Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.
Der menschliche Kosmos #6
Am Schluss von Teil 5 war davon die Rede, dass eine riesige Zahl unbewusster Entscheidungen Sie und mich in Bewegung und am Leben halten, ohne dass wir darüber nachdenken.
Da Menschen aber das Denken und Reden – natürlich auch das Reden und Schreiben – ziemlich wichtig nehmen, übersehen sie bisweilen, dass alles andere, alles was so selbstverständlich im Universum von Körperinnerem und Körperumgebung abläuft, millionenfach mehr Informationen umfasst, als Ihnen jemals bewusst und ihrem freien Willen unterworfen sein könnte.
Ahnen Sie, wie wenig wir wissen?
Das Ich kann nur wollen, was ihm bewusst ist; die innere Matrix – nennen wir sie einmal das „Selbst“ – muss alles wollen, alles antizipieren, was der Selbsterhaltung dient; das Selbst muss Strategien in wahrhaft kosmischen Dimensionen vorhalten.
Vielleicht kann man sich die Matrix als ein „dynamisches Negativ“ der gesamten, jeden Einzelnen umgebenden Welt vorstellen. Damit schließt sich zugleich der Kreis zu einem Leitgedanken von Kapitel 2: ohne den Einzelnen ist das Universum nicht vollkommen.
Stellen wir uns nur einmal vor, welche Steuerungsleistung allein der aufrechte Gang erfordert: Bis heute ist kein Roboter in der Lage, etwas derart gut Funktionierendes zu leisten. Niemand verschwendet normalerweise auch nur den Hauch eines Gedankens daran, wie er beim Gehen seine Füße setzt; nur wenn er stolpert, wird er aufmerksam, während die Matrix längst die korrekte Körperhaltung wiederhergestellt hat – oder er im Matsch liegt.
Ebensogut lässt sich das am Sprechen verdeutlichen: Während ich mit Wortinhalten, allenfalls noch mit dem Verhältnis zu meinem Gegenüber gedanklich befasst bin, organisiert die Matrix – neben dem fortlaufenden übrigen Körperprogramm – die Erzeugung von Schallwellen über einen hochsensiblen Apparat, an dem neben vielem anderen Zwerchfell, Stimmlippen und Zunge beteiligt sind; dazu Mienen, Gesten und eine ganze Bibliothek von Assoziationen, möglichen Fortsetzungen und Brüchen. Das bemerke ich auch nur, wenn ich ins Stottern komme und nach Worten suchen muss. Wenn die Rede wieder fließt, dann waltet die Matrix wieder unmerklich.
Hierin unterscheidet sich eben die Muttersprache deutlich von den später erlernten Fremdsprachen: der Umgang mit ihr wird – unterschiedlich gut – in frühester Kindheit automatisiert, niemand verschwendet später einen Gedanken an grammatische Regeln, während er spricht. Tut er es doch, dann gerät der Redefluss ins Stocken. Eine solche „automatisierte“ oder besser „eingewachsene“ Sprache können Erwachsene in der Fremdsprache kaum noch erreichen.
Den Körper kann ich „erweitern“ – auch die Seele?
Egal ob ich die innere Matrix „Selbst“ nenne (was sie an die Theorien vom Leben als „autopoietisches“ – also sich selbst organisierendes –, offenes dynamisches System heranführt) oder „Seele“ – dreierlei erscheint zumindest plausibel:
- Ich kann etwas über ihr Wirken sagen, denn das Leben verläuft nicht ungeordnet
- Der Körper ist die Daseinsform der Seele, eine andere ist – mir zumindest – nicht bekannt
- Das Bewusstsein erfasst nur einen – sehr kleinen – Teilbereich der unablässig ablaufenden Interaktionen im Körper und zwischen Körper und Umgebung.
Der menschliche Körper lässt sich mit allerlei Werkzeugen „erweitern“; dann erweitert sich auch das Steuerungsfeld der Matrix.
