Leben ist Materie plus Information

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Der menschliche Kosmos #5

Wie versprochen geht’s im Exkurs über die materielle und informelle Dimension der Macht weiter mit einem Ausflug ins revolutionäre Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts:

Das Schicksal der französischen Königin Marie-Antoinette wurde von den Schwankungen ihres Ansehens in der öffentlichen Meinung wesentlich mitbestimmt. Launenhaftigkeit und Verschwendungssucht der Tochter von Österreichs Kaiserin Maria-Theresia erbosten das französische Publikum; erst als sie den Kronprinzen gebar, beruhigte sich die Stimmung. Aber ausgerechnet die „Halsband-Affäre“, in der sie unschuldig war, vernichtete ihre Reputation, ihre „social credits“ – ihren Ruf – vollkommen. Man gab ihr letztlich die Schuld an den zerrütteten Staatsfinanzen. Sie wurde guillotiniert. 

Ähnlich kann es heute Konzernen so gut wie Politikern, Stars in Sport und Medien gehen, deren Ruf durch eine einzige gezielte Kampagne ruiniert wird. Das kostet sie zwar nicht den Kopf, aber womöglich die wirtschaftliche bzw. berufliche Existenz. 

Leben ist Materie plus Information 

Geschichte und Gegenwart belehren einen fortwährend, wie regelhaft manche Muster im Wechsel von Krise, Absturz, Chaos, Neuordnung immer wiederkehren, sei ’s in Familien oder Sozialgebilden unterschiedlicher Größenordnung. Besitz ist offensichtlich bedeutsam für Macht; das Kapital erlangt universellen Zugriff auf Güter und Dienstleistungen aller Art – aber es würde scheitern ohne informelle Macht. Lassen sich die Wechselwirkungen von „Materie und Information“ in den Lebenszyklen der Macht erkennen, beschreiben, gar modellieren?

Bernd-Olaf Küppers war Naturphilosoph an traditionsreichem Ort: nach den ideologisch verfinsterten Jahren von Nationalsozialismus und SED-Herrschaft forschte und diskutierte er an Jenas Universität als freier Geist. Küppers hat außer naturwissenschaftlicher Expertise auch gründliche Kenntnis von der Wissenschaftsgeschichte. „Was ist Leben?“, fragt er in seinem Buch „Die Berechenbarkeit der Welt“ und antwortet mit der Gleichung Leben = Materie + Information. Die spröde Formel erläutert er überraschend kurzweilig: auch ein unerfahrener Leser wird verstehen können, was Physiker, Mathematiker, Biologen und Informatiker zu einem solchen Grundgedanken hinführte. Küppers sagt den Strukturwissenschaften – etwa der Systemtheorie – als Querschnitt und zugleich als Fundament sowohl der Geistes- wie der Naturwissenschaften voraus, dass sie sich der Berechenbarkeit der Welt immer weiter nähern.

Das entspricht wohl dem optimistischen Blick eines Emeritus aus dem Jenaer Universitätsturm. Hinter dem Wunsch nach Berechenbarkeit der Welt verbirgt sich nämlich ganz realer Sprengstoff: der Wunsch, sie zu beherrschen. Das Wissen unserer Zeit wächst gewaltig, die Verhaltensmuster von Steinzeit und Mittelalter wachsen jederzeit mit: gewaltbereit. Umso dringlicher wird die Frage nach den sozialen Strukturen der Zukunft – Küppers‘ Buch wirft sie leider nicht auf. 

Wille und Vorstellung 

Einige Züge von individuellem und Gruppenverhalten habe ich schon betrachtet, und der wichtigste Ansatz dabei war, nicht mehr nur nach Gründen (warum?) sondern nach Zielen (wozu?) im ununterbrochen laufenden Strom von Entscheidungen des Menschen und seiner sozialen Gebilde zu fragen. 

Das Geheimnis hinter – meist unbewussten, intuitiven – Entscheidungen werde ich im Folgenden mit dem Begriff der Antizipation fassen. Es ist ein schillernder Begriff, ich verstehe darunter die – meist unbewusste – Vorwegnahme eines Handlungsziels. „Intuition“ meint ebenfalls dieses Geschehen: Es steuert die Impulse zum Erlangen bzw. Vermeiden. Wie sehr unser Alltag davon abhängt, dass wir unablässig „automatisch“ agieren, werden Sie später an sich selbst beobachten können.

