Die westlichen Denkschulen haben eins gemeinsam: Kohle und Öl müssen auf null gebracht werden, Gas ist eine Übergangsenergie und das Ziel ist eine Energieversorgung durch Wind, Sonne und Kernenergie.
Da man natürlich weiß, dass Sonne und Wind unzuverlässige Gesellen sind, will man dieses Problem durch eine extreme Überproduktion von Sonne und Windenergie lösen, die über grünen Wasserstoff und eventuell über eine neue Batteriegeneration zwischengespeichert werden sollen. Die Welt der Energie ist danach nur noch elektrisch. So versucht man den um 20 Prozent steigenden Energiebedarf einer wachsenden Menschheit mit den Null-CO2-Zielen des Weltklimarats für 2050 zu harmonisieren.
Eine ganz andere Denkschule findet man jedoch in Südostasien, Japan, China und dem Mittleren Osten, und von ihr will ich Ihnen heute etwas mehr berichten (alle Quellen dazu finden Sie in meinem neuen Buch „Die große Energiekrise“). Ihr Ansatz ist gekennzeichnet von einer anderen Bewertung der fossilen Energien.
Blauer statt grüner Wasserstoff
Selbstverständlich wollen die Energieszenarien dieser Länder auch die erneuerbaren Energien und die Kernenergien ausbauen. Doch sie sind weit davon entfernt, sich von den fossilen Energieträgern zu lösen. Stattdessen wollen sie sie weiter nutzen und gleichzeitig CO2-arm machen.
Sie setzen beispielsweise statt auf grünen Wasserstoff, der aus der Elektrolyse von Wasser durch Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt wird, auf blauen Wasserstoff aus Kohle, Öl und Gas. Er wird hergestellt, indem diese fossilen Energieträger mit Wasserdampf zur Reaktion gebracht werden.
Dadurch entstehen am Ende Wasserstoff und CO2, das man aus dem Abgasprozess entfernt (CCS) oder zur Herstellung von Kohlenwasserstoffen (CCU) (siehe dazu auch meinen Artikel hier im Sandwirt vom Mai 2023) nutzt. Letztere werden zur Herstellung von Kunststoffen oder anderen Produkten benutzt, die sonst aus Öl direkt hergestellt wurden.
Eine andere Perspektive
Während man in den westlichen Industriegesellschaften, Kohle, Öl und Gas als Feindbilder einer kapitalistischen Gesellschaft identifiziert hat, sehen der Mittlere und der Ferne Osten die zukünftige Energiewelt aus einer anderen Perspektive. Natürlich hat das mit den Ausgangsbedingungen zu tun.
Japan ist ein Land, das eine Knappheit nicht ändern kann: seine Fläche. Dem Land ist bewusst, dass erneuerbare Energien im Vergleich zu fossilen Energieträgern und der Kernenergie einen unermesslich höheren Flächenbedarf haben.
Der Platzbedarf von Windkraftwerken ist etwa 1000 Mal so groß wie die Fläche eines Kernkraftwerkes, wenn man die gleiche elektrische Arbeit zum Maßstab nimmt. Ohne Kernenergie und Import von Öl, Gas, Kohle oder Wasserstoff wird Japan seinen Energiebedarf nie befriedigen können. Die Regierung wusste schon, warum sie nach Fukushima nicht den deutschen Weg verfolgte, sondern schnurstracks zurück zur Kernenergie fand.
Nationale Interessen
China wiederum sitzt auf einem riesigen Kohle- und Schiefergasschatz. Da liegt es nahe, dass das Land eher einer Energiestrategie zuneigt, die die erforderliche CO2-Absenkung mit den nationalen Interessen in Einklang bringt. So ist es nicht überraschend, dass China die Abscheidung und Sequestrierung (Deponierung im tieferen Untergrund) von CO2 in großem Stil vorantreibt.
2022 wurden allein für die Region Shanghai mit CO2-Emissionen von 1,7 Mrd. Tonnen, davon der überwiegende Teil aus Kohlekraftwerken, salzwasserführende Sedimentgesteine im chinesischen Meer vor Hongkong identifiziert. Dort sei Raum für 624 Mrd. Tonnen CO2, so Wissenschaftler der chinesischen Petroleum-Universität von Tsingtao, was für 367 Jahre der stationären Emissionen der Region reichen würde.
Zum Vergleich: Deutschland ist nicht in der Lage, für seine 0,7 Mrd. Tonnen CO2 eine sichere Verpressung im Tiefengestein, beispielsweise unter der Nordsee, auch nur zu untersuchen. Denn in Deutschland ist die CO2-Verpressung verboten. In China wurde am 17. Juni 2022 das erste größere CO2-Sequestrierungprojekt im Land fertiggestellt. Noch sind es nur 0,3 Mio. Tonnen, die jährlich im Enping-Ölfeld untergebracht werden.
