Die Obristen finden niemanden, der auf sie hört – ähnlich heißt ein bekanntes Werk des vor zehn Jahren verstorbenen kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez: „El coronel no tiene quien le escriba”. – Daran denke ich, wenn es um einen bestimmten Aspekt des Ukrainekriegs geht, nämlich um die tatsächliche militärische Stärke der beiden Kontrahenten. Wenn schon unsere Außenministerin Expertin für „Tierpanzer“ geworden ist und Herr Hofreiter die Eigenschaften diverser Granaten aus dem FF kennt, sollen auch die Gäste des Sandwirts mit einigen hier vom Mainstream abweichenden Informationen und Meinungen konfrontiert werden.
Klar ist, dass auf der einen Seite der Front nicht nur Russland steht, sondern mindestens auch China und der Iran, was definitiv vom abwartenden Wohlwollen des globalen Südens begleitet wird. Auf der anderen Seite steht der komplette sogenannte Wertewesten, vertreten hauptsächlich durch die USA und die NATO.
Nun fällt auf, dass gerade die westliche Politikerkaste dabei ist, „Kriegstüchtigkeit“, Aufrüstung und Unterstützung der Ukraine „as long as it takes“ zu fordern. Die Herren im amerikanischen Außenministerium werden medial hierzulande massiv unterstützt von Experten wie Herrn Masala, der Grünen-Spitze, Herrn Merz und nicht zuletzt durch die entsprechenden Damen: Strack-Zimmermann, von der Leyen sowie, wie im Fußball, zunehmend weibliche Expertinnen, Claudia Major und ihresgleichen.
Auffällig ist, dass eher Militärs – und dabei nicht die aktiven Generäle, die sich wohl noch ein Avancement zum Feldmarschall erhoffen – skeptisch sind. Wie häufig in der Szene sind die Skeptiker die fachkundigen Pensionäre, die nichts zu erwarten und nichts zu verlieren haben, wie die Generäle Kujat, Kaj-Achim Schönberg oder Erich Vad („Merkels General kam, sah und irrte: Jetzt will Vad schweigen“ schrieb die Berliner Morgenpost am 20.03.2023).
Klar, dass die pensionierten Zweifler von der Presse unter scharfen Beschuss genommen werden, das versteht sich von selbst. In den alternativen Medien – und ich rechne einen Teil von YouTube dazu – gibt es nun eine ganze Reihe von amerikanischen Ex-Colonels, die anscheinend noch über einige Expertise verfügen. Diese Expertise umfasst Kampfeinsätze im Irak oder in Afghanistan, Beraterposten in vergangenen Regierungen oder auch Aufgaben bei der CIA. Namen wären: Scott Ritter, Col. Wilkerson, Col. Shaffer, Col. Davis und Col. McGregor. Alles Leute mit erheblichem Erfahrungshintergrund, alle aus der zweiten Reihe der Entscheidungsträger, die aber doch Wesentliches zur brisanten weltpolitischen Lage zu sagen haben.
Hervorragend informiert auch der Schweizer Oberst Baud, weitgehend ausgewogen in seinem Urteil mit deutlichen Sympathien für die Ukraine der Österreicher Oberst Reisner. Obristen wohin man sieht und hört, alle etwas skeptisch, was den Ukrainekrieg angeht, bei den Amerikanern aber ausgesprochene Patrioten mit Tendenz zur republikanischen Partei für die der letzte vernünftige Präsident Ronald Reagan war. Und wohlgemerkt: In den Saaten wird das Prinzip des „Free Speech“ noch sehr unverblümt gehandhabt, nicht wie in unseren von Sprach- und Denkverboten eingehegten Medien.
Ich will mich hier nur auf zwei Aspekte konzentrieren, die den Analysen der Genannten gemeinsam sind: Erstens die Beurteilung der Lageeinschätzung, insbesondere durch die europäische Politik, als „completely delusional“. Zweitens eine Analyse der realen Fähigkeiten des amerikanischen Militärs, die nach Meinung der oben angeführten Herren massiv überschätzt werden.
Die Begriffe „Delusion“ oder „delusional“ würde ich mit „Realitätsverlust“ oder „illusionärer Einschätzung“ übersetzen. Folgt man den Presseberichten zum Ukrainekrieg über nunmehr einige Jahre hinweg, so sind diese geprägt von Fehleinschätzungen: Wunderwaffen als „Gamechanger“, bevorstehende erfolgreiche Gegenoffensiven der Ukrainer und nunmehr – da der bevorstehende Zusammenbruch der Front kaum mehr abzuleugnen ist – die Beschreibung der Lage als „stalemate“. Dies geschieht zusammen mit der Erwartung, dass Trump den gordischen Knoten einfach so für den Westen gesichtswahrend zerschlagen könnte, verbunden mit einer, ehrlich gesagt, irren Vorstellung einer demilitarisierten Zone, die von europäischen Truppen garantiert werden soll.
