Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.
Der menschliche Kosmos #12
Der sarkastische DDR-Spruch „Wenn jeder jeden bescheißt, kommt keinem was weg“, wirft ein Schlaglicht auf organisierte Verantwortungslosigkeit als Grundübel sozialistischen Wirtschaftens. Korruption, Vetternwirtschaft, verwahrloste und vandalisierte öffentliche Räume begleiten den Niedergang. Die Gleichheitsversprechen kollektiver Herrschaft verschleiern ungehemmt egozentrisches Streben und narzisstische Persönlichkeiten. Die serienweise platzenden Skandale an der Spitze spiegeln eigentlich nur ein Grundverhältnis: Wir sind Anspruchsberechtigte. Für die Schäden, für die Folgen verantwortlich sind andere.
Alle Menschen sind gleich – aber manche sind gleicher
Nicht von Ungefähr spiele ich mit diesem Titel auf George Orwells „Farm der Tiere“ an. Der Schwindel von „Gleichheit“, „sozialer Gerechtigkeit“ und „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wirkt bis heute, seine Nutznießer in Politik und Medien erheben und behaupten sich nicht zuletzt mittels Gesinnungskitsch und Propaganda als Herrscher. Wie die Schweine auf Orwells Farm profitieren sie von der Geduld und Gutgläubigkeit der „Gewohnheitstiere“, deren Fleiß sie ausnutzen.
Bei Orwells Tieren helfen Zaumzeug und Parolen, Hilfstruppen werden herangezüchtet, die an der Macht teilhaben dürfen: Sonderrechte und Auszeichnungen annullieren die hehren Grundsätze von Gleichheit und Verantwortung füreinander. Auf die „kapitalistische“ Farmwirtschaft der „Zweibeiner“, hinweggefegt von der Revolution der „Vierbeiner“, folgt der „Animalismus“ – ein Gemeinwesen der Tiere, das bald Züge der Sowjetunion annimmt; die Schweine werden zur quasi feudalen Führungskaste, die sich schließlich von den alten „Ausbeutern“ nicht mehr unterscheidet.
Was mir an der bitterbösen Allegorie Orwells sogleich auffiel, ist das Nebeneinander von Herrschaftsformen: feudaler, kapitalistischer und sozialistischer. In der „modernen Welt“ hat sich daran nichts geändert. Selbst die Sklaverei lebt – wenn auch nicht in staatlichem Habitus – fort, und nichts ist alltäglicher als Tribalismus und seine Rituale. Jedes Fußballstadion der Welt zeigt es.
Dominanz und Unterwerfung – Subalternität – sind Grundmuster. Das verbindet sie mit allen als Gestelle organisierten wirtschaftlichen, politischen und medialen Zusammenschlüssen.
Die Sankt-Florians-Moral
„Linke“ oder sonstwie „kapitalismuskritisch“ Bewegte – Schulschwänzer, Straßenkleber, Kultur besudelnde, Flughäfen und Bahnlinien sabotierende „Aktivisten“ mit ihrem unerschütterlichen Sinn für „Klimarettung“ und soziale Gerechtigkeit wandeln gern auf bequemem Sport- oder Outdoor-Schuhwerk. Marke oder nicht: fast alles kommt aus Billiglohnländern. Von den Schauplätzen ihrer Heldentaten führt der Weg an die Imbissbude; sie verzehren billige Lebensmittel und trinken Coca-Cola. Wenn sie Pech haben, stecken in Würsten und Frikadellen große Anteile minderwertigen Fleisches. Die Lebensmittelbehörde kann nicht überall sein; auch für manch fleischverarbeitenden Betrieb ist Geiz geil und wer sich an Regeln hält, blöd.
