Wohlklang und Augenweide

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Der menschliche Kosmos #11

Bleiben Sie mit mir bei der Frage „Was sehen wir eigentlich?Menschen antizipieren gerne eine Umgebung, in der sie das Begehrte erlangen, das Störende abwehren oder vernichten können. Dem entsprechend interpretieren sie Signale rascher und stärker, wenn sie das Zusammenspiel von Aggression und Lust triggern. In vielen Konflikten führt diese „kontrastierende Wahrnehmung“ zu Fehlentscheidungen und Unheil.   

Wohlklang und Augenweide

Im vorigen Teil klang das Prinzip „Mir nützt, was anderen schadet“ an und die Schadenfreude als elementares Signal fürs Zusammenspiel von Aggressivität und Lust. 

Wahrnehmung gebiert in fortlaufender Interaktion die zur aggressiven Strategie passende Wirklichkeit. Menschen antizipieren gerne eine Umgebung, in der sie das Begehrte erlangen und in der das Störende abgewehrt oder vernichtet wird. Die Katze sitzt auf der Klinke, ehe sie gesprungen ist: Ohne diese Fähigkeit, mögliche Interaktionen durch eine Kopplung ihrer Wahrnehmung an komplexe Körperprogramme vorwegzunehmen, bräche sie sich bei so manchem gewagten Sprung die Knochen. Ohne die selbstverstärkende Kopplung unserer Wahrnehmung an aggressive Strategien, würden wir keiner Fliege etwas zuleide tun und wären lebensuntüchtig. 

Den treibenden Impulsen hinter mannigfachen Strategien wurden Gefühle und Verhaltensweisen zugeordnet mit Namen wie Neid, Missgunst, Hab- und Machtgier, Ruhm- und Renommiersucht, Eitelkeit, Geiz, Niedertracht, Feigheit, Mordlust, Sexgier, Sadismus, Anmaßung, Hochmut, Undankbar- und Unehrlichkeit,… Damit benennen die meisten aber nur, was für sie oder Ihresgleichen Schaden befürchten lässt, oder was ihn herbeiführte. Das dient der kontrastierenden Wahrnehmung, der Rechtfertigung eigener Gegenwehr, oft genug hält es die Spirale der Eskalation in Gang. Misstrauisch machen sollte, dass der Finger dabei so gut wie immer auf die anderen zeigt. 

Jemand sagt von sich selber, er oder sie sei feige, anmaßend oder missgünstig? Könnte das kokett, „fishing for compliments“ sein? 

„Wo bleibt das Positive, Herr Sennewald?“, höre ich den silbergelockten Direktor eines Provinztheaters in der DDR  fragen, dessen Herz überquoll, wenn auf der Bühne die großen menschlichen Gefühle ausbrachen. „Wo bleiben Liebe, Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Fürsorge?“

Der gute Mann sah sich selbst als fürsorglichen Patriarchen. Andere sahen ihn als feigen und machtgierigen Handlanger der Partei und ihrer Stasi. Vermutlich wird man ihm eher gerecht, wenn man seine Strategien würdigt: Er hatte Sehnsucht nach der Kunst als einer Kraft, die ihn der alltäglichen Nöte enthob. Das ist nicht ungewöhnlich bei Künstlern, deren Schaffen von ihren Beziehungskonflikten nicht zu trennen ist. Er wünschte sich durchaus Aufführungen mit eindrucksvollen Bildern, voll starker Leidenschaft und ebenso starker Wirkung auf das Publikum. Er konnte nicht sehen, dass ein solches Theater unvermeidlich mit dem „real“-sozialistischen System der Unaufrichtigkeit und des Selbstbetruges kollidieren musste, weil er selbst diesem System angehörte und somit die Konflikte produzierte, denen er so gern entgangen wäre. Seine Fürsorge bestand darin, dass er Aufführungen verhinderte, die der Kreisleitung der Partei missfielen – also solche, die aktuelle Konflikte enthielten. Damit zerstörte er jede Aussicht auf befreiende, gar transzendierende Wirkungen.

Aus Konflikten, die nicht wahrgenommen werden, kann man sich nicht emotional befreien, dazu müsste man sie erkennen, besser noch aus einer ungewöhnlichen, fremden, gar dem Feind zugeschriebenen Perspektive neu bewerten.