Dass Macht auf besondere Weise antizipiert wird, dürfte niemanden überraschen. Das tägliche Geschehen in den „Sozialen Netzwerken“ bezeugt eindrucksvoll, wie stark die Gier nach Aufmerksamkeit ist – also nach einem Platz an der Sonne informeller Macht. 

Es mag sein, dass der Ruhm von „YouTubern“ und viralen Kurznachrichten flüchtig ist: Wie sehr und intensiv sie von Politik und herkömmlichen Medien in Dienst genommen werden, beweist ihre Eignung als Instrumente im Kampf um die Köpfe der Massen. Geld und Besitz erwirbt damit nur ein winziger Bruchteil der im Netz verbundenen Nutzer. Die Megakonzerne der „Aufmerksamkeitsökonomie“ aber bewegen die Welt und häufen Milliarden auf Milliarden. Sind sie andererseits nicht auch anfälliger als Stahl- und Automobilfabriken? Wie sieht es aus, wen ein solcher Koloss ins Schlingern kommt, gar zusammenbricht?

Wie berechenbar ist die Welt?   

Die Gleichung Leben = Materie + Information bedarf genauerer Betrachtung. Zunächst beinhaltet die “Materie” darin nach der Einstein’schen Äquivalenz E = mc² auch die Energie. Die “Information” umgreift die Gesamtheit der Strategien, die ins Genom von der Evolution eingeschrieben sind und sämtliche Lebensprozesse steuern – nach außen und innen. Der Anschaulichkeit halber könnte man sie denen im “Betriebssystem” eines Computers vergleichen, nur sind sie um astronomische Größenordnungen komplexer und vielgestaltiger. Nicht von ungefähr ist das Genom ein ebenso unerschöpfliches Forschungsfeld wie die Elementarteilchen und die Kosmologie. Längst träumen Forscher und Technologen davon, DNA als Informationsmedium zu nutzen.

Sich mit der informellen Seite der Macht als sozialem Phänomen zu befassen heißt also: auch unbewusste Prozesse im Verhalten von Individuen und Gruppen einbeziehen. Hier kann ich organische Grundimpulse (Atmung, Ernährung, Schlaf) außer Acht lassen; jeder Lebende bedarf ihrer so unvermeidlich wie automatisch. Delegieren kann er sie – besten- oder schlimmstenfalls – an medizinische Apparate. 

Schon anders verhält es sich mit der Reproduktion: Es gehören mindestens zwei dazu. Sogleich zeigen sich Dominanz und Unterwerfung als Impulse informeller Macht. Sie setzen keineswegs verständige Überlegung voraus. Gefühle wie Angst, Neid, Missgunst, Hass, Rachedurst, aber auch Schutzbedürfnis, der Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit, Mitleid triggern oder verstärken sie. Und sie lassen sich tatsächlich an andere – Einzelne oder Gruppen – delegieren. 

Wolfgang Sofsky hat 2019 dazu einen Essay veröffentlicht. “Macht und Stellvertretung” ist eine Phänomenologie politischer Verhaltensweisen und Organisationsformen, obendrein ein wahres Pandämonium sozialer Rollen und zugehöriger Interaktionen.

Nicht von ungefähr wählt Sofsky in einigen Passagen das Theater als Vergleich: Dort wurden von Anbeginn Fragen der Macht und der Moral öffentlich verhandelt. Fast alle Charaktermasken – der Tribun, der Demagoge, der Statthalter, der Tyrann, der Anhänger, der Parteisoldat, der Schildknappe und viele andere – begegnen uns seit der Antike. Unveränderte Mythen und Handlungsmuster machen die Dramen von Aischylos über Shakespeare, Molière, Tschechow… bis in die Gegenwart aktuell. Zugleich ist Theater – wie alle Medien – Instrument informeller Macht: Das Geschehen hinter der Bühne bleibt fürs Publikum im Dunkeln. „Vertretungsmacht ist nicht zuletzt Theatrokratie“ schreibt Sofsky im Kapitel „Publikum“.

