sie neben dem vom ganzen Volk zu wählenden Repräsentantenhaus einen Senat installierten, in welchem jedes Bundesland unabhängig von seiner Bevölkerungszahl eine gleiche Stimme haben sollte.

Die Bauern im Westen waren für die Nationalisten eine recht schwierige Zielgruppe. Jedoch konnten diejenigen Pioniere geködert werden, die eine Erweiterung der Siedlungs- und Handelsgebiete gegenüber den Spaniern (sie beherrschten den Mississippi), gegenüber den Franzosen, gegenüber dem Britischen Empire und nicht zuletzt gegenüber den Indianern wünschten. Wie anders als mit einer starken zentralstaatlichen Armee war das zu bewerkstelligen? Zu der Ende der 1780er Jahre aktuellen Auseinandersetzung mit den Creek-Indianern in Georgia findet Rothbard drastische Worte: Nachdem Siedler zunächst rücksichtslos in indianisches Land eingedrungen waren und es besiedelt hatten, sowie herausfinden mussten, dass sie mit den Konsequenzen ihres Tuns nicht selber zurande kamen, schrien sie nach Hilfe durch die Zentralregierung; getreu dem Motto: «Sollen doch andere Leute, die Steuerzahler anderer Regionen oder gar anderer Staaten, gezwungen werden, uns zu retten!»

Schulden, Steuern und Rebellen

Eine damals drängende (aber mittelfristig gesehen vorübergehende) Frage war die des Umgangs mit den aus dem Unabhängigkeitskrieg stammenden Schulden auf der Ebene der Bundesländer und der Konföderation; wobei die Schuldenlast der einzelnen Bundesländer unterschiedlich hoch war. Diese Schulden bestanden aus den öffentlichen Anleihen zur Kriegsfinanzierung und darüber hinaus aus Papieren zum Soldersatz, wenn keine Geldmünzen zur Hand waren, um die Soldaten zu entlohnen. Zur Rückzahlung der Schulden gab es drei Methoden, von denen jede in dem einen oder anderen Fall Anwendung fand: 1. Annullierung. 2. Rückzahlung der Nennsumme – oder eines Teils von ihr – in Münzen (damit ­waren Münzen in Edelmetall, Silber und Gold, gemeint). 3. Rückzahlung der Nennsumme in Papiergeld (dieses Papiergeld sollte wohlgemerkt kein gesetzliches Zahlungsmittel bei privaten Schulden sein). Von den Methoden bedeuteten alle außer der ersten eine enorme Belastung durch hohe Steuern, unter welcher speziell die arme Landbevölkerung zu leiden hatte; die zweite war selbstredend die belastendste unter den Methoden.

Dagegen waren sowohl die öffentlichen Anleihen als auch der Sold-Ersatz inzwischen aus den Händen der ursprünglichen Kreditgeber in die Hände von Spekulanten übergegangen. Diese Spekulanten hatten die Schuldscheine in der dem Krieg folgenden wirtschaftlichen Depression teils zu Spottpreisen aufgekauft. Freilich spekulierten diese Spekulanten keineswegs auf Marktveränderungen (ein unerlässlicher Beitrag zum Funktionieren differenzierter Märkte), sondern auf eine bestimmte Rückzahlungsmethode – am liebsten war ihnen selbstredend die Methode der Rückzahlung der Nennsumme in Münzen – der Bundesländer, über die politisch entschieden wurde. Die Nationalisten strebten an, dass die auf dem Markt nahezu wertlosen Schuldpapiere der Konföderation zum Nennwert eintauschbar seien, und machten darüber hinaus Stimmung für die Maßnahme, dass die Zentrale die Schulden der Bundesländer übernehmen solle. Dies geschah zum Wohl jener Spekulanten, welche die Schuldscheine übernommen hatten, und sollte ein Hebel sein, um der Zentrale eine eigene Steuerhoheit zuzuschanzen.