Der Direktor befand sich damals für kurze Zeit  in einem Zwiespalt: Er erlebte in seiner wahrhaft unbedeutenden Provinzbühne eine große kreative Bewegung, als einige junge Regisseure und Schauspieler gemeinsam versuchten, sie zu „okkupieren“. Er erlebte heftig engagierte Mitarbeiter auch in den Werkstätten für Kostüme und Dekorationen und neugierige Jugendliche im Publikum, die nicht auf schulische Anweisung kamen. Und zugleich deutete er das alles als anmaßenden Angriff, Undankbarkeit und Unbescheidenheit, weil das „Positive“ fehlte – er meinte das den Politbürokraten Wohlgefällige. 

Folglich verwendete er seine Fürsorge darauf, in Kooperation mit der Stasi die „feindlich-negativen Elemente“ aus seinem Theater zu entfernen und damit seine Direktion zu befestigen.

Diese Art Verhalten fand ich zehn Jahre später bei den „Öffentlich Rechtlichen Anstalten“ wieder. Hier waren nicht SED und Stasi steuernde Instanzen, es reichte die Furcht, in Dissens mit Aufsichtsgremien zu geraten oder Quotenvorgaben zu verfehlen. Der vorauseilende Gehorsam war derselbe.

Lohnt es sich nicht, bisweilen „das Schöne“ zu befragen, ob es nicht „das Beschönigende“ an unserer Wahrnehmung ist und „das Gute“ nicht nur „Begütigend“. Liebe ist ebensowenig wie Hilfsbereitschaft, Freundschaft, Fürsorge oder Aufrichtigkeit „an sich“ positiv, ebensowenig sind diese Streben uneigennützig. Sie sind Teil von Interaktionen und ihr Charakter hängt vollkommen von der damit zusammenhängenden Wahrnehmung ab. 

Vom Ich zum Wir: Das egozentrische Kollektiv

Objektivität kann es nicht geben, nur unterschiedliche Standpunkte und Interessen der Betrachter und demzufolge divergierende Wahrnehmungs- und Interaktionsmuster. Was der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl für „ehrenhaft“ hielt – das Verschweigen der Namen befreundeter Spender im Finanzskandal seiner Partei – ist in der Sicht anderer, und nicht nur der politischen Gegner, ehrlos und pflichtvergessen.

Was mit zum Sturz Kohls führte, sein egozentrisches Ausblenden von Recht und Gesetz, versteht sich im kollektiven Agieren von Politikern und ihren Helfern von selbst: Wenn sie Protokolle höchst strittiger Corona-Vorgänge schwärzen, vorgeblich wegen des Schutzes von „Persönlichkeitsrechten“ der Beteiligten, so ist zu fragen, wieviel ihnen die Rechte all jener wert s ind, die infolge der protokollierten Beschlüsse schwerste Schäden erlitten –  bis hin zum Verlust ihrer Existenz, der Gesundheit, gar des Lebens. Deren – eigentlich vom Grundgesetz garantierten – Rechte werden ebenso schamlos ignoriert wie Verantwortung im nachhinein vertuscht wird: Im Sinne des Wortes.

Das System der Parteienherrschaft, wie es sich in den meisten Staaten der Welt findet, ist bei genauem Hinsehen ein etatistisch maskiertes Feudalsystem von Korporationen, deren Ziele genau auszumachen sind: Erlangen und Erhalt eines Maximums an materieller und informeller Macht, Vermeiden von Einbußen derselben mittels totalitärer Kontrolle: Das bedeutet, Verantwortung so zu organisieren, dass sie im Fall schweren Versagens unauffindbar oder auf eine hinreichend große Zahl Namenloser verteilt wird und Zusammenhänge mit dem Handeln der Herrschenden, insbesondere mit deren Ideologie, verschwinden.

Gewohnheit schlägt Erkenntnis

Das Denken in Dichotomien und das Denken in einfachen Kausalitäten verstärkt den systematischen Fehler der Wahrnehmung, nämlich die eigenen Begrenzungen und selbstverstärkenden Rückkopplungen nicht zu erfassen, um zusätzliche, verhängnisvolle „Auswertungsfehler“.