Die Qualität der Freiheit 

Unvermeidlich gerate ich an eine schwer fassbare, notwendige Qualität informeller Macht, eine notwendige Voraussetzung für Stellvertretung (egal ob durch Delegierte, Anwälte, Vorstände): Das Vertrauen. Es gründet nur zum Teil auf sachlichen Erwägungen: Intuition und Antizipation bestimmen die Entscheidung des Einzelnen, wem er es schenken, wem verweigern will. Dabei ist er sehr stark von „Herdenimpulsen“, von seiner Zugehörigkeit und Stellung in der Gruppe beeinflusst.

Die Funktionsmechanismen der modernen Medien orientieren sich fast ausschließlich an Quantitäten: Quoten, Reichweiten, Klickzahlen. Sie sind darin genuin kollektivistisch. Die scheinbare Freiheit des Internets, der sozialen Medien insbesondere, jedem eine eigene Stimme zu geben, trügt: Ohne stützendes Kollektiv gehen einzelne Stimmen in der Aufmerksamkeitsökonomie unter. Kurt Tucholsky erkannte lange vor Facebook, Instagram, Twitter – jetzt X, tiktok, YoTube und anderen Portalen:

„Unterschätze nie die Macht dummer Menschen, die einer Meinung sind.“

Sie auf passende politische Ziele zu trimmen, ist das Geschäft von Konzernen, Parteien, NGO. 

Um wahrgenommen zu werden, verfallen nicht wenige „User“ auf provokante, aggressive, bizarre Wortmeldungen; es entstand der Begriff des „Trolls“, der mit tourette-artiger Penetranz überall attackiert. Alsbald stellten alle möglichen Korporationen – auch Staaten – ganze Troll-Armeen in Dienst. „Künstliche Intelligenz“ (KI) wird sie eher verstärken als aufhalten.

Shakespeares Globe Theatre war von buntem Getümmel erfüllt, ein Marktplatz der Meinungen und Gefühle. Wandertruppen bis weit ins 18. Jahrhundert spielten ohnehin auf den Märkten, Aufführungen lebten von Zurufen und passenden Extemporés der Akteure, die Dramen entstanden und veränderten sich im Wechselspiel mit der Menge. Wenige stiegen – wie Molière – auf stehende Bühnen mit barocker, kirchenähnlicher Architektur samt Königsloge empor. 

Es folgte das bürgerliche Theater mit „vierter Wand“, also vom Zuschauer getrennter Bühne, mit in Oper, Schauspiel, Ballett, geteilten Sparten und Regie als Beruf, abhängig von behördlicher Förderung. 

Die Akteure – die meisten sind glücklich, wenn angestellt – sind allen möglichen informellen Zwängen unterworfen. Das Publikum darf mitfühlen, ob zur Unterhaltung oder moralischen Reinigung, aber es tut mehr als nur das. Es handelt fortwährend, indem es lacht, weint, stöhnt, den Atem anhält, raunt – oder mit allerlei Geräusch zu verstehen gibt, dass es unzufrieden ist. 

Schauspieler reagieren darauf; nur wenige leisten sich, Reaktionen aus dem Saal zu ignorieren. Selten löst ein einzelner, vernehmlicher Zwischenrufer Tumult, gar den Abbruch einer Aufführung aus. Das gelingt nur, wenn er „Sprachrohr“ vieler ist, die ihren Unmut delegieren. Natürlich kann auch der Provokateur beauftragt sein – von Partei und Stasi wie in der DDR, von einer NGO (etwa der Feministen oder Tierschützer), einer religiösen Gruppierung, einem konkurrierenden Unternehmen. 

Der Nachweis solcher Interessenvertretung wird immer schwieriger, je komplexer, je weiter ein Medium sich in globale Dimensionen ausdehnt. Um informelle Macht zu erlangen, ist der materielle Besitz des Störers nicht nebensächlich, eher die Qualität seiner Einwürfe. 

Wen vertreten Stellvertreter?

Mancher „YouTuber“ profitiert nur sehr kurz von der großen Aufmerksamkeit für eine provozierende Aktion. Gewinner sind die, denen er zugearbeitet hat. Sie profitieren, wenn sie dauerhaft Aufmerksamkeit neuer Gruppen gewinnen – am Ende womöglich massenhaftes Vertrauen. Sie machen sich zu Stellvertretern und setzen damit einen Prozess der Entfremdung in Gang, den Sofsky eindrücklich beschreibt: Dabei wird informelle Qualität durch Quantität ersetzt. Deutungshoheit über die Wirklichkeit ist nicht mehr im sinnvollen Für und Wider von Argumenten zu erlangen, sondern wird im Machtkampf von Ideologen ausgefochten: „Wir sind mehr!“ ist der plumpste Maßstab.