Die durch die Nachkriegsdepression und enorme Steuerlast gebeutelten Bauern rebellierten. Am bekanntesten ist Daniel Shays’ Rebellion 1786-1787 im Westen von Massachusetts. Die Forderung der bewaffneten Anhänger von Shays nach Schuldenerlass und Papiergeld haben Historiker dazu geführt, dessen Rebellion als eine Art frühsozialistischen Vorboten zu klassifizieren. Rothbard rückt diesen Eindruck gerade. Es war eine Rebellion gegen Steuern und gegen eine Finanzoligarchie, die für sich selber beste Bedingungen qua Staatsgewalt schaffte, während sie Kleinschuldner und vor allem Säumige beim Zahlen der Steuern rücksichtslos verfolgen ließ; das Ziel der Rebellion bestand dagegen nicht in der Aufhebung des Privateigentums, der generellen Einführung von Papiergeld und der Annullierung auch jedweder individueller Schulden (vielmehr vor allem von Steuerschulden). Die Rebellionen von Shays und allen anderen in derselben Zeit wurden niedergeschlagen (die meisten Rebellen freilich vergleichsweise milde bestraft).

Nach der Mitte der 1780 er Jahre scheuchten neben Shays’ Rebellion weitere Rebellionen die Finanzoligarchie auf. Zum einen realisierte die Finanzoligarchie, dass es einer starken, stehenden Bundesarmee bedarf, um die Gefahr von weiteren Rebellionen zu bannen, sowie zum anderen, dass die Union die Kriegsschulden zentralisieren und die Steuern, um sie zu begleichen, gleichmäßig verteilen muss, wenn in Zukunft Aufstände verhindert werden sollen. 

Interessengruppen

Während bei der Partei der Federalists (Nationalisten) die Interessen der Wählerschaft und ihrer Repräsentanten übereinstimmte, war das bei denen, die die Verfassung und die Einrichtung eines Zentralstaats («Union») ablehnten, den (liberalen) Antifederalists, nicht der Fall. Hier zeigt sich die Wichtigkeit von Rothbards Unterscheidung zwischen der ökonomischen Analyse von Führerschaft und Wählerschaft. Die Opfer nationalistischer Maßnahmen, die überwiegende Bevölkerung, egal ob im Norden, Westen oder Süden, die Bauern und die Siedler (Sklaven und Indianer hatten keine Stimme), waren ärmer, lebten verstreuter und hatten weniger Bildung als die nationalistische Bevölkerung der Sklavenhalter, der Großgrundbesitzer, der städtischen Händler, der Fabrikanten. Die Führer der antifederalistischen, liberalen Opposition standen soziökonomisch ihren nationalistischen Gegnern oft näher als der Wählerschaft. 

Die wirtschaftliche Verwundbarkeit antifederalistischer Delegierter, die nicht der Oberschicht entstammten, ist an folgender Begebenheit bei der Versammlung zur Ratifizierung der Verfassung in Massachusetts 1887 abzulesen: Die Masse der antifederalistischen Delegierten war arm – und bei Geld hörte der Spaß auf. Das Land erstattete ihnen die Reisekosten, aber nach der Ankunft eröffnete der Finanzminister von Massachusetts ihnen, dass für die Rückreise leider keine Mittel mehr zur Verfügung stünden. Hier sprangen Federalists großzügig ein, ihnen aus der Patsche zu helfen. Einer notierte: «Wir gaben bekannt, dass es bezüglich der Reisekosten kein Problem geben werde, sofern es zur Zustimmung zur Verfassung kommt. Wenn nicht, müssten sie sich allerdings an ihren Herrn Finanzminister halten.» 

Und dennoch fiel das Ergebnis denkbar knapp aus: Nur 53 Prozent der Delegierten von Massachusetts stimmten für die Verfassung, keine bei der Entscheidung von solch großer Tragweite solide Basis.

