Die Demokratie als Fassade

Protokolle der Aufklärung #7

Die Analyseergebnisse in meinen letzten beiden Sandwirt-Beiträgen („Ein eklatanter Widerspruch“ und „Ein absurdes Entscheidungsverfahren“) müssen jeden desillusionieren, der glaubt, er tut etwas Sinnvolles, wenn er eine Wahlkabine betritt. Mit der dort untersuchten kandidatengebundenen Listenwahl praktizieren wir eine Repräsentantenbestallung, die bestenfalls halbwegs tolerante Oligarchien an die Macht bringt. Unsere Parlamente kommen durch Voten zustande, die dem Naturrecht der Freiheit (Menschenrecht) und den daraus ableitbaren Entscheidungskriterien widersprechen. Dies hat im Laufe der Zeit zu einer Verwahrlosung der Politik geführt. 

In einer Gesellschaft mit kandidatengebundener Listenwahl ist das Bottom-up-Prinzip (Demokratie) weitgehend durch das Top-down-Prinzip (Despotie) ersetzt. Das widerspricht jeglicher Vorstellung von „Volksherrschaft“. Nun wird ein Volk als Ganzes keine politische Machtinstanz sein können. Aber es sollte zumindest Ermächtigungsinstanz sein. Das ist der Grundgedanke der Demokratie. 

Haben wir heute Demokratie? – „(Ich bin) nicht einmal mehr sicher, ob der Name Demokratie von der Abscheu befreit werden kann, mit dem ihn mittlerweile eine wachsende Anzahl von Menschen aus guten Gründen betrachten“, sagt der Nobelpreisträger und Gesellschaftskritiker Friedrich August von Hayek. Die Abscheu, die er mit dem Wort „Demokratie“ verbindet, veranlasste ihn, es im Zusammenhang mit der Idee einer freien Gesellschaft nicht mehr zu verwenden. Er schlägt stattdessen „Demarchie“ vor. 

Man kann zu den Aussagen Hayeks stehen wie man will, jedenfalls ist er nicht dafür bekannt geworden, allenthalben nur „steile Thesen“ verkündet zu haben. – Vielleicht lohnt es sich, seiner Demokratiephobie einmal auf den Grund zu gehen.

„Parlamentarische Demokratie“ 

Ein Parlament legitimiert seine Existenz und seine Tätigkeit damit, dass es „vom Volke gewählt“ sei. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Zu fragen ist aber: Ist die derzeit übliche politische Wahl überhaupt ein echter Auswahlvorgang? Angesichts der Fakten könnten hier Zweifel aufkommen. 

Das lächerliche Gerangel um die „Große Wahlrechtsreform“ (Welt am Sonntag 24/2023) ist der Beweis dafür, dass man nicht in der Lage ist, nur die elementarsten Überlegungen darüber anzustellen, wie eine sachgerechte Repräsentantenauswahl vonstattengehen könnte. Wie unbedarft der Anspruch, seine Existenz als „Volksvertreter“ aufgrund einer kandidatengebundenen Listenwahl zu rechtfertigen! 

Vor allem aus dem zweiten meiner oben genannten Beiträge hatte sich ergeben: Die heutige Wahl ist ein irrationaler Vorgang. Sie ist völlig ungeeignet, Machtstrukturen auf demokratischem Wege hervorzubringen. Auf ihrem Fundament können sich gesellschaftspolitische Machtinstanzen – das sind letztlich die „Parteien“ – zu dauerhaften und in sich geschlossenen Funktionsstätten herausbilden. Die heutige Form der politischen Wahl ist das Fundament für eine Gesellschaftsform, die durch den Totalitarismus der Parteienherrschaft gekennzeichnet ist. Aus ihr entsteht zwangsläufig eine Parteienoligarchie. Und die schickt dann die von ihr favorisierten Leute als „Kandidaten“ ins Rennen.

Die kandidatengebundene Listenwahl ist das Kernelement derzeitiger Gesellschaftsordnung. Die Ergebnisse kritischer Analyse zeigen: Sie dient lediglich einem Zweck, nämlich der legalistischen Verzierung der sogenannten Parlamentarischen Demokratie. Die permanent in die Welt gesetzte Behauptung, die „Volksvertreter“ seien vom Volke auf demokratischem Wege gewählt, ist nichts als eine beschwichtigende und heuchlerische Ausrede privilegierter Gesellschaftsklassen für die Notwendigkeit ihres Daseins und ihres Tuns. 