Vor einiger Zeit trat in einer Fernsehshow ein Hopfenbauer aus Bayern auf und zeigte ein Kunststück, für das er landauf, landab bewundert wurde. Einem professionellen Artisten wäre es womöglich als zu simpel erschienen, um es vorzuführen: Es ging darum, eine frei im Raum stehende fünf Meter lange Leiter empor zu klettern und einen Apfel zu pflücken.
Spektakulär war die Aktion, weil über ihr Gelingen Wetten zwischen Prominenten abgeschlossen wurden und die Aufmerksamkeit von Millionen Zuschauern darauf fixiert war. Vor dem Bildschirm erlebten sie mit, wie der Mann seinen Fuß auf die unterste Sprosse setzte, den zweiten Fuß nachzog und begann, einen seltsamen Tanz mit dem sperrigen Gerät aufzuführen.
Gerade weil dieser Balanceakt so puristisch, ohne das Brimborium des professionellen Varietés aufgeführt wurde und weil es nur um die Frage ging: „Hält er sich auf der Leiter oder stürzt er?“, ließ sich hier das Wesen eines dynamischen Gleichgewichts besonders gut erkennen. Der Hopfenbauer wäre mit seiner Leiter sofort hart aufgeschlagen, wenn er nicht ihre Füße ständig hin und her bewegt und die Schwankungen um den gemeinsamen Schwerpunkt von Bauer und Leiter mit seinem jeweils freien Bein ausgeglichen hätte. Aus dem Bauern und der Leiter wurde der Leitersteiger, der mit der Schwerkraft wechselwirkte.
Der Bauer hatte dieses System in vielen Trainingsstunden konfiguriert und „verinnerlicht“, so dass die Leiter fast wie ein zusätzlicher Körperteil – wenn auch ein mangelhafter und schwerfälliger – zum Ergreifen des in fünf Metern Höhe aufgehängten Apfels zu gebrauchen war.
Na klar, werden Sie sagen, so lernt man ja und so funktioniert das Fahrradfahren. Und wenn Artisten eine Menschenpyramide bauen, dann gelingt ihnen das nur, wenn sie in jedem Augenblick auf die Bewegungen der mit ihnen Verbundenen sensibel und ausgleichend reagieren. Das zu wissen heißt aber noch lange nicht, es zu können. Und wenn Sie es einmal können, werden Sie wenig bewusste Wahrnehmung auf den Erhalt des Gleichgewichtes verwenden müssen: Ihr Körpergedächtnis, ihre Propriozeption, informell gefasst in ihrer inneren Matrix, balanciert automatisch mit. Dank des Körpergedächtnisses verlernen Sie niemals das Fahrradfahren oder Schwimmen.
Sehen Sie mir bitte nach, wenn diese Einsicht für Sie banal ist: Ich möchte nur auf zwei wesentliche Punkte hinweisen, die bei den Überlegungen zum Thema Interaktionen entscheidend sein werden:
- Zum einen: Bei allen solchen Wechselwirkungen bedeutet Stillstand, dass das System zusammenbricht, und die kritischen Momente für den Übergang eines solchen Systems in einen chaotischen – beim Radfahren und der Leiterbalance unbeherrschbaren – Zustand liegen nahe am Stillstand, also da wo die Bewegungen zu schwach sind, das System im Gleichgewicht zu halten.
- Zum anderen: Die Gestalt und das Funktionieren des Systems lassen sich vom Ziel aus – nämlich dem Erhalt des Gleichgewichtes – bestimmen. Kausale Verknüpfungen des Typs: „wenn A zutrifft, folgt daraus B“ erfassen immer nur einen engen Ausschnitt innerhalb des komplexen Gefüges.
Stillstand und Zusammenbruch
In Situationen, in denen der Stillstand droht, die Zukunft „verstopft“ ist, wird in sich selbst organisierenden Systemen Destruktion, also Gewalt in unterschiedlichsten Formen, zur möglichen Strategie mit dem Ziel der Neuorganisation. Für solche Momente gibt es eindeutige Signale, lange bevor sie bewusst werden. Manche sind physiologisch, wie der stockende Atem, andere Teil der nonverbalen Kommunikation, wie aufgerissene Augen und Münder, der Schrei, der sich krümmende Körper.