Versuchen Sie einmal, die Grenzen ihres Blickfeldes zu erfassen. Das gelingt Ihnen nur, wenn Sie nicht nach den Seiten schauen. An den Seiten sehen Sie Nase und ein Stück Jochbein, Schläfenbein, Augenbrauen. Aber nur wenn Sie den Blick zentral fixieren, ahnen Sie oder erkennen mittels der Apparaturen des Augenarztes die wirklichen Gr      n systematischer Fehler. Viele Menschen bemerken sogar die Verengung des Öffnungswinkels durch grünen Star erst sehr spät: Die Interpretationsgewohnheit des Gehirns lässt sie den Defekt lange – zu lange – „übersehen“. Das ist ein Auswertungsfehler.

Dass  die Erde sich dreht und die Sonne umrundet, weiß jeder, dennoch lassen alle – trotz Kopernikus – die Sonne auf und untergehen, den Mond ebenso. Alltägliche Handlungen verlangen kaum jemandem eine andere Interpretation ab, falls er nicht von Berufs wegen auf das Kopernikanische Weltbild oder Einsteins Relativitätstheorie angewiesen ist. 

Menschen beurteilen die Handlungen anderer nur ausnahmsweise nicht nach dem eingewachsenen Schema von Ursache und Wirkung samt Jagd nach Sündenböcken. Sind sie damit noch gerüstet für die Dynamik von wachsenden globalen Konflikten, wie sie mit ungebremster Zunahme der Bevölkerung, Migration und Ressourcenknappheit einhergehen? 

Eine alles regelnde Weltregierung ist angesichts des Zustandes und des Agierens heutiger supranationaler Organisationen eine Illusion, die zahllosen systematischen und Auswertungsfehlern entspringt.

Im egozentrischen Wahrnehmungs- und Beziehungssystem ist nur der Schaden des jeweils Betroffenen – sei’s ein Despot oder ein Kollektiv – von Belang. Das beweisen sogenannte „identitäre Bewegungen“. Die Rituale, sich von der eigenen Verantwortung für fremdes Unglück zu distanzieren, sind einander so ähnlich wie unausrottbar. Ebenso wie das Sündenbock-Ritual eigene Aggressionen bestätigt und nötigenfalls aus Opfern Täter macht („Wer an der Berliner Mauer erschossen wurde, war selbst schuld, er war ein Grenzverletzer!“), fungiert das Mitleids-Ritual als Sozialmaske von Geltungsdrang, Gaffsucht und Häme. Fast in jedem „Posting“ oder „Thread“ von Facebook, X (vormals Twitter) etc. finden sich Beweise: Die Gaffer wie die Schuldigen sind immer die anderen.

Wir sind die Guten

Viele Rituale haben das Ziel, eigenes Handeln zum Schaden anderer zu rechtfertigen und fremden Schaden zu bagatellisieren, als unvermeidlich – „alternativlos“ – ins jeweilige Weltbild einzupassen und damit Verantwortung abzuschmettern. Das Sündenbock-Ritual verschafft der kontrastierenden Wahrnehmung soziale Verbindlichkeit, Mitleids-Rituale dienen der Verdrängung von Ängsten, selbst ein Unglück zu erleiden. Für Risiken und Katastrophen, die durch ihr Handeln oder Unterlassen heraufbeschworen werden, haben insbesondere Politiker und ihnen dienstbare Medien treffliche Beschönigungs-Rituale. Wichtigstes Merkmal aller: Sie „verstellen“ die Wahrnehmung. Zugespitzt findet sich das in George Orwells „1984“. Die Propaganda der totalitär herrschenden Partei erklärt: 

„Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“

Menschen blenden gewohnheitsmäßig üble Folgen ihres Verhaltens aus – bis sie tief im Schlamassel stecken. Die Hoffnung, dass es alle anderen, nur nicht einen selber treffen möge, führt zu den bizarrsten Verhaltensweisen und Ausreden. Das letzte Mittel ist, die Wahrnehmung völlig abzuschalten. So wie es jener große, flugunfähige Vogel aus Afrika tut, dessen einst verzweigte Verwandtschaft vermutlich deshalb ausstarb. Seine Federn schmücken Damengarderoben, sein Fleisch die Speisepläne, weil er nicht von einer „Politik“ lassen kann, die folgerichtig seinen Namen trägt. Die tödliche Konsequenz erspart ihm die quälende Frage „Warum gerade ich???“. Mit dieser Qual muss indessen leben, wer das egozentrische Weltsystem – oder seine vielen schillernden Tarnungen – gegenüber reiferem Wissen über Struktur und Funktion von Natur und menschlicher Gesellschaft bevorzugt. 