Abends sehen sich die Kämpfer fürs Klima und die soziale Gerechtigkeit selbst mit ihren Fahnen, Spruchbändern, Schmier- und Klebeaktionen im Fernsehen und sind sehr zufrieden. Politik und Medien reagieren selbst auf kriminelle Tatbestände beschwichtigend bis wohlwollend. Einvernehmlich dürfen sich alle über „Massentierhaltung“, billige osteuropäischen Arbeitskräfte in Wurstfabriken, den neuesten Lebensmittelskandal, ereifern. Sie fordern härtere Regeln und Strafen, noch mehr behördliche Aufsicht und Schutz vor Lohndumping. Das hindert sie natürlich nicht, staatliche Übergriffe zu beklagen – falls sie selbst geschurigelt werden, nicht der politische Gegner.
Rühren lassen sie sich gern von „investigativen“ Geschichten über deutsche Kinder, die „unter der Armutsgrenze“ leben. Erschüttert blicken sie in eine Wohnung, wo nichts als Couchgarnitur, Betten, Fernseher, Waschmaschine, Kühlschrank, etliche elektronische Spielsachen und sonstige Segnungen der Konsumgesellschaft von tiefstem Elend künden und eine sichtlich dem Bacchus huldigende Mutter mit der Zigarette in der Hand erklärt, sie müsse halt ihre fünf Kinder zur kirchlichen Suppenküche schicken, weil am Monatsende einfach kein Geld fürs Essen da sei. Bücher sind in dem „Elendsquartier“ nicht zu sehen.
Es ist in all den von Gesinnungskitsch strotzenden Mitleidsfilmchen und -artikelchen auch nie von der eigentlichen Armut die Rede, unter der die Kinder leiden: von der geistigen und emotionalen Armut in einer Gesellschaft, die Vermögen nur in Geldwert, Glück in den Lebensumstand fasst „Arbeit zu haben“, was eigentlich meint: an-gestellt zu sein. Die Wortwahl aber ver-stellt die Verhältnisse: Im Englischen ist die freizeitorientierte Mutter, die offensichtlich wenig davon hält, Dienst am sozialen Vermögen ihrer Kinder zu leisten, „un-employed“, also „nicht angestellt“. Im Deutschen ist sie arbeitslos. Was für ein Unglück, und was für ein schlagendes Argument zugunsten der Fürsorgeindustrie!
Der sarkastische DDR-Spruch „Wenn jeder jeden bescheißt, kommt keinem was weg“, wirft ein Schlaglicht auf organisierte Verantwortungslosigkeit als Grundübel sozialistischen Wirtschaftens. In beinahe jedem Gestell finden sich „Lebenskünstler“, die dem 10-A-Prinzip folgen: Alle Anfallenden Arbeiten Auf Andere Abschieben, Anschließend Anscheißen – Aber Anständig!
Natürlich komme ich nicht als Erster, geschweige Einziger dem Grundübel der „sozialen Sicherungssysteme“ auf die Schliche: Fürsorge schafft und verfestigt Bedürftigkeit.
Zu Tode versichert
Wer oder was soll wogegen gesichert werden? Menschen gegen Naturkatastrophen, Hunger und Durst, Kälte, Krankheit, soziale Isolation. Sehr einsichtig. Aber Angst vor derart elementaren Bedrohungen muss hierzulande kaum jemand haben. Läuft es nicht eher darauf hinaus, sich gegen das Übernehmen von Verantwortung für sich und andere Menschen zu versichern? Bestärken sozialistische, kollektivistische, etatistische Ordnungen womöglich narzisstische Strebungen?
Die Stärke der Gemeinschaft zugunsten der Schwachen einzusetzen – das war das Ziel der sozialen Korporationen; sie nahmen dabei nur die natürliche Strategie von Schwärmen und Herden auf. Aber deren Ein-stellung auf mechanische Denk- und Organisationsstrukturen, wo jeder Krise mit dem Hebelzug an korporativen Machtinstrumenten oder nötigenfalls dem Einbau weiterer Hebel und Zahnräder begegnet wird, hat monströse Gestelle heranwachsen lassen: Kranken-, Renten-, Arbeitslosen-, Lebens-, Unfall-, Rechtsschutz-, Haftpflicht-, Hausrat-, Glasschutz-, Feuer- und zahllose weitere Versicherungen, die ihrerseits gegen Risiken rückversichert sind.