Wenn Stellvertretung hinfällig wird, weil sie an Konflikten der Realität scheitert und das Vertrauen der Vertretenen verliert, kommt die Zeit der Revolutionen, der Ablösung einer Elite von der informellen Macht. Das Spiel beginnt von Neuem. Mit einem Zitat von Wolfgang Sofsky sei der Exkurs beendet

„Das Drehbuch der Oligarchie und politischen Entfremdung beginnt keineswegs erst, nachdem Ruhe eingekehrt ist. Es war niemals aufgehoben, auch nicht während des Sturzes des alten Regimes. Und es bleibt so lange in Kraft, wie die letzte Revolution noch aussteht, die Aufhebung jeder Stellvertretung.“

Gemeinsam stärker? Oder träger? 

Der Wunsch, sich zusammenzuschließen, ist nun wirklich keine Erfindung der Neuzeit. Er gehört zu einer mustergültigen Strategie des Lebens, das sich zu Kolonien von Bakterien, zu Insektenstaaten und Rudeln organisiert. Wer als Kind nicht die Erfahrung gemacht hat, dass er einer widerwärtigen kleinen Ziege oder einem Bastard von einem Raufbold aus der Nachbarschaft mit dem Papa oder dem großen Bruder drohen konnte, dem fehlt das Gespür für die Tragweite familiärer Schutzmacht. Womöglich lernt er aber auch, frühzeitig die eigenen Kräfte zu trainieren und ihnen mehr zu vertrauen, als jedwedem Kollektiv?

Im Leben vieler Menschen spielt der schützende Familienkreis längst nicht mehr die entscheidende Rolle. Das Individuum ist selbst schutzwürdig, auch die Familie – so sieht es jedenfalls das Grundgesetz. Wenn ich andererseits die Bemühungen der Politiker recht verstehe, dann sollen Väter und insbesondere Mütter künftig noch mehr von der Verantwortung für ihre Kinder entlastet werden, damit sie ihren Platz im Gestell behaupten können. 

In der Obhut angestellter Kinderpfleger und -pflegerinnen, Kindergärtner und -gärtnerinnen, Lehrer und Lehrerinnen wachsen diese dann zu guten Angestellten heran, manche sehen hier den Beweis für die „guten Seiten“ – nämlich die „soziale Sicherheit“ – des untergegangenen „real existierenden Sozialismus“. Den Begriff „unternehmerisches Risiko“ gab es dort nicht. 

Werden die zu perfekten Angestellten erzogenen Kinder eines Tages in ihren Eltern und Großeltern noch mehr sehen, als lästige Kostgänger der Kranken- und Rentenversicherung, für die ihnen allmonatlich große Teile ihres Einkommens entzogen werden?

Darauf würde ich nicht wetten. Und die immer lauter und unverfrorener geführte Diskussion über „Sterbehilfe“ ist eine unheimliche Begleitmusik zur Litanei derer, die versprechen, uns die Sorgen (gemeint ist die Verantwortung) abzunehmen, uns damit vor allem Geld abnehmen – und zum Schluss das Leben.

Dass Kinder inzwischen die allgemeine Angestelltenmentalität verinnerlichen, zeigt sich an ihren Vermeidungsstrategien: Schule ist hierzulande ein Muss, dem fast alle so oft und so lange wie möglich in die „Freizeit“ entkommen wollen. Lernen als Chance, als Geschenk, Lernen als Sport zum lustvollen Befriedigen der Neugier, zum Entdecken der Welt und der eigenen Kräfte – das gibt es wohl nur noch in Ländern, wo es nicht auf Versorgung angestellter Lehrer ein-gestellt, sondern ein kostbares Gut für Lehrer und Schüler ist.

Auf der Suche nach Un-Verstelltem 

Das neue Metasystem „Gestell“ ersetzt nicht Familie, Religionsgemeinschaft, Nation und andere. Sie wirken ineinander, bisweilen konkurrieren sie – wenn sich zum Beispiel der jüdische Mitarbeiter von seinem Chef gemobbt fühlt (oder die Muslima von dem ihren) und gemeinsam mit einem Anwalt vors Arbeitsgericht zieht, um ihn der antisemitischen oder „rassistischen“ Diskriminierung zu beschuldigen. 