Kommen wir auf Nachbars Katze zurück. Dem Sprung auf die Klinke haben Sie und ich bewundernd zugeschaut, ihr Schnurren, wenn sie mit halb geschlossenen Augen am warmen Ofen vor sich hin spinnt oder sich streicheln lässt, weckte empathische Gefühle. Die Katze zeigt fast eine Urform des Wohlbehagens. Ihr „innerer“ Zustand wird nur von hartgesottenen Katzenhassern nicht nachempfunden. Aber ist „Schnurren“ nicht auch ein Ergebnis Jahrtausende langen Zusammenlebens von Menschen mit Katzen? Haben sich Haustiere überhaupt nur einseitig der Domestizierung gefügt? Haben sie nicht vielmehr interagiert und sich „ihren“ Menschen erzogen?
Wer den Umgang von Mensch und Tier beobachtet, wird staunen, wie geschickt auch noch der albernste Wellensittich Strategien entwickelt, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu gewinnen. Es geht dabei um Interaktionen im vorsprachlichen Bereich – um Signale für Bedürfnisse –, und es waren nicht die schlechtesten Psychotherapeuten, die den Umgang zum Beispiel mit Pferden in die Therapie psychisch labiler Kinder einführten.
Zur Interaktion mit der Umgebung gehört neben den Zweckbewegungen – wie dem Sprung auf die Klinke oder dem aufs Fahrrad – offensichtlich eine Gruppe von Bewegungen, die mit Bedürfnissen und Gefühlen zusammenhängen – wie das Schnurren der Katze. Sie dienen der Kommunikation: Mienen, Gesten, Laute. Von ihnen wird im Folgenden die Rede sein. Diese „Ausdrucksbewegungen“ spielen nämlich in allen Beziehungen eine ausschlaggebende Rolle; bemerkt werden sie am ehesten in Konflikten, wenn jemand heftig gestikuliert, angewidert das Gesicht verzieht, in Tränen ausbricht oder losbrüllt.
Alle Kulturen kennen – meist ungeschriebene – Regeln, nach denen Emotionen nicht immer und überall freien Lauf haben dürfen. Psychologen sprechen von „Display Rules“, von „Anzeigeregeln“ für nonverbale Signale. Interessanterweise sind es gerade diese Einschränkungen, die Kulturen unterscheiden. Die Signale selbst haben Menschen überall auf der Welt gemeinsam. Entwicklungsgeschichtlich liegen sie weit vor den Sprachen, und das System der nonverbalen Verständigung entwickelt sich auch beim Kind lange bevor sein erstes Wort ertönt. Neueste Beobachtungen zeigen, dass Mimik und Gestik schon im Mutterleib erkennbar sind.
Der Körper als seelische Membrane
Mienen, Gesten, Laute – ich werde die speziellen Laute des menschlichen Ausdrucks als „Phone“ bezeichnen – haben ein Ziel: zuerst bei der Mutter, später bei anderen Menschen die eigenen körperlichen und psychischen Bedürfnisse anzumelden. Diese körperlichen Signale sind zwar an Emotionen gebunden, aber sie erlauben keine eindeutigen kausalen Rückschlüsse auf dieselben. Dazu später mehr. Jedenfalls regt die Fähigkeit zum Mitfühlen ein Gegenüber meist an, in der erheischten Art und Weise zu reagieren, und zwar unmittelbar, ohne kognitive Zwischenschritte.