Zugleich werden die so erschaffenen Bastionen mit Truppen von – selbst ermächtigten – „Nicht-Regierungs-Organisationen“ verteidigt. Sie streben die Deutungshoheit über „soziale Gerechtigkeit“ an und werden von Regierungen mit Steuern finanziert. Unversehens degenerieren sie zu reinen Geldmaschinen, wobei sie ihre informelle Macht mit Galionsfiguren aus den Schulen des Marketings aufhübschen. Manchen huldigen die Medien.
Der Hauptzweck von Versicherungen, Menschen gegen unkalkulierbare Lebensrisiken zu schützen, ist gegenüber ihrer Selbsterhaltung, vulgo dem Gewinnstreben, längst zur Nebensache geworden. Die Versicherungsnehmer üben ihre Art „sozialer Gerechtigkeit“: Ein kleiner privater Zugewinn nebenbei durch einen Versicherungsbetrug zu Lasten der anderen Prämienzahler wird von vielen ohne Gewissensbisse „organisiert“.
Wer sich versichert, tut’s füglich gegen andere. Rechtsschutzversicherungen boomen. Was die Kassen der Assekuranzen zum Klingen bringt, ist vor allem die Angst, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein: Mächtige Gestelle, der von den Parteien usurpierte Staat zuvörderst, sollen – stell-vertretend – alle Probleme lösen.
Ist die Gesellschaft trotz oder wegen dieser universellen Versicherungsstrategie derweil vor allem durch Angst gesteuert? Rund um die Uhr leiern die Medien ihre Gefährdungslitanei, „The German Angst“ hat lächerliche Berühmtheit. Deutschlands Nachbarn wissen immer noch nicht genau, ob sie über uns lachen oder uns fürchten sollen.
Korporatismus und Etatismus
Zögert überhaupt noch jemand, seinen Besitzstand, egal welcher Form, zu sichern, indem er jedes nur irgend verfügbare korporative Instrument nutzt? Ob es um die Karriere in Politik, Behörde oder Großunternehmen geht oder um nachbarschaftliche Beziehungen: wer kann, setzt seine Ziele mittels korporativer Macht durch. Wer sich von Partymusik gestört fühlt, klingelt nicht beim Nachbarn, er ruft die Polizei. Die vom Ehemann betrogene Schauspielerin mobilisiert womöglich die Presse,um ihr höchst privates Leiden in den Rang einer gesellschaftlichen Katastrophe zu erheben.
Das läuft in herkömmlichen Medien wie in den „sozialen“: „Moral“ ist ein heiß umkämpftes und gewinnbringendes Wirtschaftsgut.
In bleibender Erinnerung ist der öffentlich-rechtliche Talkmaster mit der Lizenz zum Denunzieren. Nimmermüde arbeitete er sich im Studio an moralischen Verfehlungen ab. Er selbst bezahlte Drogen und Prostituierte mit Geld, das den Zuschauern für die von der Verfassung vorgesehene „kulturelle Grundversorgung“ abgefordert war.
Dank Zwangsbeiträgen bombensicher versorgte Verwalter öffentlich-rechtlicher Programme schreiben vor, womit versorgt wird, und lassen es sich von einer an-Gestellten Medienforschung bestätigen, die natürlich ebenfalls von den Beiträgen lebt. Mit ihrem Segen durfte sich der Doppelmoralist im Fernsehen unverfroren als Richter präsentieren – er brachte Quote. Seine Lebensgefährtin, gut bekannt für Quoten im „Schmuddel-TV“, ließ er auch gleich mit einem gut dotierten Sendeplatz versorgen. Fast zur selben Zeit deckte ein „investigatives“ Magazin des Senders „schonungslos“ auf, wie Personalräte eines Autokonzerns ihre Macht zu Lustreisen nutzten. Oh! über die Korruption!