Gern werden dabei Begriffe von Rasse und Religion dem politischen Zeitgeist entsprechend vermischt, um sich informeller Macht zu versichern. Und wie bei allen „älteren“ Gemeinschaften hängt die Dynamik der Metasysteme mit den Gefühlen, Konflikten und Strategien der Individuen zusammen. „Gewalt – Macht – Lust“: sie leben sich in allen Metasystemen aus – das Gestell unterscheidet von den anderen, dass es uns dem Untergang der Gattung besonders nahebringt.

Aber die Apokalypse ist eine uninteressante Vorstellung für ein Buch, das neue Perspektiven sucht. Fragen wir lieber nach Chancen: Wie treiben Impulse der Entwicklungsgeschichte uns Menschen heute noch – und meist erfolgreich? Was fixiert uns auf Ziele, die wir erreichen oder vermeiden wollen, wie konstruieren wir fortwährend, was wir für Wirklichkeit halten? Fragen wir, wie die strategischen Muster unserer Wahrnehmung und unseres Handelns beschaffen sind. Finden sich nicht doch Alternativen zu Gewalt und Krieg? 

Antizipation 

Als Kind bewunderte ich die Katze unserer Nachbarin, weil sie auf die Klinke der Küchentür springen konnte und so ohne menschliche Hilfe die Tür öffnete. Die Katze verfehlte die Klinke nie. Sie fixierte vom Boden aus ihr Ziel, spannte ihre Muskeln, wobei sich ihr ganzer geschmeidiger Körper wie eine Faust zu ballen schien, sprang – und balancierte genau jene halbe Sekunde lang auf dem Griff, bis ihr Gewicht ihn nach unten gedrückt hatte. Bevor sie von der schräg stehenden Klinke abrutschen konnte, war sie schon auf allen Vieren gelandet und verschwand mit erhobenem Schwanz im Flur. 

Weder hatte jemand der Katze das Kunststück beigebracht, noch wusste irgendeiner, ob und wie viele Fehlversuche nötig waren, bis das gewitzte Tier es beherrschte. Niemand hatte sie üben, noch beim Sprung auf die falsche, äußere Klinke der Tür scheitern sehen. Auf jeden Fall aber lief  das Türöffnen mit einem unglaublich präzisen Gespür für Rhythmus und räumliche Koordination ab, und soviel ist sicher: bevor die Katze sprang, war das gesamte ebenso komplexe wie stimmige Bewegungsprogramm ihrer Nerven, Sehnen und Muskeln fertig. Sie antizipierte das Ergebnis des Sprunges – die Landung auf der Klinke – und dann startete sie. (aud 21:52)

Auch Menschen – zum Beispiel Artisten – erstaunen uns mit Leistungen körperlichen Antizipierens. Das setzt eine besonders gute Wahrnehmung, innere Koordination und physische Kraft und Beweglichkeit voraus. Schon in der Einleitung habe ich die Propriozeption erwähnt. Antizipation ist aber eigentlich etwas so Alltägliches, dass kaum jemand darüber ein Wort verliert: Bei jedem Aufstehen von einem Stuhl läuft ein komplexes Programm von Bewegungen ab, und es würde Wahrnehmungsfähigkeit und Konzentration überfordern, alle die dabei nötigen Muskelspannungen und -entspannungen jede für sich willentlich zu initiieren.

Die Entdeckung und Verstellung des Körpers 

Ein einfacher Selbstversuch wird Sie überzeugen: 

Legen Sie sich entspannt auf den Rücken und versuchen Sie zu erspüren, an welchen Punkten Ihr Körper den Boden berührt. A  n diesen „Auflagepunkten“ werden Sie die verschieden starke Schwerkraft fühlen, mit der Körperteile – zum Beispiel die Waden – auf den Boden drücken. Stehen Sie nun auf, aber nicht wie gewohnt, sondern indem Sie verfolgen, welchen Muskel Sie zuerst gegen die Schwerkraft einsetzten. Wo genau beginnt das Aufstehen? Schon das ist nicht leicht zu sagen. Wenn Sie wirklich die Bewegung aller Muskeln verfolgen wollen, die zum Aufstehen nacheinander und miteinander agieren, werden Sie ziemlich lange brauchen. Gönnen Sie sich ruhig das Vergnügen festzustellen, mit welch routinierter Lässigkeit ihr Körper normalerweise die Schwerkraft überwindet. Er braucht nichts weiter als ein Ziel: „Aufrecht stehen“. Das Geschehen läuft dann „automatisch“ ab – es sei denn, eine Verletzung behindert es. Dann verändern sich  Haltungen und Bewegungen, es entstehen „Schonprogramme“, mit denen wir Schmerzen vermeiden.