Die alten Strategien – so sollte man meinen – haben im Zeitalter des kritischen Gedankens, der Wissenschaft und des unbeschränkten öffentlichen Diskurses längst überlegenen Formen des Austauschs weichen müssen. Wer indessen die veröffentlichte Meinung aufmerksam mustert, wird erstaunen, wie phantasielos Sprache und Denkmodelle in den Schablonen verharren, über die sich schon Voltaire vor fast 250 Jahren lustig machte. „Candide oder der Optimismus“, seine luzide und grimmige Satire auf unser eingeschränktes Wahrnehmungsvermögen, beschrieb damals, wie leicht sich Sprache und Denken zur Umdeutung von Unrecht in Recht, von Untat in Wohltat und von Blödsinn in Sinn instrumentalisieren lassen. Auch die schönsten Blüten digitaler multimedialer Kommunikation wachsen eben auf dem Holz der Artgeschichte – so wie die Sprache eines Kindes von seinen körpersprachlichen Entwicklungsmustern durchdrungen ist.

Ob die mit großem Tamtam in den Medien eingeführte „Künstliche Intelligenz“ daran etwas ändern wird? Ebenso wie ich schließen das die meisten Fachleute aus – eben weil ihr der Körper, dieser einmalige, unwiederholbare, unverzichtbare Kosmos von genetischer und individueller Erfahrung fehlt, den nachzubauen unmöglich ist, auch wenn das Ziel seit Jahrhunderten so besessen verfolgt wird wie die Unsterblichkeit.

Rituale der Freiheit 

Es gibt Versuche, aus den alten Strategien auszubrechen und nicht mehr zu fragen „warum?“, sondern „was“ und „wozu?“. Es gibt Möglichkeiten, sich aus dem Mittelpunkt des Systems wegzudenken und sogar wegzufühlen, die Rollen anderer einzunehmen, schädliche Rituale und tödliche Strategien zu erkennen und Alternativen zu leben. Die Menschheit steht am Scheideweg und muss wählen: Will sie mittels neuer Kommunikationsformen kooperieren und das Zusammenleben auf der engen, fragilen Erde ermöglichen oder – blind den alten Strategien folgend – untergehen?

Die Kultur bietet einen einzigartigen Schatz von Erfahrungen, mit denen wir egozentrisch ausgerichteten Ritualen entkommen können – mindestens zeitweise. Die Wissenschaft ist dabei, sich dieses Schatzes zu versichern: vor allem in der Psychologie. 

Grundstürzende Reformen oder gar Revolutionen sind unnötig; letztere verändern erfahrungsgemäß sowieso keine Strategien. Aber – um ein Beispiel zu nennen, wie man schwerwiegenden Problemen der Dissoziation an Schulen beikommen kann: Studien mit Grundschülern haben den Nachweis erbracht, dass gemeinsames Musizieren soziale Kompetenzen steigert und die Intelligenz erhöht. Das klingt wie eine Binsenweisheit, denn schließlich liegen genau da die Wurzeln der Musik. 

So könnte mit wenig Aufwand eine Korrektur der Bildungsziele und -pläne beginnen, deren Folgen weiter reichen, als es auf den ersten Blick scheint, wenn man nur einmal die integrativen und interdisziplinären Potenzen der Musikerziehung genauer betrachtet. „Ohne Fleiß kein Preis“ – also ohne Training und Entbehrungen kein Erfolg: Das bleibt freilich unverzichtbare Übereinkunft zwischen Individuen und ihrem kollektiven Umfeld. Dieser Übereinkunft allerdings müsste der Staat mit entsprechendem Ordnungsrahmen zuarbeiten: Begabungen fördern und Kräfte freisetzen im Dienste der Qualität und des Reichtums der Kultur.