Das Einkommen der Häuptlinge von Rundfunkanstalten finanziert ein Leben in größerem Luxus; trotzdem trieb einige die Gier zu kriminellem Handeln – ob beim Geschäft mit dem Sport oder beim „Kinderkanal“. Der Skandal um private Luxusausgaben aus den Zwangsbeiträgen des RBB kostete die Intendantin ihren Job – sie prozessierte danach um eine exorbitante Altersversorgung.
Unfälle? Zufälle?
Die serienweise platzenden Skandale an der Spitze spiegeln eigentlich nur ein Grundverhältnis: Wir sind Anspruchsberechtigte. Für die Schäden, für die Folgen verantwortlich sind andere. Für die Erziehung der Kinder sind Kinderkrippe, -garten, die Schule oder die Berufsausbildung zuständig. Eltern müssen sich für die Fehlleistungen ihrer Sprösslinge selten in Haftung nehmen lassen, Manager und Politiker für Fehlleistungen mit Milliardenschäden so gut wie nie. Jeder Jugendliche hat Anspruch auf einen Ausbildungs- oder Studienplatz, egal wie sein Sozialverhalten von Eltern geprägt wurde, egal wie viel Ehrgeiz er in seine schulischen Leistungen investiert. Kann er seine persönlichen Fähigkeiten und Ansprüche ins Verhältnis setzen und Konflikte mit sprachlichen Mitteln bewältigen? Nein? Er pöbelt und schlägt? Dann braucht er staatliche Fürsorge.
Probleme und Konflikte werden sozialisiert, Ansprüche und Gewinne privatisiert. Fast jeder versucht, sich mit der Macht von Korporationen – in der Regel mit der „seiner“ Firma, Behörde, Organisation, Religionsgemeinschaft, neuerdings der von „Sozialen Netzwerken“ oder eines „Flashmobs“ – zu bewaffnen, um seine Interessen durchzusetzen. Manchmal reicht schon, dass er sich Vorteile davon verspricht.
Die Mehrheit hat sich daran gewöhnt, dass fast für jeden Konflikt eine Organisation – sei sie staatlich, von Kirchen oder privat finanziert – Lösungen parat hält und ihr die Verantwortung abnimmt. Es wird erwartet, dass jedem einzelnen auf jede Frage eine Antwort gegeben wird: von irgendeiner zuständigen Korporation. Wenn sich auch noch sicherstellen ließe, dass er ruhig bleibt, wenn ihm die Antwort nicht gefällt, wäre das der totale soziale Frieden.
Einsam in der Eiapopeia-Welt
Beim Einzelnen Menschen wird dieser „Frieden“ immer wieder einmal gestört, wenn es seinen Körper nach ganz persönlicher Zuwendung verlangt. In einer gegen alle Lebensrisiken versteiften Gesellschaft, wo jeder hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt ist, bleibt das Verlangen nach Nähe und Berührung doch häufig ungestillt. In sicher-gestellten Partnerschaften (bisweilen trifft tot-gestellt zu) sehnen sich Frauen nach „Schmetterlingen im Bauch“. Was für ein ausgelutschtes, die Macht der Triebe verniedlichendes Stereotyp! Männer lüstert es nach haltlosem Sinnenrausch. Die Haut und die Geschlechtsorgane – vor allem das im Kopf – samt der ihnen unauflöslich verbundenen Seele wollen, dass etwas geschieht. Aber es darf nichts passieren!
Dafür gibt es dann gratis oder für Geld Partnervermittlungen, eine „Kuschelgruppe“ – oder die Sado-Maso-Swingerclubs mit angeschlossenem Puff und Studio für Piercing, Branding, Tätowierungen und Schamhaarcoiffure.
Fragen Sie sich an dieser Stelle bitte einmal ganz ehrlich, was Sie von Prostitution halten. Könnte das nicht eine ganz normale Dienstleistung sein wie jede Physiotherapie? Mit ordentlicher Ausbildung, Berufsschule, Abschlusszeugnis und entsprechendem Ansehen in der Gesellschaft?