Chinas Fünfjahresplan 2021–2025, der im März 2022 veröffentlicht wurde, sieht für 2025 mehr als 4,6 Mrd. Tonnen Kohleförderung vor. Im Jahr 2020 wurden noch 3,9 Mrd. Tonnen produziert. Die Differenz ist schon atemberaubend. Es entspricht einem Zuwachs an CO2-Emission von 2,5 Mrd. Tonnen, dem Vierfachen der Gesamtemission Deutschlands. Ohne zumindest eine teilweise CO2-Sequestrierung wird China unter immer größeren Druck der Weltgemeinschaft kommen. Noch profitiert die zweitgrößte Exportnation der Welt von dem UNO-Status eines Entwicklungslandes und muss daher keine CO2-Verminderung erreichen. Das wird sich nicht mehr lange durchhalten lassen.
Ehrgeiz vor Realität
Auch bei den Ölstaaten des Mittleren Ostens ist erwartbar, dass sie sich eher auf eine CO2-Abscheidestrategie einlassen, als ihre Bodenschätze im Wüstensand zu belassen. Das bedeutet ja nicht, dass sie nicht auch eine stärkere Nutzung von Wind und vor allen Dingen Solarenergie ins Auge fassen. Dabei lassen sie sich aber von rein ökonomischen Faktoren antreiben.
Wenn es sich rechnet, machen sie es. Ihnen ist es nie in den Sinn gekommen, Wind und Sonne um ihrer selbst willen zu fördern wie Deutschland, das über 20 Jahre über 500 Mrd. € Subventionen in die Installation von Wind- und Sonnenenergieanlagen gesteckt sowie Kernkraft-und Kohlekraftwerke abgestellt hat und nun unter den höchsten Strompreisen der Welt leidet.
Amin Nasser, der CEO von Saudi Aramco, dem größten Ölkonzern der Welt, kritisierte im März 2022 nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine das westliche Gruppendenken, „dem es an Verständnis für das Energiegeschäft oder für das Ausmaß und die Komplexität der Herausforderungen mangelt. Wenn alternative Energiequellen die Last hätten schultern können, hätten sie es getan. Aber der Ehrgeiz ist der Realität immer noch weit voraus.”
Energiekrise auf Grund zu geringer Investitionen
Im Jahresbericht von Saudi Aramco ist die zum Westen unterschiedliche Energiedenkweise klar nachzulesen. Bis 2030 will Saudi-Arabien zum führenden Gas-Produzenten der Welt werden durch eine 110-Mrd.-Dollar-Investition in das größte Schiefergasprojekt außerhalb der USA am Standort Jafurah, unweit des größten Ölfeldes der Welt, Ghawar. Die Verringerung des CO2-Ausstoßes soll mittelfristig mit blauem Wasserstoff auf Erdöl und Erdgasbasis erfolgen. Der Wasserstoff soll in Form des Wasserstoffträgers „blaues Ammoniak“ exportiert werden.
Allerdings, so Nasser, wird es vor 2030 keinen blauen Ammoniak für den Export geben. Er dämpft damit alle Spekulationen, die schon in den nächsten Jahren auf Wasserstoff- oder Ammoniakimport nach Deutschland setzen. Nasser verfolgt beides: Investitionen zur Erschließung fossiler Quellen und in neue Energien. Das sind für ihn Kernenergie und erneuerbare Energien, um den wachsenden Energiebedarf zu decken.
Die Dämonisierung der Öl- und Gasindustrie, so Nasser, führt zu einer Öl- und Gaslücke. Die Ölförderländer haben nur noch eine freie Kapazität von zwei Prozent des Weltbedarfs, wenn nicht neue Vorkommen erschlossen werden. Nasser: „Der Russisch-Ukrainische Krieg verdeckte, was ohnehin passiert wäre. Wir gehen durch eine Energiekrise auf Grund zu geringer Investitionen. Und es begann spürbar zu werden nach der Pandemie“. Und weiter: „Wenn Du keinen Plan B fertig hast, dämonisiere nicht Plan A.“
Japans Energiestrategie
China, Indien, die Ölstaaten, Russland und Japan unterscheiden sich im Tempo und in der Auswahl der Technologien von den Zielen westlicher Staaten. Es ist den europäischen Politikern, die über Wohl und Wehe unserer zukünftigen Energieversorgung zu entscheiden haben, zu empfehlen, einen Blick in den Energie-Ausblick 2022 des renommierten japanischen Instituts für Energieökonomie (IEEJ outlook 2022) zu werfen. Ich tue es für sie und stelle die von der westlichen Denkschule abweichende Energiestrategie Japans vor.
Im Unterschied zu allen Analysen der Internationalen Energieagentur, der BP oder der Shell erwartet das Japanische Institut für Energiewirtschaft IEE in seinem wahrscheinlichsten Szenario aus dem Jahre 2021 einen leichten Anstieg der CO2-Emissionen bis 2050 (siehe folgende Abbildung). Bei Anwendung aller heute möglichen CO2-Vermeidungstechnologien wird die CO2-Emission um ein gutes Drittel reduziert (fortgeschrittene Technologien), während ein noch stärkerer Ausbau der Anwendung blauen Wasserstoffes und CCS (Kohlenstoffkreislaufwirtschaft) zu einer Halbierung der CO2-Emissionen führt.