Enteignen und Entfremden

„Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ abzuschaffen: das ist ein Ziel, dem kaum einer sich verweigern würde. Wer wollte Ausbeutung dulden oder gar befürworten? Nur Zyniker oder Despoten sind so unverfroren. 

[ Als Friedrich Engels, Bürgersohn und Unternehmer aus Wuppertal, sich der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ annahm, beschrieb er elende Zustände, die heute in Europa kaum mehr vorstellbar erscheinen. Das menschliche Desaster der Proletarier war erschütternd – wie heute das in chinesischen, philippinischen, indischen oder pakistanischen „Sweat Shops“, afrikanischen Rohstoffminen und überall dort, wo sich Geldgier und despotische Regimes die Hand reichen. Während damals wie heute große Teile der Bevölkerung in Armut schuften und vegetieren, kommen die Aufsteiger des Industriezeitalters zu unmäßigem Reichtum] . Der Kapitalismus nahm zu Marxengels Zeiten Fahrt auf, er hat sein Tempo bis heute fast ununterbrochen gesteigert. Aus Kriegen und Naturkatastrophen schöpfte er Gewinne, er machte aus der Welt einen einzigen großen Markt. 

Karl Marx hat diese Umwälzung vorhergesehen: er prophezeite Technisierung, Industrialisierung, globale Märkte und Unternehmen; die Dynamik des kapitalistischen Systems der Wertschöpfung erkannte er als gewaltig. Interessanterweise wollte er diese Dynamik auch keineswegs stoppen und er hätte sicherlich für den Bau von Atomkraftwerken und Weltraumstationen gestimmt. Marx war nur die „Naturwüchsigkeit“, das wilde und ungehemmte Wachstum unheimlich. Und den jungen Mann erzürnten die Rohheit und Verantwortungslosigkeit, mit der Unternehmer und Spekulanten Gewinne auf den Knochen der Arbeiter und ihrer Familien machten. 

Weil er den Heilsversprechen der Religionen misstraute, sah er in einer Zeit, als die Wissenschaften Technik, Wirtschaft und das gesamte Denken umkrempelten, nur in der konsequent atheistischen, wissenschaftlichen Behandlung sozialer Fragen eine Chance. Er wollte die Rechtfertigungen des Unrechts zerschmettern, indem er die Verhältnisse „objektiv“ auf dem Seziertisch der kritischen Vernunft betrachtete. Er wollte sie von ideologischen Verkleidungen befreien, die Elend und Ausbeutung unabänderlich erscheinen ließen. Seine Schriften begründeten und beförderten Bewegungen, die als „sozialistische“ und „kommunistische“ hinfort Ökonomie und Politik mitbestimmten.

„Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ und „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern!“ – das sind zwei der berühmten Marxschen „Feuerbach-Thesen“. Mit ihnen wollte Marx die Ansichten „vom Kopf auf die Füße stellen“. 

Schon in jungen Jahren gelang ihm mit seiner Analyse wirtschaftlicher Strukturen und menschlicher Abhängigkeiten in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ ein großer Wurf. Bis heute ist der Begriff der Entfremdung interessant: Arbeit schrumpft von der Lebenstätigkeit zur Erwerbstätigkeit, auf ihren bloßen Marktwert. Arbeitende Menschen erleben ihren Sinn nur noch mittelbar, als Rädchen im Getriebe mit Anspruch auf Konsum, Freizeit und Urlaub. In Teil 3 war bereits die Rede von der „Erschaffung des Angestellten“.

Freiheit als Anspruch – Unterwerfung als Ziel

Tatsächlich nutzte Marx das wissenschaftliche Denken seiner Zeit soweit es ihm möglich war, und das heißt, dass er nicht über die Modelle der klassischen Mechanik hinauskam und weder von Quantenphysik noch Relativitätstheorie etwas ahnen konnte – ebenso wenig von Genetik oder Psychoanalyse. 