Verachten Sie Frauen, die sich „hochgeschlafen“ haben? Schafft die „Frauenquote“ Abhilfe?
Haben Sie Mitleid mit Huren aus dem Osten, aus Afrika oder Brasilien?
Das Sexualverhalten gibt sehr tiefe Auskünfte über den Zustand unserer Kultur – und über das, was wir den „sozialen Frieden“ nennen. Über wenig anderes wird mehr geredet; in Politik und Medien wird dabei noch mehr gelogen und geheuchelt als im Privaten.
Bleibt wenigstens der Versuch, auch noch die Wunden der Liebe zu sozialisieren, erfolglos? Es lohnt sich, hierzu das 2005 erschienene Buch „Neosexualitäten – Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion“ des Sexualforschers Volkmar Sigusch zu lesen. Er hat einige diesbezügliche Begehrlichkeiten und ihre politischen Folgen vorhergesehen.
Politische Topographie: Plattgestempelt
Wenn Marx, Engels und Lenin etwas geschafft haben, außer Ideen zu geben an die „Arbeiterbewegung“ – in Wahrheit eine Bewegung abhängig Beschäftigter, heute im Wesentlichen eine Interessenvertretung der An-Gestellten –, dann ist es dies: Sie haben die Deutungshoheit über den Begriff des „Sozialen“ mit bestimmten Parteien verknüpft, die ein Zufall der Geschichte auf der linken Seite des Parlaments zu sitzen kommen ließ. „Links“ erscheinen seither die Vorreiter und Hüter des „Sozialstaates“; er korrigiert die „naturwüchsigen“ Ungerechtigkeiten.
Aber der fürsorgliche Staat ist nicht zuletzt eine Erfindung Bismarcks. Er ist zutiefst konservativ und patriarchalisch, und er verharrt in den alten Schemata von Obrigkeit und Untertanen mit begrenzter Mündigkeit; er belohnt Konformität, er belohnt das Mittelmaß. In den Köpfen hat sich trotzdem die Dichotomie zwischen „Links“ und „Rechts“ festgesetzt. Über einen Wandel der Bedeutungen von „sozial“, „fortschrittlich“ oder „konservativ“ wird nicht nachgedacht. Mit Klischees lebt es sich nun einmal leichter.
Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass der „Klassenkampf“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus, der im Kalten Krieg seinen Gipfel zu erreichen schien, eine Fiktion ist, denn beide Seiten sind innerhalb des Gestells untrennbar aneinander gebunden, sie haben sich in ihm entwickelt, sie erhalten es – jeweils dem eigenen Überleben zuliebe – aufrecht und können ohne einander so wenig leben wie das Ehepaar an der Köttelbecke in Teil 2 des „Kosmos“.
Der letzte Beweis ist das vollkommene Scheitern des „sozialistischen Weltsystems“, wo der Versuch, das freie Unternehmertum auszurotten und die Wirtschaft ausschließlich von den An-Gestellten aus Staat und Partei führen zu lassen, als Katastrophe endete. Nun haben sich Russen und Chinesen „ihren“ Kapitalismus zurückgeholt – die Ausbeutungsexzesse des 19. Jahrhunderts eingeschlossen – mit dem gleichen Personal, das vorher als Staats- und Parteibürokratie die Wirtschaft ruinierte, und nicht nur russische, chinesische, ukrainische… Oligarchen nutzen gerne Methoden der „Wertschöpfung“ durch organisierte Kriminalität. Aber immer noch spukt in den Köpfen die Idee, dass wer für An-Gestellte eintritt, auf Seiten der sozialen Gerechtigkeit kämpft.