Mehr noch als hierzulande wird die Kriegstrommel in Frankreich und Großbritannien gerührt. Und wenn schon der Vormarsch der Russen eingestanden werden muss, dann doch unter der Behauptung irrsinniger Verluste an Menschen und Material. Der Jubel über die Kursk-Offensive scheint verhallt, aber es wird nach wie vor mit Zahlen operiert, – Gefallene oder Verwundete betreffend –, die von berufener Seite stark bezweifelt werden. Damit soll nicht gesagt werden, dass es keine erheblichen russischen Verluste gibt – nur die Relation scheint nicht zu stimmen. Das zeigt sich schon an der Forderung, dass nun auch die 18-jährigen Ukrainer an die Waffen sollen.
Gerade die Europäer tun sich schwer mit dem Eingeständnis, dass die Sanktionspolitik doch eher nach hinten losgegangen ist – zu ihren eigenen Ungunsten. Und die wankenden Regierungen der großen europäischen Staaten (außer Melonis Italien, das als einziges Land eine gewisse politische Stabilität aufzuweisen scheint) werden von den genannten Colonels ohnehin nur noch als „vassals“ bezeichnet. Die „situation on the ground“, also im Clausewitzschen Kriegstheater, scheint hoffnungslos.
Dazu kommt, dass die meisten europäischen Anführer auf Harris gesetzt haben und damit wohl Trump verärgert haben. Nun befürchten sie, militärisch im Stich gelassen zu werden, wenn sie nicht erheblichen Aufrüstungsausgaben – natürlich zugunsten der US-Waffenindustrie – zustimmen. Dass diese Aufrüstung an der Tatsache vorbeigeht, dass der reale Ukrainekrieg militärisch gezeigt hat, dass traditionelle Systeme wie Flugzeuge und Panzer fast obsolet scheinen und der reale Krieg nunmehr mit Drohnen und Raketen geführt wird, ist ebenfalls bezeichnend. Elon Musk, ein ausgewiesener Technikaficionado hat sich in der Richtung geäußert. Man kauft anfällige Systeme wie die F-35 und obsolete Hardware, teures Material, das nicht „up to date“ scheint – zumindest nach allem, was von der Realität an der Front berichtet wird. Das Auftauchen der neuesten Raketen der Russen ist da wohl nur das Sahnehäubchen auf dem versalzenen Kuchen.
Die Colonels sind sich darüber einig, dass Putin wohl gewisse „Friedensvorschläge“ nicht annehmen wird, wenn sie russischen Vorstellungen, wie Gebietsabtretungen und Neutralität der Ukraine nicht entsprechen, ganz zu schweigen von einer europäischen Besatzung..
Nun zur Einschätzung der militärischen Fähigkeiten der NATO. Ist von der Bundeswehr die Rede, dann sieht man doch eine Reaktion, die ich als müdes Lächeln bezeichnen würde. Ähnlich ist die Einschätzung der britischen Armee, die inzwischen ebenso kaputtgespart kaum mehr als 60.000 Mann umfasst, davon wohl nur 20.000 einsetzbare Kampftruppen. Man hört von der Außerdienststellung von Kriegsschiffen, ja sogar von Plänen, mindestens einen der Flugzeugträger, mit denen einst „über die Waves gerult“ wurde, aus Kostengründen außer Dienst zu stellen. Wie überall ist eine territoriale Luftverteidigung so gut wie nicht vorhanden, Zivilschutz schon gleich gar nicht.
Weniger dramatisch scheint die Situation der französischen Armee, wobei auch diese gegen den „Iwan“ in keiner Weise antreten könnte. Nun kommen wir zu den US-Streitkräften. Was meinen da die Colonels? Trotz eines exorbitant hohen Militärbudgets haben die USA jetzt noch ca. 600.000 Soldaten, von denen 200.000 Kampftruppen im engeren Sinne sind. Die Art der sogenannten „power projection“ läuft über 11 Flugzeugträgerkampfgruppen, deren Unterhalt ungeheure Summen verschlingt und die von den zitierten Colonels als „sitting ducks“ bezeichnet werden. Das bedeutet, dass sie einer Attacke mit Überschallraketen relativ hilflos ausgeliefert sind. Insgesamt wird der Rückstand der USA in der Militärtechnologie gegenüber Russland auf etwa zehn Jahre eingeschätzt, vor allem eben in der Flugabwehr- und Raketentechnik..
Betont wird auch, dass die amerikanische Militärstrategie weder auf das Durchhalten langer Abnutzungskriege noch auf die Konfrontation mit einem gleichwertigen Gegner ausgelegt ist. Diesbezügliche „war-games“ scheinen immer verloren worden zu sein. Auch wird angemerkt, dass die sogenannte „Eskalationsleiter“ der Amerikaner bedauerlicherweise sehr kurz ist. Schon die Zerstörung eines Flugzeugträgers könnte kaum anders als atomar beantwortet werden.