Der Körper ist die Membran der Gefühle; ich gehe so weit zu sagen: der Seele. Es heißt, die Augen seien der „Spiegel der Seele“, aber sie sind viel mehr. Sie sind Sensor und Aktor zugleich. Bei der Interaktion von Menschen liefern sie entscheidende Sinneseindrücke: die erste Viertelsekunde entscheidet beim Anblick von Unbekannten über Sympathie oder Antipathie, und in welcher Richtung diese Entscheidung fällt, hängt eben von den körpersprachlichen Signalen und deren Verarbeitung im Gehirn ab.
Aber die Augen sehen nicht nur, sie signalisieren gedankliche Aktivität, Ab- und Zuwendung, Angst und gestaute Affekte. Augenbewegungen spielen mit den Gesichtsmuskeln zusammen und formen Mienen – und diese Mienen sind Teil der den ganzen Körper bewegenden Interaktionen. Mienen, Gesten und Phonen wirken als Ganzheit – wie ein Text. Sie werden auch so gelesen und interpretiert, nur dass wir sie nicht kognitiv entschlüsseln, sondern sofort reagieren. Die innere Matrix gibt unsere Reaktionen vor, ehe wir davon wissen.
Gelegenheit zu einem neuen Selbstversuch: Stellen Sie sich mit dem Rücken zur Wand und vergewissern Sie sich, dass Sie das Körpergewicht gleichmäßig auf beiden Fußsohlen spüren. Lassen Sie Ihre Arme locker herunter hängen. Sie können das Folgende entweder vor einem Spiegel, vor laufender Videokamera oder mit einem Gesprächspartner probieren – es funktioniert aber ohne solche Hilfsmittel womöglich besser. Wichtig ist nur eines: Sie müssen ihre Umgebung (Spiegel, Kamera etc.) vorübergehend vergessen und sich absolut konzentrieren auf eine Geschichte, die Sie einer anwesenden oder vorgestellten Person erzählen wollen.
Es sollte eine Geschichte sein, die Sie außerordentlich empört hat. Wirklich empört! Bevor Sie mit dem Erzählen beginnen, vergewissern Sie sich, dass ihre Körperhaltung wie eingangs beschrieben ist. Dann starten Sie mit einer Beschreibung von Ort, Zeit und handelnden Personen.
Haben Sie jetzt schon Ihr Körpergewicht verlagert und Handbewegungen gemacht, oder sind Ihre Füße und Hände immer noch in Ausgangsstellung? Nicht? Dann hat ihr Körper situationsgemäß reagiert und Gesprächsgesten ausgeführt, mit denen er dem Gegenüber signalisiert, auf welche Reaktion er aus ist. Applaus!
Falls Sie sich im Spiegel kontrolliert und streng darauf geachtet haben, während des Redens die Haltung nicht zu ändern, dann sollten Sie jetzt versuchen, sich an das Gesagte zu erinnern – und zwar Wort für Wort. Geht nicht? Kein Wunder – Sie waren ja mit der Haltung und nicht mit der Geschichte befasst.
Probieren Sie das ganze ruhig einige Male aus: spätestens wenn Sie wirklich Ihre Empörung herauslassen – und sei es die über die Zumutung von Selbstversuchen – wird es Ihren Körper nicht auf den gleichmäßig belasteten Füßen und an den lockeren Armen halten.
Sollten Sie feststellen, dass Sie ein Gegenüber ohne jede körperliche Aktion mit Ihrer Geschichte fesseln können, sollten Sie eine Laufbahn als Fernsehmoderatorin oder -moderator in Erwägung ziehen. Sie hätten eine beispiellose Karriere vor sich, denn fast jeder in dieser Zunft strebt so unerbittlich wie erfolglos danach, Gedanken vom Teleprompter abzulesen, sie irgendwie interessant zu präsentieren und gleichzeitig mit unnatürlichen, gezierten Gebärden vor der Kamera zu verharren. Das Publikum hat sich allerdings an diese speziellen Auftritte längst gewöhnt – der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Zudem sorgt die Quote darwinistisch mit dafür, dass ärgste Fehlbesetzungen verschwinden, es sei denn, der Mann oder die Frau vor der Kamera verfügen über genug informelle Macht, sich trotzdem zu behaupten.