In dieser Falle sitzen längst auch die Vertreter der „christlich-sozialen“ Richtungen: Sie folgen der Deutungshoheit der An-Gestellten-Parteien und Gewerkschaften meist schon deshalb, weil sie selbst An-Gestellte sind. Die Mitleids- und Fürsorgerituale halten ihnen das schlechte Gewissen vom Leib. Sie lassen sich dafür gut bezahlen, und die hermetischen Systeme für ihre Versorgung nehmen ihnen die Angst, selbst ins Unglück zu geraten. Ängstlich sind sie dabei andauernd: für irgendetwas in die Verantwortung genommen zu werden. Sie übersehen in all ihrer ängstlichen Fürsorglichkeit eben jenen systematischen Fehler ihrer Strategie: Fürsorge und Bedürftigkeit stehen in einer Wechselbeziehung. Es ist das Wesen dieser wie jeder Interaktion.
Leben wie in China – wenn Politbürokraten träumen
Was ist sozial gerecht? Müssen nicht alle gleichgestellt sein? Wie hoch muss dann das Bürgergeld ausfallen?
Gegen den Mindeststandard „Wohnung und E-Mobilität vom Staat für alle“ gäbe es nichts einzuwenden, außer einem: Er wäre sozial ungerecht gegenüber denjenigen, die aus eigener Verantwortung heraus Werte schöpfen, Risiken eingehen, für Verluste einstehen und kein standardisiertes Leben wollen.
Das scheint Grünen und Woken – auch einigen Milliardären – die Idee eingegeben zu haben, die Welt müsse sich alleine dem „Klimaschutz“ weihen, indem alle – außer der Funktionärselite – verzichten: aufs Eigenheim, individuell gewählte Ernährung und Kultur, Mobilität jenseits defizienter ÖPNV-Systeme. Eine in diesem Sinn herrschende Kaste müsse dafür die „Weltregierung“ samt umfassender Kontrolle, Überwachung und Weltgericht „stellen“. Natürlich ohne Wahlen „von unten“ und nach Regeln, die von Kritikern nicht angefochten werden können. Man könnte es „Weltgestell“ nennen – oder auch Totalitarismus.
Es gibt Menschen, die hören alsbald auf, soziale Verpflichtungen wahrzunehmen, wenn nur für Essen, Trinken, ein Dach überm Kopf und ein bisschen Spaß gesorgt ist. Sie nehmen gern, was ihnen für den Lebensunterhalt zufällt – samt kompletter medizinischer Versorgung – und schlafen sehr gut, wenn sie nicht versteuern müssen, was sie zusätzlich verdienen. Sie hören es gern, wenn ihnen Politiker und Journalisten versichern, dass die Rolle des Schmarotzers schon an einen anderen Sündenbock vergeben ist: den bösen Kapitalisten. (Sie können hier gerne ergänzen, was Ihnen dazu tagtäglich von eifernden Propagandisten und „Aktivisten“ noch als feindselige Gruppe eingeflüstert wird.)
Auf diesem Feld konkurrieren freilich Religionen mit allen möglichen Ideologien, Sekten, Heilsbringern, Scharlatanen. Der Nationalismus feiert fröhliche Urstände nicht nur in Russland und China, aber ethnische Konflikte und Kriege haben noch nirgends Hunger und Unbildung abgeholfen – es ging und geht ums Verteilen materieller und informeller Macht. Letztere gewinnt im Informationszeitalter Priorität. Sie total – bis in den letzten Winkel der Privatheit – zu kontrollieren, ist der feuchte Traum jedes Politbürokraten. Die Gesetzgebung der EU soll ihn Wirklichkeit werden lassen. Der „Digital Service Act“ und die unbeschränkte Ermächtigung der Behörden zum „Durchregieren“ etwa mittels Pandemiealarm, ausgelöst von der „Weltgesundheitsorganisation“, sind deutliche Hinweise. Der Wunsch, das Bargeld abzuschaffen, stattdessen eine digitale Währung einzuführen wären ein passender Schritt, der „social score“ für jeden Bürger schlösse die Transformation in Richtung auf chinesische Verhältnisse ab: Die Existenz des Bürgers wäre digital enteignet, er wäre analog, physisch im Handumdrehen abzuschaffen.