Kinder lernen nicht muskel- und gelenkweise laufen, sondern indem das genetisch angelegte, selbstlernende „Körperprogramm“ das Gleichgewicht aus Schwerkraft, Fortbewegungsdrang und kindlichen Bewegungsmöglichkeiten dynamisch konfiguriert. Das Programm wächst mit dem Kind.

Die Matrix – ein ideenreicher Film 

Vielleicht drängte sich der Gedanke nicht nur mir auf, dass zu dem „äußeren“, mit der Umwelt interagierenden Körper ein „innerer“ Körper gehört, eine Matrix arttypischer und individueller Programme. Diese Matrix ist – mathematisch gesprochen – ins Genom eingefaltet: die informelle Gestalt der Propriozeption. 

Vielleicht drängte sich der Gedanke nicht nur mir auf, dass zu dem „äußeren“, mit der Umwelt interagierenden Körper ein „innerer“ Körper gehört, eine Matrix arttypischer und individueller Programme. Diese Matrix ist – mathematisch gesprochen – ins Genom eingefaltet: die informelle Gestalt der Propriozeption. 

Jede Generation gibt mit den Genen zugleich die von unzähligen Vorläufern erlebten Wechselwirkungen und gewachsenen Verhaltensmuster weiter; zugleich passt sich die Matrix, während sie sich im Laufe eines individuellen Lebens entfaltet, der Umgebung in bestimmten Grenzen an. Sie definiert die komplexen Abläufe von Wahrnehmung, innerer Koordination und Interaktion mit der Umwelt. Es ist sinnvoll, sich eine vieldimensionale Matrix vorzustellen, deren Komplexität immer noch jede Simulationsfähigkeit stärkster Superrechner übersteigt. Sie steuert das innere Gleichgewicht und ist zugleich durch ein System von Sensoren und Aktoren an die Umgebung gekoppelt. 

In Spielfilmen beweisen die Amerikaner den Europäern immer wieder einmal, wie weit sie ihnen dabei voraus sind, wissenschaftliche Arbeit in unterhaltsame Geschichten zu verpacken und neue Gedanken unter die Leute zu bringen. Tatsächlich  sind die „Matrix“- Filme eine Einladung zum Nachdenken über das Zusammenspiel von Gehirn, Körper und Welt. Die astronomische Zahl der im Gehirn wechselwirkenden Zellen, deren jede wieder eine kosmische Dimension innerer Prozesse ablaufen lässt, rechtfertigt ohne weiteres die Vorstellung, dort könne eine ganz eigene Welt bestehen. Mit einem Kunstgriff – so suggerieren die Autoren des Films – wäre diese innere Welt von der äußeren abzukoppeln, zu der unser Körper die Schnittstelle ist. Fände man einen Weg, die Vorgänge der inneren Welt anders als über die Schnittstelle des Körpers und seiner Sinnesorgane zu beeinflussen und miteinander zu verkoppeln, also durch eine direkt mit den Hirnzellen verbundene Matrix, dann könnte man über die Körper als Energielieferanten verfügen und würde das Ich im Ghetto einer imaginären Welt einsperren.

Wer hingebungsvoll mit ihrem hochleistungsfähigen Rechner beschäftigte „Gamer“ beobachtet, dem erscheint diese Utopie ziemlich nah. Sie tauchen mit ihren Gefühlen tief in die virtuellen Welten der Spieleindustrie ein. „Sie wollen ihre Computer perfekt bedienen, um das Geschehen in der virtuellen Welt zu beherrschen.“: Das treibt sie an. Und „bedienen“ erhält doppelten Sinn.  