„Souveränität des Volkes“

Jede Partei hat sich im Laufe der Jahrzehnte in Richtung Privatclub zum Abgreifen von Wählerstimmen entwickelt. So musste es kommen, dass aus der Demokratie das wurde, was sie derzeit ist, eine bunt angestrichene Fassade: rot, grün, schwarz, gelb, blau. Pink fehlt noch; da gibt es gewissermaßen einen blinden Fleck auf der politischen Agenda. 

Ob mit oder ohne blinden Fleck – die Parlamentarische Demokratie ist eine Fassadendemokratie. Sie ist die Ausgeburt der kandidatengebundenen Listenwahl. Selbst wenn es eines Tages gelänge, alle Parteien zu verbieten, dieser Wahlmodus würde erneut nur wieder solche Cliquen an die Macht bringen, die vom Grundkonzept her Parteiencharakter hätten. Sie mögen sich dann Partei nennen oder nicht: Die Form, in der heute gewählt wird, begünstigt Gruppierungen dieser Art. Sie lässt immer wieder Oligarchien entstehen und trägt damit eine Obrigkeiten-Untertanen-Struktur in die Gesellschaft hinein.

Die vielbeschworene „Souveränität des Volkes“ ist ein schlechter Witz. Die Behauptung, das Parlament repräsentiere das Volk, hört sich an wie blanker Hohn. In den Parlamentarischen Demokratien sind allein die Führungskader der Parteien souverän. Sie haben die frühere Obrigkeit ersetzt und sind jetzt selbst die Majestäten. Die Auffassung Abraham Lincolns, Demokratie sei die Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk, trifft auf heutige Gesellschaften nicht zu. 

Die kandidatengebundene Listenwahl erzeugt keine Demokratie im Sinne echter Volksherrschaft. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Länder, die nach dieser Prozedur verfahren. In Deutschland kommt noch hinzu, dass man die Mehrheitsregel mit der Verhältnisregel verbindet. Das verschafft Parteifunktionären einen weiteren Vorteil gegenüber anderen Personen. 

Legitimität der „demokratischen Einrichtungen“

Es mag viele Leute geben, die an den Wert unserer Gesellschaftsordnung glauben. Aber: „Ist bereits die demokratische Legitimation des Parlaments – mangels wirklicher Volkswahl der Abgeordneten – erschüttert, so steht die Legitimation der vom Parlament gewählten Amtsträger, die in Wahrheit vorher von den Parteien bestimmt werden, erst recht bloß auf dem Papier. Das Zaubermittel, dennoch Legitimation vorzugeben, ist die sogenannte ununterbrochene Legitimationskette, die vom Volke bis zu den Amtsträgern reichen soll. Angesichts der völligen Einflusslosigkeit des Volkes und der alleinigen Bestimmung durch die Parteien erweist sie sich aber vollends als wirklichkeitsfremde Fiktion“, meint der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim. 

Als Ulrich Beck 1993 die Öffentlichkeit mit der These konfrontierte, die politischen Parteien seien nichts als „Zombie-Institutionen“, historisch längst tot und dennoch nicht gestorben, hat er uns nicht gesagt, warum das so ist. Die Antwort habe ich 1994 nachgeliefert: Weil unser Wahlmodus sie nicht sterben lässt. Er kann gar nicht anders. Er bringt Gebilde in der Art parteienbestückter Parlamente zwangsläufig hervor. 

Was auf der Basis der kandidatengebundenen Listenwahl allein emporwachsen kann, sind Demokratieattrappen. Die heute sogenannten Demokratien sind Mogelpackungen. Die üblichen Wahlen bringen immer nur Repräsentanten hervor, „deren Entscheidungen durch die Erfordernisse eines Schachers geleitet werden müssen … Auf Grund dieses Defekts in der Konstruktion unserer angeblich konstitutionellen Demokratien haben wir tatsächlich wieder jene unbeschränkte Macht, die die Whigs des 18. Jahrhunderts als ein ‚wildes und monströses Ding‘ bezeichneten“, meint Hayek. 

„Wenn Hitler, dessen größte Sorge sicher nicht die Verbreitung der Demokratie war, als unvermuteter Agent derselben gelten kann, dann hat das seinen Grund darin, dass die Antidemokraten von heute genau dasjenige Demokratie nennen, was die eifrigen Anhänger der ‚liberalen Demokratie‘ von gestern Totalitarismus nannten – beide sprechen über dasselbe“, lesen wir bei Jacques Rancière.