Entscheidend für den Umgang mit den Theorien von Marx, Engels und Lenin war und ist, dass sie den Anspruch der Objektivität erhoben, einer von der subjektiven Wahrnehmung unabhängigen Gültigkeit, dass sie die Ökonomie, die gesellschaftlichen Bewegungen und letztlich die Zukunft der Menschheit planbar und vorhersehbar machen wollten wie Keplers Gesetze die Planetenbewegung. Und das Ziel war von schöner Klarheit: die Gesellschaft als „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist.“ Soweit die Utopie im „Kommunistischen Manifest von 1848.

Der Weg dorthin sollte über die „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ führen, der einzelne sollte nur besitzen, wessen er fürs Leben bedurfte, keineswegs aber Fabriken, Grund und Boden, Kapital etc., und vorangehen sollte auf diesem Weg die Arbeiterklasse, die „nichts zu verlieren hatte als ihre Ketten“. An deren Spitze wiederum sollte die Kommunistische Partei stehen, im Alleinbesitz der „wissenschaftlichen Weltanschauung“ und also unfehl- und unbesiegbar. Die Theorie und die ihr folgenden politischen Richtungen gerieten alsbald ins Dilemma aller Pat(end)lösungen: Sie mussten die Menschen mit Gewalt glücklich machen. 

Indessen sah, wer Produktionsmittel besaß, die wissenschaftliche Begründung seiner Enteignung nicht ein, trennte sich also ungern freiwillig vom Besitz. Diese programmatische Auseinandersetzung mit dem „Klassenfeind“ – den Kampf um die informelle Macht – konnten die Kommunisten nie gänzlich für sich entscheiden. 

Wo sie es schafften, endeten sie im schlimmeren Desaster: ökonomisch, ökologisch vor allem aber moralisch. Die vorhergegangene Geschichte der Menschheit kennt keine Niedertracht und keine Grausamkeit, keine Folter und keinen Massenmord, den nicht sozialistisch-kommunistische Machthaber wie Lenin, Stalin, Mao und ihre Gefolgsleute, Epigonen und Adepten im Namen der „lichten Zukunft der Menschheit“ und des „sozialistischen Humanismus“ übertroffen hätten. 

Nur wer sich von romantischen Verklärungen des Sozialismus nicht trennen mag, wird die Verwandtschaften nach Anspruch, Klientel und Methoden übersehen, die selbst den Nationalsozialismus mit seinen Namensvettern verbinden. Aber es gehört immer noch Mut dazu, solchen Verklärungen zu widersprechen. Götz Aly hat das mit seinem gründlich recherchierten Werk „Hitlers Volksstaat“ getan.  Für den Nationalsozialismus galt wie für andere kollektivistische Herrschaftsformen: nicht die Produktionsmittel wurden „vergesellschaftet“, sondern die Produzenten. Sie wurden ihrer Freiheit, Selbstbestimmung und Verantwortung fürs eigene Denken und Handeln enteignet.

Unterwirf dich und sei glücklich – in Sicherheit

Der Marxismus-Leninismus scheiterte – wie jeder Versuch zur Weltherrschaft. Statt Weltrevolution gab und gibt es Richtungskämpfe, kommunistische und sozialdemokratische Strömungen trennten sich. Überlebt haben die Pragmatiker, die in einem „gezähmten“ Kapitalismus hauptsächlich als an-gestellte Interessenvertreter der Angestellten auftreten, sei es in Gewerkschaften oder in den „linken“ Parteien. Sie haben sich allesamt von den Denkkategorien des 19. Jahrhunderts kaum entfernt. 

Machen Sie folgendes Experiment: fragen Sie Menschen in ihrem Bekanntenkreis, was ihnen an dem folgenden Satz unstimmig erscheint: „Der Staat versucht mit Gewalt, die Bevölkerung glücklich zu machen“. 

Sie werden zu hören bekommen, dass mit Gewalt wohl kaum jemand glücklich zu machen sei. Das trifft nicht zu, denn es gibt Menschen, die ihr Lebensglück in sklavischen und masochistischen Verhältnissen finden. Wer einem „Meister“ oder einer „Herrin“ hörig ist, erlebt Lust und Glück in der Unterwerfung. Was „Glück“ bedeutet, ist ohnehin eine heikle Frage. Der Satz beinhaltet allein deshalb einen verhängnisvollen Fehler, weil sein Grundverständnis vom Staat mörderisch ist: Der Staat hat mit dem Glück seiner Bewohner nichts zu schaffen.