Die scheinbare Trennung zwischen „innen“ und „außen“ beschäftigt die Menschen seit je. In der Phantasie zeigt uns ja die „Innenwelt“ auch ganz eigene Wege, sie können sich von der Realität sehr weit entfernen – etwa im Traum oder in Wahnvorstellungen. Die Innenwelt birgt ebenso viele Rätsel wie der Kosmos oder die Welt der Elementarteilchen. Auch in ihr scheint es zugängliche und unzugängliche Bereiche zu geben, und Forscher setzen alles daran, in sie einzudringen. 

KI – Simulationen ohne Körper 

Philosophen, Hirnforscher, Ideologen und Politiker wüssten gar zu gern, wie Denken, Fühlen und Handeln der Menschen funktionieren und wie sie zu kontrollieren wären. Auch Vanessa Schulze hätte gern ein sicheres Rezept für die eheliche Treue ihres Mannes, gern verließe sie sich nicht nur auf zufällig Entdecktes und das schiere Fehlen einer Gelegenheit zu Seitensprüngen.  

Sie alle werden diese Kontrolle nie erlangen; sie werden damit leben müssen, immer nur einzelne Ziele zu erreichen und nur für eine begrenzte Zeitspanne. Jeder Handlungsimpuls eines Menschen resultiert aus einem komplexen Geflecht bewusster und unbewusster Strebungen, aus widersprüchlichen, in Sekundenbruchteilen wechselnden Gefühlen samt einem ganzen Spektrum möglicher Strategien. Die Entscheidung über Zeitpunkt und Richtung hängt selten vom Bewusstsein ab; mit anderen Worten: das bewusste Ich, das meist mit dem „freien Willen“ gleichgesetzt wird, hat wenig zu sagen, weil es in einem ununterbrochen ablaufenden Geschehen, in der Selbsterhaltung eines Organismus mit ihren höchst komplexen Wechselwirkungen zwar eine nützliche, aber auch eine ziemlich unbedeutende, häufig sogar eine störende Instanz ist. 

Jeder Sportler, der im falschen Moment nachdachte, was er tun soll, während er den Ball verschoss, den Sprung verpatzte oder beim Rennen aus der Kurve flog, weiß das. „Wer denkt, hat verloren!“: Diesen Spruch gebrauchen wir beim Volleyball, Squash oder Badminton immer wieder, wenn die Zehntelsekunde gedanklicher Entscheidung zwischen Vor- oder Rückhand, Lop oder Schmetterschlag, lang oder kurz gespieltem Ball den Reflex – damit den Fluss andauernden Antizipierens von Bewegungen des Balls und des Gegners – unterbricht und wir den Turn verlieren. 

Hier zeigt sich das seltsame, aber messbare Phänomen, dass Gehirn und Körper eine Handlung längst initiiert haben, wenn wir darüber zu entscheiden meinen. 

Der Quantenphysiker Nils Bohr hat dieses Phänomen anhand eines Duells mit Spielzeugpistolen seinen Mitarbeitern einmal veranschaulicht: Wer zuerst schoss, verlor meistens, wer nur reagierte – natürlich Bohr selbst – war schneller. Der Spaß ist inzwischen mehrfach experimentell untermauert. Während der erste bewusst entscheiden musste, antizipierte der zweite die Aktion. 

Vergangenes und Unvergängliches 

Gehirn und Körper antizipieren einfach ununterbrochen; fast für jede Situation halten sie automatisierte Abläufe – vom simplen Reflex bis zur Ergänzung völlig verstümmelter Texte – vor. Nur ausnahmsweise erleben wir so etwas wie Schockstarre, bleibt uns „die Spucke weg“ oder „das Herz stehen“. Antizipation ist messbar schneller als jede gedankliche Entscheidung, aber auch mit Fehlerrisiko behaftet, salopp gesprochen „quick and dirty”. 

Wie unvermeidlich Menschen im Alltag antizipieren, also Urteile fällen und Entscheidungen treffen, ohne für komplexe Sachverhalte auch nur annähernd vollständige Informationen zu haben – geschweige sie bewerten zu können –, zeigt sich beim Einschätzen Fremder. Der „erste Eindruck” prägt beider nonverbales Verhalten augenblicklich – „quick”. 

Es sind Rituale der Begrüßung, kulturell tief eingeprägte Konventionen, „display rules” (dazu im nächsten Teil mehr), die verhindern, dass es in der Folge zu oft dirty wird und zu schwer korrigierbaren Zusammenstößen kommt.
 

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