Demokratie und Despotie

Stellen wir der Demokratie die Despotie als negative Politvariante gegenüber, werden wir sagen müssen: Mit der kandidatengebundenen Listenwahl zieht ein despotisches Moment ins politische Leben ein. Die Machtelite in den „Demokratien“ kann aufgrund der sonderbaren Art ihrer Bestallung „den denkbar vollkommensten Despotismus aufrichten“ (Hayek). Unser Staat ist ein Gebilde „mit demokratischer Fassade und despotischen Zügen“, ergänzt der Erkenntnistheoretiker und Kosmopolit Gerard Radnitzky. 

Das Wissen darum, dass Despotismus auch aus Wahlen hervorgehen kann, hatten schon Thomas Jefferson und seine Zeitgenossen. Man kann sich nur wundern, mit welcher Chuzpe und welchem Fanatismus ihre Nachfolger, die Wortführer der politische Klasse der USA, ihre Vorstellung von „Demokratie“, die auch Vorbild für die deutsche war, überall auf der Welt durchzubomben versucht.

In einer echten Demokratie kommt es darauf an, die Souveränität der „sozialen Basis“ zu bewahren. Dies wird durch das heute übliche Machterteilungsritual eher behindert als befördert. Außerdem: Schon aus ökonomischer Sicht müsste in vielen Gesellschaften das Prädikat „demokratisch“ im Sinne von „Volksherrschaft“ in Frage gestellt werden. Es übersteigt jede Vorstellungskraft, dass ein Volk auf Dauer ohne Murren akzeptiert, dass die Hälfte aller „öffentlichen Einnahmen“ (und oft viel mehr, z. B. in Schweden zur Zeit des Olaf Palme) der bestimmenden Macht von irgendwelchen privilegierten Mitbürgern obliegt und dass ein Großteil davon direkt in deren Taschen verschwindet. 

Demokratie und „Demokratie“

Es bedurfte der Aufklärung über das Ich des Menschen, seine Freiheit und seine Beziehung zum Du, um das Naturrecht der Freiheit als Grundsatz für alle Menschenrechte – sofern sie echte Freiheitsrechte sind – zu erarbeiten und zu formulieren (siehe meine ersten vier Sandwirt-Beiträge). In der Folge zeigte ich, dass die politische Wahl in Gestalt der kandidatengebundenen Listenwahl diesem „Recht“ widerspricht. Wenn wir darin einig sind, nur solche politischen Institutionen als legitim anzuerkennen, die zum Menschenrecht passen, dann müssen wir den real existierenden Parlamenten jegliche Befugnis absprechen. Den Repräsentanten in allen Ländern, in denen Wahlen in der üblichen Form stattfinden, fehlt die eigentliche, nämlich die durch eine souveräne Auswahl erteilte Vertretungsvollmacht. Die über eine Listenwahl an die Macht gelangten „Volksvertreter“ haben ein massives Legitimationsproblem.

Wer die Gedankenkette in meinen oben genannten Sandwirt-Beiträgen schrittweise mitverfolgt hat, wird ein großes Fragezeichen hinter die derzeitige Politkonstruktion setzen müssen. Nach all dem sieht es nämlich so aus, als sei die Errichtung einer Parlamentarischen Demokratie mit ihrem Parteienstaat das Dümmste, was einer freiheitsbegabten Menschheit passieren kann. 

Wer voll und ganz vom Menschenrecht (dem „Naturrecht der Freiheit“) überzeugt ist und des Schlussfolgerns mächtig, wird zwangsläufig zu dieser Ansicht gelangen. – Es gibt bessere Repräsentationsformen als Parlamente. Und es gibt menschengerechtere Gestaltungsformen von Demokratie als die heutige.

Man kann es Hayek nicht verübeln, wenn er angesichts der aktuellen Situation das Wort „Demokratie“ ganz aus dem politischen Vokabular streichen will – zugunsten eines neuen (s. o.). Ich hingegen möchte es beibehalten. Wenn man den Demokratiebegriff auch bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, er hat eine ehrwürdige Tradition. Er basiert auf einer freiheitlichen Gesinnung. So sollte er auch künftig dazu dienen, eine schlüssig-human organisierte Gesellschaft zu bezeichnen. 