Das „Ausdrucksgeschehen“ läuft auch ohne reales Gegenüber ununterbrochen ab, ob wir schlafen oder wachen. Es ist der Ausweis emotionaler und gedanklicher – also seelischer – Aktivität schlechthin.
Auch Pokerface kann anstrengen
Das Maß, in dem Menschen Gefühle signalisieren, ist sehr unterschiedlich. In der Ausbildung von Schauspielern wird der Begriff der „Transparenz“ verwendet, der „Durchlässigkeit“ für emotionale Bewegungen.
In meinem ersten Praktikum an einem Theater erstaunte mich immer wieder, wie eine junge, im Alltag ziemlich unscheinbare Schauspielerin auf der Bühne über sich selbst hinauswuchs. Die zierliche Person strahlte eine enorme Kraft auf ihre Partner aus und wirkte zugleich zerbrechlich und über alle Maßen sensibel.
Fünf Minuten nachdem sie das Publikum zu Tränen gerührt oder zum Lachen gebracht hatte, erschien sie als graue Maus in der Kantine, trank ein Bier und versprühte den erotischen Charme einer Büroklammer. Niemand hätte vermutet, dass sie imstande war, 800 Menschen durch den Anblick ihres Gesichts, durch das Strahlen ihrer Augen und den Klang ihrer Stimme mit Gefühlen anzustecken, deren eben diese Menschen im Alltag kaum mehr fähig waren.
Diese Schauspielerin schaffte es, ihre Gefühle besonders verstärkt aus dem „inneren Erleben“ durch ihren zierlichen Körper hindurch zu transportieren; er war ein gleichermaßen durchlässiges und hoch dynamisches Instrument zum Transport und zur Verstärkung emotionaler Signale – wenn sie die Bühne betrat. Auf diese Situation war sie zweifellos trainiert, aber das allein hätte sicher nicht genügt, sie nach dem Anlegen von Kostüm und Maske, mit dem Schritt ins Scheinwerferlicht und unter die Augen des Publikums erblühen zu lassen. Offensichtlich bedurfte es einer besonderen Begabung. Ähnliche Wirkung erreichen Musiker, die ihren Körper um die Ausdrucksfähigkeit ihres Instruments erweitern. Manche werden zu weltberühmten Virtuosen.
Diese Begabung ist nichts anderes als die Fähigkeit zur Antizipation von seelischen Vorgängen und Zuständen beim Publikum – ganz vergleichbar der Antizipation des Sprungs der Katze auf der Klinke der Küchentür.
Was antizipiert werden soll, muss in der inneren Matrix konfiguriert sein. Hier drängen sich Begriffe wie „Gedächtnis“ und „Phantasie“ auf. Und die Inhalte des Gedächtnisses – mit ihnen spielt die Phantasie – sind ebenso offensichtlich nicht auf das beschränkt, was sich in Worte fassen und zur Sprache bringen lässt, also allgemein als „das Bewusste“ bezeichnet wird. Vielmehr speichert das Gedächtnis komplexe Abläufe, die zu wichtigen Situationen gehören. Manchmal genügt zum Beispiel ein Geruch, um starke Gefühle und eine sehr wichtige Situation wachzurufen. Mit solchen starken Situationen „brennen“ sich oft scheinbar unwichtige Details ein, die dann zusammen mit dem dramatischen Geschehen erinnert werden.
Kürzlich sah ich ein Interview mit einem Mann, der sich noch ganz genau erinnern konnte, mit welcher Schulaufgabe er beschäftigt war, als er im Radio die Nachricht von der Ermordung John F. Kennedys hörte. Wenn man ihn nach den schulischen Arbeiten an irgendeinem anderen Datum jenes Jahres 1963 fragte, würde er wohl nur mit den Achseln zucken. Weil aber die Schüsse von Dallas den Schüler tief erschütterten, blieb die eigentlich uninteressante nachmittägliche Büffelei haften.
