Protokolle der Aufklärung #17
In meinen Sandwirt-Beiträgen Protokolle der Aufklärung #1 bis #4 wurde Schritt für Schritt ein „Recht“ entwickelt, das ich Naturrecht der Freiheit genannt hatte. Es lautet: „Alle haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung“. Es ist der Grundsatz (das Axiom) für alle jene Menschenrechte, die echte Freiheitsrechte sind.
Das Axiom bezieht die Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit auf das Leben jedes Einzelnen. Deshalb auch die Version: Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung. Diese Version ist auf das Ich bezogen, die Version „Alle …“ auf das Wir. In meinem Sandwirt-Beitrag „Die Gesellschaftlichkeit des Ich“ war gezeigt worden, inwiefern Ich und Wir auf meta-physischer Ebene eins sind. Und um diese Ebene allein geht es bei jedem Freiheitsrecht.
Eine intersubjektive Intuition
So selbstverständlich uns der Freiheitsgrundsatz nach seiner präzisen Ausformulierung auch erscheinen mag, so unerkannt bestimmte er vorher schon unsere Existenz. Er wird vom Menschen unbewusst gelebt, ohne dass es dazu einer tiefergehenden Reflexion bedarf. Sein Inhalt ist dem Menschen quasi „ins Herz geschrieben“ (John Locke, Walter Lippmann) und somit jedermann zugänglich.
Walter Lippmann spricht in seinem umfangreichen Gesellschaftswerk von einem „Leitgesetz“, das intuitiv schon immer unser Leben bestimmt, also auch dann, wenn wir es nicht ausdrücklich kennen. „Immer wieder schenken die Menschen dieser Intuition ihre Aufmerksamkeit, um sie wieder zu vergessen und erneut auf ihre Entdeckung und ihren Besitz auszugehen. Seit mindestens 25 Jahrhunderten mühen sich die Menschen um ihre Formulierung. Sie haben ihr auf tausend Arten Ausdruck gegeben. Sie haben über sie diskutiert, seitdem sie überhaupt über allgemeine Ideen zu diskutieren gelernt haben.“
Lippmann bemerkt ganz richtig, dass diese „Intuition“, so undeutlich sie sich auch bisher zum Ausdruck bringen konnte, stets das Grundmotiv gewesen sei für den Kampf gegen jegliche Form von Unterdrückung. Unser Innerstes sagt uns bereits vor der expliziten Kenntnis des Freiheitsgrundsatzes, wann er verletzt ist. Unserem naiven Dahinleben kommt das Erfordernis eines solchen Grundsatzes erst zu Bewusstsein, wenn wir in unseren Lebensmöglichkeiten unzulässig behindert sind: in Gefangenschaft oder bei unmäßiger Gängelei. Zu Zeiten Lippmanns war – wie er selbst sagt –- noch keine klare und deutliche Formulierung bekannt. In dem von mir oben zitierten Satz gelangt die Lippmannsche „Intuition“ zur Sprache und wird damit explizit.
Gültigkeitscharakter des Menschenrechts
Den aufmerksamen Lesern meines Sandwirt-Beitrags zum Naturrecht der Freiheit (Protokolle der Aufklärung #4) wird aufgefallen sein, dass ich den Satzteil „wenn denn ein solches existieren solle(!)“ gesperrt geschrieben und mit einem Ausrufungszeichen versehen hatte. Was ist der Grund?
Der Satzteil soll sagen: Wir sehen das „Naturrecht“ nicht. Wir unterstellen nur, dass es so etwas wie „Naturrecht“ gibt. Dabei entnehmen wir den Begriff „Recht“ unserem Alltagsgebrauch. Da bezeichnet es bestimmte von Menschen gesetzte Rechte. Solche Alltagsrechte sind aber keine „Rechte von Natur“. Wir Menschen räumen sie uns ein, z. B. durch Schenkung oder Vertrag. Diesen aus der gewöhnlichen Rechtspraxis entlehnten Rechtsbegriff verbinden wir mit Freiheit, Allgemeinheit, Gleichheit und beziehen ihn auf Lebensentfaltung.
Weil sich die Freiheitsbegabung des Menschen physisch nicht festmachen lässt (siehe mein Sandwirt-Beitrag „Die Freiheit des Ich“), kann man sie auch leugnen. Infolgedessen kann man die Existenz des Menschenrechts (des Naturrechts der Freiheit) auch leugnen. Es ist lediglich eine Frage der persönlichen Einstellung und individuellen Entscheidung, wie man sich hier verhält.
Das In-der-Welt-Sein des Ich ist Gegenstand von Erkenntnissen, bei denen Greifbares zu Tage tritt. Der Zugang zum Ich als Spontanzentrum hingegen geschieht über eine Reflexion auf sich selbst, bei der allerdings nichts Greifbares erscheint. Deshalb muss man das Für-Wahr-Halten dieses „Zentrums“ letztlich dem Wollen überlassen. Das Ich muss dazu stehen! Insofern basiert auch das allgemeine Menschenrecht, das sich aufgrund des dort enthaltenen Freiheitsbegriffs auf dieses Zentrum bezieht, nicht auf einer Einsicht, sondern auf einem Dazu-Stehen. Jenseits unseres Erkennens bleibt uns – wenn wir die Sache einmal genauer bedenken – eigentlich immer nur ein Bekenntnis. Das Bekenntnis kann emotional vermittelt sein, ist in aller Konsequenz aber eine geradeheraus getroffene Willensentscheidung.
