Protokolle der Aufklärung #33
Im Beiheft einer ihrer letzten Ausgaben (7/2025) berichtet die ZEIT über Prominente, die ihre Mitbürger mit Strafanzeigen überziehen. Der Grund: Ihnen wurde durch eine bloße Meinungsäußerung angeblich Leid zugefügt. Das hatte für die „Täter“ empfindliche Folgen. So soll z. B. Robert Habeck einen Rentner zu einer hohen Geldzahlung verklagt haben, weil der ihn einen Dummkopf genannt hatte. In einem anderen Falle hätte ein Ingenieur wegen Majestätsbeleidigung eine große Summe verloren – und seinen Job. Auch Kanzlerkandidat Friedrich Merz soll das Beleidigungsverbot ausgiebig nutzen.
Unser Mitautor Andreas Tiedtke stellt in seinem Sandwirt-Beitrag mit dem Titel „Seien Sie doch nicht beleidigt!“ zurecht fest, dass es sich beim sogenannten „Straftatbestand“ Beleidigung gar nicht um ein Verbrechen im üblichen Sinne handelt. Der Adressat einer Beleidigung „wäre eher als ‚Crimeless Victim‘ zu bezeichnen.“
Tiedtke argumentiert ausdrücklich vom handlungslogischen und nicht vom juridischen Standpunkt aus. Aber auch vor juridischem, insbesondere rechtsphilosophischem Hintergrund lässt sich zeigen, dass eine herabsetzende Bemerkung, gewöhnlich „Beleidigung“ genannt, nicht als Rechtsverstoß zu werten ist, geschweige denn als Straftatbestand. – Inwiefern?
Keine Einbuße der Eigentumsnutzung
Der Gesellschaftstheoretiker Murray Rothbard begründet die Inopportunität einer Bestrafung bei Beleidigungen damit, dass niemand ein „Recht auf Reputation“ habe. Nun ist denkbar, dass diese Begründung rechtlich angezweifelt wird. Das könnte die These, eine Beleidigung sei kein Rechtsverstoß, verwässern. Anlass genug, sich dem Thema noch einmal zuzuwenden.
In einer freien Gesellschaft gilt ein einziger „negativer“ Rechtsgrundsatz. Er lautet: Eigentumsschädigung ist verboten. Dieser Satz schließt das Leib-Eigentum ein, also das Eigentum am eigenen Körper. Infolgedessen ist eines vorab schon mal festzuhalten: Eine Beleidigung ist keine Einbuße einer (physischen) Eigentumsnutzung.
Die Beleidigung ist lediglich ein Werturteil. Insofern ist eine Person, die sich beleidigt fühlt, nicht Opfer eines kriminellen Akts (Tiedtke), zumindest nicht in einer freiheitlich gesinnten Rechtsgemeinschaft. Ein solcher Akt kann eine Beleidigung nur sein, wenn sie eine Lüge enthält. Lügen können zu echten Eigentumseinbußen führen, also zu einer (physischen) Schädigung. Beispielsweise könnte ein Geschäftsmann wegen einer Lüge Aufträge oder Kunden verlieren, was ihm Gewinneinbußen beschert, d. h. letztlich Einbußen in seiner freien Lebensentfaltung.
Besonders Friedrich von Wieser, Vertreter der Österreichischen Schule der Ökonomie, hat herausgefunden und begründet, warum Werturteile nur etwas über den Bewertenden aussagen und nichts über das Bewertete. Dazu hat er einige a priori geltende Gesetze aufgestellt. Sie zeigen unter anderem den Wesensbezug der Werturteile zur jeweiligen Bedürfnislage des Urteilenden. Die Kernaussage Wiesers lautet: Ein Wert ist nicht die objektive Eigenschaft einer Sache oder einer Person. Er befindet sich lediglich im Kopf des Wertenden, beruhend auf einem existentiellen Bedürfnis. Das bedeutet: Wenn jemand eine Beleidigung ausspricht, besteht dazu offenbar Bedarf, und zwar bei ihm!
Infolge der Analyse der Evaluation wissen wir, dass Wertaussagen stets subjektiv sind. Sie können zwar auch Intersubjektivität erlangen, so dass es z. B. auf dem Markt zu einem Güterpreis kommt, der von vielen, im Idealfall von allen, akzeptiert wird („Marktpreis“). Aber sie beziehen sich niemals auf Eigenschaften, die an Weltobjekten kleben. Sie sagen Befindlichkeiten des Menschen aus. Wenn jemand das Bedürfnis hat, ein negatives Werturteil (eine negative Befindlichkeit!) über sein Gegenüber auszusprechen, ist das zwar nicht schön, aber der Adressat wird an seinem Eigentum nicht geschädigt. Vergeltungsbedarf besteht nur dort, wo physischer Schaden entsteht.
Die Beleidigung ist eine nichtphysische Angelegenheit. Sie ist zwar ein Akt in Richtung eines bestimmten Menschen. Aber lediglich dem Seelenzustand der Adressaten ist geschuldet, ob sie – in Form eines bloßen Werturteils – ein Leid erzeugt oder nicht. Das Leid hängt nicht von der Äußerung des Beleidigers ab, sondern von der Gemütsverfassung des Beleidigten. So ist es Sache des Beleidigten, sich betroffen zu fühlen oder nicht. Dann kann er aber nicht Andere für sein Leid beschuldigen und verklagen.