Selbst in diesen beiden ambitionierten Szenarien wird der Anteil der fossilen Primärenergien Kohle, Öl und Gas im Jahre 2050 immer noch bei 60 Prozent liegen (heute noch 80 Prozent).
Dieser sinkende Anteil trotz steigenden Energieverbrauchs insgesamt wird vornehmlich durch den Ausbau der Kernenergie und der erneuerbaren Energien erfolgen. Dass die CO2-Emissionen trotzdem stärker sinken, liegt an einem massiven Ausbau von CCS und blauem Wasserstoff. Japans Energie-Institut IEEJ sieht Kohle, Öl und Gas unideologisch: „Fossile Energien sind nicht böse, sie können durch Dekarbonisierung zur Verringerung der Emissionen führen“. Japanische Automobilfirmen setzen auf emissionsfreie synthetische Kraftstoffe. Der japanische Staat hat im April 2022 rund eine Milliarde Dollar für die Entwicklung solcher Kraftstoffe zur Verfügung gestellt.
Ein japanisches Konsortium hat in den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Anlage gebaut, um Wasserstoff aus Erdgas abzuspalten. Das dabei entstehende CO2 wird in Ölquellen zur Druckerhöhung bei der Förderung eingesetzt. Der Wasserstoff wird zu Ammoniak umgewandelt und nach Japan transportiert. Dort wird das Ammoniak zur Stromerzeugung verbrannt. Die dabei massiv entstehenden Stickoxide werden abgeschieden. Japan importiert bereits grauen Wasserstoff aus Australien und aus Brunei.
Starke Stellung der Kohle
Die Aufteilung auf die verschiedenen Primärenergiequellen zeigt in allen Szenarien, dass weltweit der Einsatz von Kohle zurückgeht, Öl bedeutend bleibt und der Zuwachs im Wesentlichen durch Gas und Erneuerbare abgedeckt wird. Die in allen Szenarien verbleibende starke Stellung der Kohle überrascht, da immerhin 40 Länder auf der Weltklimakonferenz Ende 2021 in Glasgow zugesagt haben, nicht mehr in neue Kohlekraftwerke zu investieren und alte Kohlekraftwerke schrittweise stillzulegen. China, Indien, USA und Russland gehörten aber nicht zu den Unterzeichnern. Zwei Drittel aller Kohlekraftwerke stehen in China, Indien und den USA.
Das Verharren der Kohle auf hohem Niveau ist insbesondere den Kohleländern China, Indien und Südostasien geschuldet. Die Kohleflotte in diesen Regionen ist sehr jung und wird sogar noch in diesem Jahrzehnt erweitert. Von den 1100 GW Kohleflotte in China sind über 90 Prozent zwischen 2000 und 2021 gebaut worden, mehr als die Hälfte ist jünger als zehn Jahre. 200 neue Kraftwerke sollen noch hinzukommen.
Das Durchschnittsalter aller Kohlekraftwerke in China ist 13 Jahre, in Asien 16 Jahre, in Europa 35 Jahre und in den USA 40 Jahre. Auf Grund des Zubaus wäre das Durchschnittsalter der Kohlekraftwerke in den Entwicklungsländern (einschl. China und Indien) 2050 immer noch nur bei 25 Jahren. Da ist es wenig wahrscheinlich, dass China und die Entwicklungsländer Kraftwerke 2050 mit einem Alter von weniger als 40 Jahren abstellen.
Bemerkenswerter Kontrast
Umso wichtiger wäre es, in Deutschland und Europa die Technologien zur Abscheidung und Tiefenverpressung von CO2 aus Kohlekraftwerken zu entwickeln, damit sie auch in den Entwicklungsländern zur Anwendung kommen. Denn ausschließlich dort (einschl. China) findet der Zuwachs an Primärenergie statt, während in den Industriestaaten der Energieverbrauch leicht zurückgeht.
Es besteht auf jeden Fall ein bemerkenswerter Kontrast zwischen der Politik der meisten westlichen Staaten, die ihren Bürgern suggerieren, dass bis 2050 oder noch früher der Energiebedarf zu 100 Prozent durch erneuerbare Energien befriedigt werden kann, und der Politik der südostasiatischen Staaten und dem Nahen Osten, die immerhin für den Großteil der CO2-Emissionen verantwortlich sind.
Eine deutsche Vorreiterrolle nach dem Motto „Wenn wir vorangehen, folgen die anderen unserem Weg“ lässt sich jedenfalls bislang nicht erkennen: Es gibt kein Land auf der Welt, dass seinen Energiebedarf zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien decken will. Deutschland ist der Geisterfahrer auf dem weltweiten Energiepfad.