Ich möchte hier betonen, dass ich kein Militärexperte bin und mich irren kann. Interessant ist allerdings, dass Klagen über die Ausstattung der Navy und der Army auch seit Langem intern von Truppenführern geäußert werden. Dazu kommt, dass die Waffenlager stark geleert sind und die amerikanische Rüstungsindustrie Schwierigkeiten hat, mit der Produktion benötigter Systeme und Munition nachzukommen. Dazu kommt die Abhängigkeit von chinesischen und russischen Rohstoffen. Angeblich produziert die EU kaum noch TNT. Wie gesagt: Im realen Kriegsgeschehen findet eine völlige Veränderung der Technik statt, und da scheinen Russland, China und der Iran die Nase vorn zu haben.
Den cis- und transatlantischen Politikern scheint das egal zu sein. Ihr Horizont ist begrenzt. Über dem großen Teich will man wohl mit militärischer Eskalation Trump schaden, und was die europäischen „Leader“ wollen, erschließt sich keinem vernunftgeleiteten Individuum mehr.
Wichtig scheint nur noch das „Narrativ“ zu sein: „Gesichtswahrender“ Ausstieg aus dem Krieg, und wenn das nicht geht, wird eben weitergekämpft „bis zum letzten Ukrainer.“
Was haben die Parteien denn bisher mit diesem Krieg erreicht?
- Die Ukraine: fatale Verluste, Zerstörung und völliger wirtschaftlicher Zusammenbruch. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung hat mit den Füßen abgestimmt und das Land verlassen.
- Die USA: Sie haben Russland erfolgreich in einen kostspieligen Krieg gelockt, bei dem im Wesentlichen letztlich die Europäer die Kosten tragen werden. Die amerikanische Verteidigungsindustrie blüht auf, Waffensysteme müssen erneuert werden, und abgelaufene werden an der Front verbraucht. Die ökonomische Verbindung zwischen Europa und Russland ist definitiv zerrissen, und amerikanisches Frackinggas erzielt sehr gute Preise.
- Europa: Es hat sich seinen wirtschaftlichen Niedergang eingebrockt. Nicht nur die Märkte im Osten sind weg, auch die Abkoppelung von China scheint zunehmend eine Forderung des Hegemons zu sein. Der Verlust der russischen Energie und wichtiger Bodenschätze ist kaum zu kompensieren. Russland wurde als „Tankstelle mit Atomwaffen“ bezeichnet. Aber ohne Tankstelle läuft kein Auto. Die Unterwerfung Europas nimmt in der Politik mancher Akteure mittlerweile lächerliche Züge an.
- Russland: Es wurde definitiv in die Arme Chinas getrieben. Jede mögliche Westanbindung wurde unterbunden. Der Aufstieg der BRICS erfolgte fast zwangsläufig als Reaktion auf das Sanktionsregime. Russland erfuhr einen technischen und wirtschaftlichen Innovationsschub, nicht nur im Bereich der Militärgüter. Westliche Importe konnten durch China leicht ersetzt oder Handelsbarrieren umgangen werden.
Man könnte die Liste fortsetzen, aber eines ist klar: Hauptleidtragender der Misere ist Europa – und da nicht zuletzt Deutschland, wobei die unter Umständen noch kommende Flüchtlingswelle hier noch nicht einmal angesprochen ist. Das alles zu leugnen und zu verdrängen, kann man mit Recht „delusional“ nennen.
Und die Ukraine ist nur einer von mehreren Hotspots auf dem Planeten. Der Nahe Osten ist vielleicht noch gefährlicher, wie die neuesten Ereignisse in Syrien zeigen. Ich habe in einem früheren Text einmal in Bezug auf den Ukrainekonflikt das sogenannte Thukydides-Dilemma angesprochen: Landmacht gegen Seemacht, Athen gegen Sparta. Ein zwischenzeitlicher Erschöpfungsfriede im Peloponnesischen Krieg führte zur Sizilianischen Expedition der Athener unter Alkibiades. Wie die ausgegangen ist, weiß, glaube ich, fast jeder. Und dass am Ende die Unterstützung der Spartaner durch eine asiatische Großmacht den Ausschlag gegeben hat, auch.
Die führenden Kreise der USA scheinen dabei permanent den Gegner zu unter- und die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Das Konzept des Exeptionalismus, der „one indispensable nation“, der „shining city on the hill“, von den Vereinigten Staaten als neues Jerusalem, ist geradezu gefährlich weil eben „delusional“. Obama hat Russland als „Tankstelle mit Atombomben” bezeichnet. Wie wäre die Charakterisierung der USA als „Gelddruckmaschine mit Atombomben“?