Das Leid, das der Adressat einer Beleidigung verspürt, kann übrigens durch eine x-beliebige Aussage ausgelöst werden. Sie muss nicht immer hasserfüllt sein. Sie kann sogar wohlwollend daherkommen. Dort, wo sie auf willfährigen Boden fällt, z. B. bei labilen oder verunsicherten Persönlichkeiten, schafft sie Unwohlsein. Die Beleidigung ist daher kein rechtliches, sondern ein seelisches Problem. Sie ist ein Fall für die Psychiatrie, nicht für das Gericht. Daraus folgt: Beleidigungen müssen entkriminalisiert werden.
Beleidigung als Ungehörigkeit
Eine Beleidigung erzeugt zwar oft Leid und führt bei denen, die sie ernst nehmen, zur seelischen Not. Man muss sie aber nicht ernst nehmen. Ein geistig normal entwickelter Mensch ignoriert sie. Er weiß, dass eine Beleidigung mehr über den aussagt, der sie ausspricht, als über den Adressaten. Mit seiner Beleidigung bewertet sich der „Täter“ gewissermaßen selbst.
Eine Beleidigung kann man ohne Weiteres als Ungehörigkeit abtun. Denn sie behindert die Eigentumsnutzung nicht. Nur eine Behinderung der Eigentumsnutzung kann Rechtsverstoß heißen. Und nur bei einem Rechtsverstoß macht es Sinn, Vergeltung zu fordern und Verbotszwang auszuüben.
Der Verursacher einer Ungehörigkeit kann und sollte um Verzeihung bitten. Aber er muss keine Vergeltung erdulden und keine Entschädigung leisten. Die Entschädigung muss in einer freien Rechtsgemeinschaft in Form einer Wiedergutmachung erfolgen. Nach einer Beleidigung ist aber nichts wieder gut zu machen. Was als Wort raus ist, ist unweigerlich raus. Es kann nicht wieder hereingenommen werden. Aufgrund persönlicher Erfahrungen wissen wir alle, dass das manchmal wehtut. Dennoch: Eine Ungehörigkeit schädigt nicht. Am Ende schlägt sie auf den zurück, der sie begeht.
Beleidigung und soziale Ächtung
Erklärt man die Beleidigung zum Delikt, dann wird man sie folgerichtig gesellschaftlich ächten müssen. Nun gerät solche Ächtung schnell in Konflikt mit dem allgemeinen Menschenrecht, im vorliegenden Fall mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht ist ein Derivat des allgemeinen Menschenrechts (s. mein Sandwirt-Beitrag „Das Naturrecht der Freiheit“). Will man den Konflikt vermeiden, muss man eine klare begriffliche Abgrenzung schaffen zwischen Beleidigung und Rechtsverstoß. Sonst müsste man z. B. auch die Verfluchung kriminalisieren. Eine Person beleidigen, das bestraft unsere Gesellschaft gern und schnell. Eine Person verfluchen, bleibt seltsamerweise straffrei.
Ganz gleich, ob eine Gesellschaft als schlüssig-human organisiert gelten darf, die auf Unrecht mit Straf-, genau genommen mit Rachemaßnahmen reagiert, so lässt sich jedenfalls sagen: „Ein Vorgehen gegen eine bloße Beleidigung mit Zwang stellt … weder eine Verteidigung noch eine Vergeltung dar, sondern ist … eine Aggression.“ (Tiedtke, a. a. O.)
Eine lügenfreie Beleidigung ist immer Sache des Beleidigten und nicht Sache des Beleidigers. Das müssen auch die begreifen, die sich dadurch beschwert fühlen (s. o.). Sie haben die Macht, die Beleidigung zu entkriminalisieren. Das kostet sie nichts. Also sollten sie es unverzüglich tun.
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1 Kommentar. Leave new
Sehr geehrter Herr Eckardt,
Die Beleidigung gehört zu den „Ehrdelikten“. Deshalb spielen subjektive Elemente auf beiden Seiten eine große Rolle. Das unterscheidet sie von anderen Delikten, wie Sie auch herausgearbeitet haben.
Aber auch die Beleidigung hat einen Bezug zu den Menschenrechten: Es geht um die Menschenwürde, ART1 GG! Deshalb hat die Sanktionierung von Beleidigungen sehr wohl eine Berechtigung! Den -zugegeben- weiten Tatbestand hat die Rechtsprechung in Deutschland ganz hervorragend eingegrenzt und dazu einzigartige Methoden entwickelt, die Beleidigung von der erlaubten Meinungsäußerung abzugrenzen. Dieser Erfolg wird durch zwei Sachverhalte gerade vernichtet:
1. Nachdem der Gesetzgeber 2017 den § 103 StGB („Majestätsbeleidigung“ Erdogan) abschaffte, wurde der § 188 StGB (Majestätsbeleidigung für Politiker) neu eingeführt. Ein massiver Wertungswiderspruch!
2. Beleidigungen sind schwer zu greifen, weil sie sich heute auf besonders miese Art vollziehen: Man mißversteht absichtlich, leitet daraus eine Diffamierung ab und trägt die Diffamierung dann in die Öffentlichkeit. So werden bürgerliche Existenzen vernichtet.