Mir geht es ähnlich mit dem Moment, als ich offenen Mundes vor einer Regalwand voller Fernseher in einem Wal-Mart stand. Alle zeigten dasselbe Action-Movie: Rauchwolken und Flammen aus den Türmen des World Trade Centers. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis ich begriff, dass hier kein Spielfilm lief, aber die Detailschärfe meiner Erinnerung an alles, was diesem Schock vorausgegangen war, ist erstaunlich. Viel blasser erscheint, was ich danach tat.
Das ist ein simples aber anschauliches Beispiel dafür, dass die komplexen Gefühls- und Gedächtnisinhalte schwer zu analysieren sind, denn was subjektiv als „wichtig“ wahrgenommen und bewertet wird, lässt sich von einem Dritten umso weniger einschätzen, als niemand selbst seinem Gedächtnis vorschreiben kann, wie es mit Erlebtem umzugehen und mit welchen Reaktionsmustern es Erlebtes zu verbinden hat. „Das Gedächtnis ist ein Hund, der sich hinlegt, wo er will“ – so beschreibt der Autor Cees Noteboom dieses Phänomen.
Das Herz auf der Zunge – im Augenblick
Wenn jemand nonverbal und verbal reagiert, dann läuft im Allgemeinen ein Programm von Ausdrucksbewegungen ab, das mindestens ebenso komplex ist wie die Körperbewegungen beim Aufstehen vom Boden. Soviel lässt sich mit Sicherheit sagen:
Der Charakter einer Miene, Geste oder Phone wird vom Ziel her bestimmt, das heißt davon, was mit der Interaktion erlangt oder vermieden werden soll. Schon im Mutterleib bildet das Individuum entsprechende Fähigkeiten aus. Aus genetischen Vorgaben gestaltet sich im sozialen Wechselwirken ein komplexes Ausdrucksverhalten, die Signatur eines Charakters.
Hat ein Signal – oder das Zusammenspiel von Signalen – Erfolg beim Erhalt des „seelischen Gleichgewichts“, wird es trainiert, Erfolgloses wird gehemmt. Jeder Mensch durchläuft so einen ganz eigenen Prozess der Evolution seiner Mienen, Gesten, Phonen; sie macht ihn als Persönlichkeit unverwechselbar. Familienähnlichkeiten bleiben, verstärken sich bisweilen sogar im Alter. Die semantischen Bausteine der „nonverbalen Sprache“ – genau definierte Bewegungen der Hände, der Schultern, des Kopfes, der Gesichtsmuskeln, Pupillen, des Zwerchfells und der Stimmlippen – können bei eineiigen Zwillingen damit verblüffen. Das Geschehen bleibt auch bei ihnen meist unbewusst, beide aber antizipieren dabei, was sie erlangen oder vermeiden wollen.
In Medien wird gern darüber spekuliert, welche „Gründe“ den Ausdruck vor allem des Gesichts bestimmen, welche Gefühle eine Person bewegen. Freilich sammeln fast alle lebenslang Erfahrungen im Mitfühlen. Aber diese Rückschlüsse – etwa auf den emotionalen Hintergrund herabgezogener Mundwinkel – sind grob und greifen zu kurz. Eine Kausalanalyse von „Gründen“ (wenn A, dann B) eines bestimmten Ausdrucksverhaltens führt fast immer in die Irre.
Der Text hinter dem Text
Tatsächlich dient Ausdruck vor allem dazu, Gestalt und funktionale Ordnung der Psyche in der Wechselwirkung mit anderen zu wahren – und zwar dynamisch.
Was „dynamisch“ bedeutet, merken Sie sofort, wenn Sie versuchen, eine Miene „einzufrieren“, etwa nach einem verblüfften „Aha“ Ihr Gegenüber mit offenem Mund sekundenlang anzusehen. Bis er lacht. Oder den Arzt ruft. Ausdruck ist Bewegung.