Unsere angeblich demokratieversessene Intelligenzija ist angesichts der Missstände, die inzwischen offensichtlich sind, mit ihrem Latein am Ende. Auf das zentrale politische Problem „Autokratie (Selbstherrlichkeit) des Monopolismus“ hat sie keine Antwort mehr. Oder sie will keine haben, denn aufgrund ihrer wohlsituierten Position – beruflich oft angestellt beim Monopolherrn Staat – profitiert sie von der „Demokratie“. So sind der Autokratie Tür und Tor geöffnet.

Der Wert der Parlamentarische Demokratie ist etwas, das man uns anhand dummer Schulbücher eingetrichtert hat. So blieb uns der innere Zusammenhang von Freiheit, Menschenrecht und Demokratie fremd. Hätten wir ihn rechtzeitig kennengelernt, das „System“ wäre schnell am Ende. Aufgrund seiner Entstehungsregel (kandidatengebundene Listenwahl) war es von Anfang an eine demokratische Totgeburt.

Radikale Kritiker der Demokratie erblicken nicht nur in der Parlamentarischen Demokratie, sondern in der Demokratie überhaupt eine defekte Sozialordnung. Man solle Demokratie am besten ganz abschaffen, so etwa der Sozialkritiker Hans-Hermann Hoppe. Hayek hält dagegen: „Es scheint mir, dass die Desillusionierung, die mancher spürt, nicht auf einem Fehlschlagen der Demokratie als solcher beruht, sondern darauf, dass wir damit falsch umgegangen sind. Gerade weil es mir am Herzen liegt, das wahre Ideal davor zu bewahren, in Misskredit zu geraten, versuche ich herauszufinden, welche Fehler wir gemacht haben und wie wir die unerwünschten Konsequenzen des demokratischen Verfahrens verhindern können“. 

Wer das demokratische Prinzip „Primat der sozialen Basis“ konsequent vertritt, muss Politik zur Sache dieser „Basis“ machen. Und die „Basis“, das sind wir alle: das mit Freiheit begabte einzelne Ich und das in dieser Hinsicht dem Ich gleiche Du. 

Von der „Basis“ hat sich die Parlamentarische Demokratie weitgehend entfernt. Wer es nicht glaubt, höre doch einmal gut zu, wenn im Parlament wieder die gern gebrauchte Redewendung „Die Menschen draußen im Lande“ ertönt. Sie ist geradezu verräterisch. Hier kommt unverhohlen zum Ausdruck, was Sache ist: Wir hier drinnen (offenbar im warmen) – und die da draußen (offenbar im kalten).

Perspektiven?

Sollten wir also die Demokratie-Idee als Schimäre verwerfen, als soziale Fehlkonstruktion sozusagen, die nur deshalb die Jahrtausende überdauert hat, weil sie – einstmals aus der Flasche gelassen – nicht mehr in diese zurückwill? Oder bedarf es eines Paradigmenwechsels hinsichtlich unserer Vorstellung von freier Gesellschaft und den dazu passenden Mechanismen für die Auswahl politischer Repräsentanten? – Nötig wäre er, denn die Analyseergebnisse in den oben genannten Sandwirt-Beiträgen erschüttern das Konzept der Parlamentarischen Demokratie an seinen Grundfesten. 

Wären wir darauf aus, dem Demokratie-Ideal wieder ausreichend Raum zu verschaffen, einem Ideal der Art, wie es uns z. B. die „Demokratie des Marktes“ (Ludwig von Mises, Carl Christian von Weizsäcker) in aller Stille und Unaufdringlichkeit Tag für Tag vor Augen führt, dann lohnt es sich, hier einmal genauer hinzuschauen. Denn die „Demokratie des Marktes“ ist ein eindrucksvolles Beispiel für freies Auswählen. 

Der Freiheitswille der Individuen und eine dazu passende Form von Demokratie sind zwei voneinander untrennbare Sujets. Die passende Form zu finden, setzt voraus, das soziale Modell „Demokratie“ von Grund auf neu zu überdenken. Dafür werden wir zuerst alternative Methoden der Personenauswahl studieren müssen. Im Zuge solcher Bemühungen sollte auch einmal versucht werden, aus der Beobachtung und Analyse der natürlichen Auswahlvorgänge unseres Alltags Wesensstrukturen herauszufiltern, welche das Fundament abgeben könnten für ein freiheitskompatibles politisches Wahlverfahren. 

Ich zeige an anderer Stelle, dass es zumindest einen Weg gibt, in menschengerechter Weise zur „Volksherrschaft“ zu gelangen.

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