Der Staat kann bestenfalls für flexible Ordnungsrahmen der Lebensverhältnisse und dafür sorgen, dass sie eingehalten werden, das heißt er ist für das Recht, für öffentliche Verwaltung und Finanzen sowie für wirtschaftliche Rahmenbedingungen zuständig, die möglichst niemanden benachteiligen sollen. Nur totalitäre Systeme verteilen Schablonen für das Glück. Das ist an ihrer Kultur – vor allem an Bildern und Symbolen, an Literatur und darstellender Kunst – aber auch an Festen und Alltagsgebräuchen erkennbar. Der demokratische Staat muss – wenn er nicht hinter den preußischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm und das 17. Jahrhundert zurückfallen will – „jedermann nach seiner Façon glücklich werden“ lassen. 

Die sozialdemokratischen und Gewerkschaftsbewegungen, die aus den  Theorien von Marx ihre ideologische Durchschlagskraft bezogen, haben als Interessenvertreter der abhängig Beschäftigten die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse im 20. Jahrhundert so verändert, dass es ohne Übertreibung als Jahrhundert der An-Gestellten gelten darf. Diese mächtigen Subjekte der Geschichte können sich von einem zentralen Terminus nicht befreien: der „sozialen Gerechtigkeit“.  

Natürlich muten nicht einmal die Kommunisten jemandem zu, darunter eine quantitative Gleichverteilung materieller Güter zu verstehen, obwohl sie gern den Neid für die „gerechte Empörung“ ihrer Anhänger mobilisieren. „Gleichverteiler“ wie der Seeräuber Störtebeker sind ihnen sympathische, aber nicht vom Marxismus- Leninismus dialektisch erleuchtete „Frührevolutionäre“ oder „Anarchisten“. Trotzdem wiegte sich selbst ein heller Kopf wie der Dichter Bertolt Brecht in der Illusion, man müsse einen Sockel materieller Mindestversorgung für alle haben, damit sich der Wettbewerb und die Vielfalt der Individuen recht entfalten könne, und also habe nichts zu geschehen als die „Expropriation der Expropriateure“ – die Enteignung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln –, dann werden diese Mittel in der Hand des sozialistischen Staates jedermann zum Segen gereichen und jeder werde nach bestem Vermögen dem Gemeinwesen zuarbeiten. 

Der Denkfehler – er zeigt sich gerade anhand des deutschen „Bürgergeldes“ – liegt genau darin, dass diejenigen, denen unsere sozialistischen Heilsbringer Gerechtigkeit schaffen wollen, am wenigsten davon halten. Wie hoch soll denn der Sockel der Mindestversorgung auch für Nicht-An-Gestellte sein? Reichen das freistehende Einfamilienhaus, das Auto nach Wunsch, Wellness in der Südsee für alle Familienmitglieder? 

Interessieren sich die Leute, deren tarifliche Privilegien in regelmäßigen  Abständen zum Medienereignis der Nation gemacht werden, für soziale Fragen jenseits ihrer Weihnachts-, Urlaubs-, Treue- und sonstigen Gratifikationen? Also etwa für die existentiellen Probleme der Nicht-An-Gestellten oder die Arbeitsverhältnisse in China, Pakistan, Bangladesh? 

Nicht die Bohne. Das beweisen sie massenhaft durch ihr Einkaufsverhalten, bei dem Geiz geil und nur wer bei globalen Megakonzernen einkauft, nicht blöd ist. Damit verhilft er jenen zur unumschränkten Macht zwischen Seattle und Shenzhen. Rituell empören sich die öffentlichen Schallverstärker des Sozialismus über das Menschen verachtende Kapital, das seine Arbeitsplätze dorthin schafft, wo sie – na? – billig sind. Geiz ist geil, und ein Unternehmen, das im globalen Markt konkurrieren will, darf nicht allzu blöd sein. Das sind natürlich auch die Zuwanderer und ihre Schlepper nicht, die Segnungen von Sozialsystemen industrialisierter Länder in Anspruch nehmen, ohne für sie zu arbeiten.

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