Das gilt für die Kommunikation insgesamt. Wer also beim Zuhören nicht fragt „Warum“, sondern „Mit welchem Ziel redet sie mit mir, ohne eine Miene zu verziehen?“ der ist meist auf der interessanteren Fährte der Interpretation: Er fragt nach der beabsichtigten Wirkung aufs Gegenüber.
Wenn Sie mittels sprachlichen Ausdrucks – erzählend – Situationen heraufbeschwören, die vergangen sind oder zukünftig möglich, lösen Sie beim Zuhörer, aber auch bei sich selbst mehr aus als nur Gedankenketten. Gefühle entstehen und diese Gefühle lösen ihrerseits wieder Signale ans Gegenüber aus – das können Sie im Selbstversuch leicht bestätigen.
Es gibt also eine Verbindung zwischen Sprache und Emotionen und sie ist fast unlösbar; sie reicht bis in die Schriftsprache hinein, denn auch das geschriebene Wort entsteht selten, ohne dass Gefühle beteiligt sind, ohne dass Impulse auf eine Wirkung beim Adressaten zielen.
Haben Sie nicht auch schon einmal in einem Text die Absicht gespürt, Sie einzuschüchtern? Noch im Geschäftsbrief finden sich Anzeichen einer „Haltung“ – und damit einer vom Schreiber erstrebten Wirkung auf den Leser. Das kann die Herablassung des Oberlehrers sein, die Anmaßung eines Dünkelhaften, das Sich-Anbiedern eines Schwindlers, die Drohgebärde des Mächtigen. Tritt mir ein solcher Verfasser vors innere Auge, kann das Übelkeit auslösen – oder einen Lachanfall.
Natürlich lassen sich Auftritte im Fernsehen daraufhin leichter bewerten. Die „Haltung“ eines Journalismus, der jovial Wellness im Einverständnis verspricht, damit zur Selbstüberhebung einlädt, abweichende Meinungen denunziert, mit Häme übergießt und sich mit vermeintlich höherer Moral anbiedert, also das Prädikat „demagogisch“ verdient, löst bei mir blitzartig einen Abschaltreflex aus. Karl-Eduard von Schnitzler gilt fast als Archetyp, aber er hat leider viele erfolgreiche Adepten im Verbreiten von Gesinnungskitsch. Man nennt das auch Propaganda.
Wie Sprache einwächst
Dass Sprache und Gefühl den ganzen Körper erfassen und nur schwer zu trennen sind, lässt sich schon am Erwerb der Sprache im Kindesalter erkennen. Kinder lernen nicht sprechen, indem sie logische Bezüge herstellen. Sie sprechen, weil sie ihre Ziele erreichen, indem sie kommunizieren, weil eine „Sprachumgebung“ da ist, die ihnen zum Sattwerden, zur Zuwendung und zur Befriedigung aller anderen – sozialen – Bedürfnisse verhilft, wenn sie sich auf die Wechselwirkung einlassen. Sehr schnell lernen sie, dass es anderes als nur Geschrei gibt, worauf ihre Umgebung reagiert.
Die erste und stärkste Verbindung von Laut und Sprache ist – und das gilt für die Babys fast aller Rassen und Nationalitäten – „MAMA“! In der Literatur, auf der Bühne und im Film wird beschrieben oder nachempfunden, wie erwachsene Menschen im höchsten Leid auf diesen Laut zurückgeworfen sind – es ist der Moment größter Hilfsbedürftigkeit und es ist ein Zeichen höchster Angst, kurz vorm Chaos, dicht am Tod. Alle späteren Erfahrungen und emotionalen Überformungen brechen in diesem Moment zusammen. Nur eine einzige, erste und tiefste Interaktion verheißt noch Hilfe: die mit der Mutter. Das Wort vom „Urvertrauen“ ist nicht zu hoch gegriffen.