Die Fürsprecher der liberalen Verfassungsgegner stammten oft genug aus der Oberschicht und gelangten zu ihrer Position eher aus politisch-ethischer Überzeugung und Liebe zur Freiheit als aus ihrer ökonomischen Interessenslage heraus. Darum waren sie weniger fanatisch, denn sie hatten nicht so viel zu verlieren wie ihre nationalistischen Widersacher. Druck durch Nationalisten, mit denen sie auf beruflicher, sozialer und wirtschaftlicher Ebene täglichen Umgang hatten, und Lockung mit lukrativen Posten in der neu zu installierenden Zentralregierung ließen manch einen der opportunistischen Fürsprecher der Antifederalists die Seite wechseln, wie Rothbard in vielen Fällen nachzeichnet.

Besonders interessant sind Fälle, wo ein antifederalistischer Protagonist seine Position änderte, weil in seiner Wählerschaft ein Sinneswandel stattgefunden hatte. Die Handwerker von New York City beispielsweise schwenkten auf die Linie der Nationalisten um, denn ihnen schien die Schutzzollpolitik zu nützen, und ihr Repräsentant folgte ihnen nach. 

Rothbards marxistische Analyse der Interessenlage: Diese Handwerker waren keine Arbeiter im Sinne von Proletariern, sondern Kleinbürger, d.h. Geschäftsinhaber und Werkstattbesitzer. Nach der Revolution und vor allem während der Depression der 1780er Jahre befanden die Geschäftsinhaber sich oft in einer Position unterhalb des Grenznutzens und waren nicht in der Lage, mit den Importen effizienter produzierter Güter aus England zu konkurrieren. Wie ineffiziente Unternehmer überall wandten sie sich vom freien Markt ab und dem Staatsapparat zu, um Privilegien zu ergattern – hier: Schutzzölle.

Es muss nur wie Demokratie aussehen …

Bundesland für Bundesland beherrschten die Federalists die Presse und die Post. Kritische Äußerungen zur Verfassung und Berichte über Erfolge der Antifederalists wurden unterdrückt, entweder gar nicht erst gedruckt oder vor ihrer Verschickung durch die Post herausgeschnitten, die Post von bekannten Antifederalists langsam oder gar nicht befördert. So endete der Kampf, wie er enden musste, mit einem Sieg der Verfassung, die schließlich von allen Bundesländern ratifiziert wurde – Rhode Island allerdings ratifizierte sie erst, nachdem diesem «Leuchtfeuer der Freiheit», wie Rothbard die kleine Republik liebevoll und ehrfürchtig nennt, eine militärische Intervention angedroht wurde, und trotzdem bloß mit der knappen Mehrheit von 34:32 der Delegierten. 

Rothbard: «Mit ihren Schutzzöllen, ihren nationalen Steuern, ihren Handelsprivilegien und Handelsrestriktionen, mit ihrer bereits geweckten Lust, den Boden Anderer um jeden Preis zu okkupieren und eine wichtige Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen, hätten die arroganten neuen Vereinigten Staaten niemals ein selbstständiges Rode Island in ihren Grenzen geduldet. Denn diese kleine Enklave würde allen Demokratien und der gesamten Welt als ein Leuchtfeuer der Freiheit dienen.»

Der Prozess der Verfassungsgebung in den USA ist, was die Demokratie (und die Theorie der Demokratie) angeht, ernüchternd. Rothbards kritische Haltung zur Demokratie steht außer Frage, dennoch deutet er hin und wieder an, das Verfahren der Verfassungsgebung sei «undemokratisch» gewesen, ganz so als ob ein demokratischeres Verfahren besser gewesen wäre. 

An einer Stelle votiert er für ein Rätesystem, also die Mandatsbindung an den Wählerauftrag. Die Mehrheit der Bevölkerung der amerikanischen Einzelstaaten war damals (vermutlich) gegen Verfassung und Installierung einer Zentralregierung. Deshalb mag man als ein Gegner der Verfassung empört sein über dieses undemokratische Verfahren und über die Machenschaften nationalistischer Federalists. Aber wäre die Verfassung (wäre der Zentralstaat) in Ordnung, sofern die Mehrheit sie (ihn) wollen würde (wie es heute zweifellos der Fall ist)?

Zuerst formuliert in: Stefan Blankertz, Nur ein altmodisches Liebeslied? Glanz und Elend des klassischen Anarchismus, Berlin 2023.

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