Produktivkräfte und Produktionsmittel
Die An-Gestellten-Parteien können die Rolle der Produzenten logischerweise nur denjenigen aufzwingen, bei denen die Mittel für alle kollektivistischen, korporatistischen, etatistischen Versorgungssysteme zu holen sind: Unternehmen, Freiberuflern, kurz: denjenigen, die gar nicht oder nicht nur von Versorgungs-Gestellen abhängig sein wollen.
Also braucht der Staat Unternehmer, um Arbeitsplätze der Wertschöpfung zu schaffen – der Behördenapparat kann das nicht. Nolens volens werden junge Menschen gelobt, die das Risiko einer Gründung eingehen. Ihr Unternehmen hat kaum Laufen gelernt und erste Gewinne gemacht, da wird es schon in bürokratische Regelsysteme gezwängt und für Steuern und Sozialabgaben angezapft. Wie riskant Selbständigkeit geworden ist, hat sich in der „Corona“-Krise deutlich gezeigt.
Nein, ich tappe nicht in die Dichotomie-Falle, die hier lauert: An-Gestellte oder abhängig Beschäftigte versus Selbständige, Arbeitgeber gegen Arbeitnehmer und deren Interessenvertreter, letztlich in das Dogma „Die Geschichte ist eine Geschichte der Klassenkämpfe“. Sozialschmarotzer, gar Soziopathen finden sich unter Selbständigen ebenso wie in allen Schichten, Berufen, unabhängig von Hautfarbe, Sprache, Herkunft Religion oder Geschlecht, sie finden auch immer Formen sich zu verbünden, wenn sie ihr Interesse durchsetzen wollen, das da heißt: „Enteignen wir die anderen“. Mir geht es nur darum, wie verantwortungsloses Verhalten begünstigt wird. Marx hatte dafür eine bis heute gern zitierte Beschreibung:
„Das Kapital hat ein Grauen vor Abwesenheit von Profit, wie die Natur vor der Leere. Zehn Prozent und man kann sie haben. Zwanzig Prozent und sie werden lebhaft. 50 Prozent positiv waghalsig. Für 100 Prozent stampft man alle menschlichen Gesetze unter den Fuß. 300 Prozent und es gibt kein Verbrechen, das man nicht wagt, selbst auf die Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.“
„Merksch‘ was?“ sagt an dieser Stelle der Badener, der bei modernen Medien wie seinem „Heimatsender“ gelernt hat, was „Framing“ ist: „Das Kapital“ muss etwas Furchtbares sein, nicht etwa nur ein schöner Haufen Geld, den jeder gern hätte, sondern eine düstere Macht dahinter, die es akkumuliert, dabei vor keinem Verbrechen zurückschreckt: Kapitalisten. Differenzieren erübrigte sich, denn der Zustand der Welt, Hunger, Elend, Kriege und Kriegsgewinne waren offenbar. So weit, so propagandatauglich.
Was allerdings Marx hier „dem Kapital“ als Subjekt zuschreibt, Angst und Gier bis zum beispiellosen Risiko, trieb tatsächlich immer das Handeln menschlicher Subjekte – als Einzelne oder im Kollektiv.
Nach 200 Jahren schauen wir auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte der Gier. In den Händen neuer Geldeliten ist mehr Besitz und Macht akkumuliert als in denen sämtlicher Dynastien des Milleniums – infolge des massenhaften Strebens nach dem Erwerb von Geld, materiellen Gütern und Informationen. Nachdem in dieser Welt – das hatte der junge Marx vorausgeahnt – fast alles und jeder zur Ware, also käuflich geworden ist, darf das Geld samt seiner quantifizierenden, fast alles und jeden käuflich machenden Wirkung bestaunt werden: Und doch ist nicht alles käuflich und quantifizierbar – das aber könnte entscheidend sein.
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