Ob wir das Naturrecht der Freiheit (Menschenrecht) gelten lassen wollen oder nicht, beruht also nicht auf einem Erkenntnisakt. Es beruht auf einem Bekenntnisakt. Und auch die aus dem Naturrecht ableitbaren Derivate (Rechte der Freiheit) existieren nur, wenn wir willentlich dazu stehen. Sie gelten, weil wir sie gelten lassen wollen.
Das Realwerden des Naturrechts der Freiheit (des Menschenrechts) verlangt: Das Ich muss wollen, dass das Du Freiheit hat. Das Ich muss wollen, dass jedem nur möglichen Du (dem Wir) Freiheit zukommt. Das Ich muss wollen, dass jedes Du ihm in Bezug auf die Freiheit gleich ist. Das Naturrecht gilt nur, weil und wenn ein Ich dies alles will. Wenn nicht, dann ist es wie Luft, ja weniger als das.
Die Reichweite des Menschenrechts
Das als Naturrecht der Freiheit bezeichnete „Recht“ enthält Komponenten ganz unterschiedlicher Art. Die eine stammt aus der Beobachtung der Natur: Wie sich dort Leben entfaltet, können wir sehen, hören, anfassen und beschreiben. Die andere (die Freiheit) stammt aus der Selbstbeobachtung des Ich: Ob es freiheitsbegabt ist, kann jedes Ich nur bei sich selbst feststellen, z. B. anlässlich des Leidens an einer Unterdrückung. Wie die Begriffe „Gleichheit“ und „Allgemeinheit“ zustande kommen, habe ich im Sandwirt-Beitrag „Das Naturrecht der Freiheit“ gezeigt: durch die eigentümliche Form der Du-Konstitution, welche die Identität der Menschheit bewirkt. Aber was ist das für eine Identität?
In Bezug auf die physische Komponente ihres Lebens sind die Menschen stets ungleich. In Bezug auf die meta-physische Komponente hingegen, ihrem Spontanzentrum, sind sie alle gleich. Das dokumentieren sie beim Ich-sagen. Alle sagen ein und dasselbe aus, wenn sie Ich sagen. In dieser Hinsicht besteht Identität zwischen den Menschen. Der Ausdruck „Wir“ ist nichts anderes als die Bezeichnung für das überall als Spontanzentrum erlebte identische Ich. Diesem allgemein-identischen Ich sprechen wir Freiheit zu.
Leben entfalten heißt: sich verwirklichen, etwas werden, ein Potential realisieren. Jedes Individuum entwickelt dabei seine eigene Form. Die Entwicklung richtet sich nach dem persönlichen Schicksal, nach den (ererbten oder selbstgeschaffenen) Ressourcen und nach vielen individuellen Entscheidungen. Hier Gleichheit anstreben zu wollen, erscheint als absurd.
Den Aspekt der Entfaltung im Menschenrechtsgrundsatz zu verankern, erscheint mir besonders wichtig. Mit dem Begriff „Lebensentfaltung“ ist das wirklich gelebte Leben und alle seine Erscheinungsweisen und Aktivitäten erfasst, die Stufen des Werdens inbegriffen! Das Naturrecht gilt daher für alle menschlichen Wesen vom Säuglings- bis ins Greisenalter.
Die Hauptformen menschlicher Lebensentfaltung sind Wachstum, Handeln und Reden. Insofern sind die wichtigsten Derivate aus dem Menschenrechtsgrundsatz die Wachstumsfreiheit (welche die Bildungsfreiheit einschließt), die Handlungsfreiheit (welche die Vertragsfreiheit einschließt) und die Meinungsfreiheit (welche die Pressefreiheit einschließt, also die Freiheit, Schriften beliebigen Inhalts zu publizieren). Das Auffallende an den Menschenrechten ist (sofern sie echte Freiheitsrechte sind!), dass ihr Grundsatz nur Komponenten aus der wirklich gelebten bzw. erlebten Welt der Menschen enthält.
Wie auch immer der Inhalt dieser „Rechte“ künftig ausgesagt werden mag, sie müssen die drei Prinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit enthalten und sich auf konkrete Aspekte der Lebensentfaltung von Menschen beziehen. Dann wird ihr Grundsatz ein Schlachtruf sein können gegen jede Form von Unterdrückung. Bleiben sie unbekannt oder nur schemenhaft erkennbar, wird sich immer eine Clique finden, die sich gegenüber ihren Mitmenschen als Obrigkeit aufspielt und ihre Gelüste ungehemmt auslebt. Der erste Schritt, eine solche Situation zu vermeiden bzw. zu beseitigen, ist ein konsequentes Bekenntnis, und zwar zum Naturrecht der Freiheit. Alles Weitere ergibt sich dann.