Vom elementaren Laut-Wort zum zusammenhängenden Sprechen ist es weit, und doch lernen Kinder so wenig „wortweise“ Sprechen, wie sie gelenkweise Laufen lernen. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass zwar Laute und Atmung organisch zusammenhängen – Schreien, Lachen, Oh’s, Ah’s und Ih’s – nicht aber längere Wortfolgen und Atmung. Das Ziel, etwas sagen zu wollen konkurriert oft auf komische Weise mit dem Atem holen:
„Mama, Mama“ – schnapp! – „Tante“ – schnapp! – „Tante Trudchen ist der“ – schnapp! – „der Mohnkuchen verbrannt!!!“
Andererseits erheitern Dreijährige mit „aufgeschnappten Weisheiten“ – und verbuchen solche Erfolge um sie alsbald zu wiederholen, häufig ohne sich ihres Inhaltes bewusst zu sein. Nicht der Inhalt des Aufgeschnappten ist wichtig: die erzielte Wirkung wohlwollender Aufmerksamkeit ist es!
Sprachliche Defizite der häuslichen Umgebung werden oft behoben, wenn Kindergarten, erweiterter Familien- oder Freundeskreis Ausgleich anbieten. Defizite im emotionalen und damit im körpersprachlichen Umgang wiegen schwerer. Die Summe beider stört die Entwicklung von Kindern dauerhaft, namentlich die Ausbildung von Konfliktverhalten. So werden aus zusammengeschrienen, geduckten, geprügelten Kindern Duckmäuser und Gewalttäter.
„Haltung“ und Manipulation
Sie ertappen mich wieder beim Verbreiten von Binsenweisheiten. Aber ich will klarstellen, dass nicht nur die sprachliche, sondern auch die körpersprachliche – und damit die emotionale – Entwicklung auf die Erreichbarkeit von Zielen der Interaktion angewiesen ist. Dass die „innere Matrix“ hinreichend stabil ist, um sich die geeigneten Wechselwirkungen in der Umgebung zu suchen,ist eben auch an den nachgewiesenen Ähnlichkeiten bei eineiigen Zwillingen zu erkennen. Zwillinge verhalten sich nämlich selbst dann auffällig ähnlich, wenn sie in der frühen Kindheit getrennt werden. Übereinstimmungen von Mimik, Gestik und sozialem Verhalten bei solchen getrennt lebenden Geschwistern wurden häufig untersucht. Sie haben ihre mythische Entsprechung in den Märchen und Legenden, wo getrennt lebende Zwillinge noch aus der Ferne spüren können, ob es ihrem Bruder oder ihrer Schwester gut oder schlecht ergeht.
Die „innere Matrix“ sucht sich die für die individuelle Strategie passenden Interaktionen aus der Umgebung. Normalerweise ist das Angebot auch differenziert und reich genug, um alle Bereiche der individuellen Matrix anzusprechen. Dabei entfalten sich einzelne Phänomene des Ausdrucks, im Ganzen das Ausdrucksverhalten jedes Menschen, in charakteristischer Weise. „Charakteristisch“ bedeutet, dass sie seinen individuellen Strategien entsprechen, in bestimmten Sozialgebilden zu kommunizieren, zu wirken und zu reagieren.
Die Lebensstrategien, die Persönlichkeiten ausmachen und ihre Biographie prägen, realisieren sich also in einem Prozess anhaltender Wechselwirkung. Körper und Seele verhalten sich dabei untrennbar als „lebendig wachsende Form“ mit stabilen und wandelbaren Komponenten. Für diese Form gilt, was für das Fliegen – einen höchst dynamischen Vorgang – zutrifft: eine völlig starre Form ist untauglich. Erst das komplexe und überaus raffinierte Zusammenwirken von Stabilität und Flexibilität, wie es sich im „Flugbild“ der verschiedenen Vogelarten ausprägt, führt die arttypische Strategie zum Ziel: der Erhaltung ihres Lebens in der Luft.
In der nächsten Folge geht es darum, inwiefern Störungen dieser Dynamik zuträglich sind, ja, sogar lebenserhaltend. Also: Ich freu mich auf sie.
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