Protokolle der Aufklärung #16
Bei dem Philosophen Ernst Cassirer lesen wir: „Es scheint so etwas wie einen Instinkt in uns zu geben, der bewirkt, dass wir uns unserer Freiheit gegenüber oft ‚unlustig‘ verhalten. Wenn der Mensch nur seinen natürlichen Instinkten folgen würde, würde er nicht für die Freiheit kämpfen; er würde eher die Abhängigkeit wählen. Offenkundig ist es viel bequemer, von anderen abzuhängen … Dies erklärt, dass die Freiheit so oft sowohl im privaten als auch im politischen Leben mehr als Last denn als Vorrecht betrachtet wird“.
Einer der Gründe: Wo von Freiheit die Rede, ist immer auch von Verantwortung die Rede.
„Freiheit ohne Verantwortung ist keine Freiheit“, sagt Mathias Döpfner in seinem Freiheitsbuch. Aber es gilt auch: Verantwortung ohne Freiheit ist keine Verantwortung. Beide Begriffe sind offenbar untrennbar miteinander verbunden. Aber auf welche Weise sie zueinander gehören, darüber herrscht weithin Schweigen.
Antwort auf Fragen des Schicksals
Dass über die Zusammengehörigkeit von Freiheit und Verantwortung viel gesprochen wird, ohne die Gründe zu nennen, ist nicht verwunderlich. Denn die Normalsterblichen haben nur die sogenannte „negative Freiheit“ im Kopf. Sie beachten nicht, dass es darüber hinaus noch die „positive“ gibt (siehe meinen Sandwirt-Beitrag „Positive und negative Freiheit“). Erst der im kantischen Sinne „positive“ Freiheitsbegriff (Spontanautonomie) macht die enge Verbindung von Freiheit und Verantwortung verständlich. – Inwiefern?
Immanuel Kant entwickelt den Freiheitsbegriff in engster Verbindung mit dem Begriff „Kausalität“. Freiheit ist für ihn eine besondere Form von Kausalität. Sie ist die Kausalität des endlichen Regresses. Sie hat einen Anfang, und zwar im handelnden Ich. Der Knackpunkt dabei ist: Die Ursache ist in der Person (dem „reinen Ich“) zu verorten und nicht im Habitus (dem „empirischen Ich“). Nur so ist zu verstehen, dass das Ich selbst Verursacher bestimmter Handlungsvollzüge ist. Denn der Mensch als Habitus ist immer der Naturkausalität unterworfen (siehe meinen Sandwirt-Beitrag „Die Freiheit des Ich“).
Freiheit ist dort, wo der Eigenwille Ursache für reale Abläufe sein kann. Das ist er z. B. beim Abschluss von Verträgen oder bei der Planung von Verbrechen. Verträge werden als selbstgesetzte Antworten auf schicksalsbestimmte Ausgangslagen abgeschlossen. Und die Planung von Verbrechen ebenso. Die Ausgangslagen dafür entstehen in der Regel infolge materieller Bedürfnisse. Diesbezüglich, nämlich als Habitus, ist der Mensch unfrei. Aber wie er darauf reagiert, ist ganz ihm und seinem eigenen Willen überlassen. Deshalb kann er sich auch für ein Verbrechen frei entscheiden.
Das Ich hat keine Macht über sein Schicksal. Es ist in dieser Hinsicht unfrei. Aber es hat Macht als Antwortgeber auf die Fragen, die das Schicksal ihm stellt. Denn bei seiner Antwort geschieht ihm nicht etwas, sondern da ist es spontan-aktiv. Die Antwort auf eine vom Schicksal gestellte Frage ist ein autonomer Akt. Das Ich trägt, sofern es Ursache seiner Handlungen ist, für die Antworten auf Fragen seines Schicksals die Ver-Antwortung. Wenn also jemand behauptet, sein Leben, und somit sein gesamtes Tun, sei „durch die Umstände“ bestimmt, dann ist das nur die halbe Wahrheit.
Aus der Verursachung erwächst die Verantwortung. Verantwortung kann man einem Menschen nur zuweisen, wenn das Tun in ihm seine Ursache hat. Nur aus dem Ursache-Sein-für-etwas ist zu rechtfertigen, dass dafür die Folgen zu tragen sind.
Dass ein Ich für sein Handeln einstehen muss, z. B. aufkommen für den dadurch entstandenen Schaden, setzt voraus, dass es dafür die Verantwortung trägt. Dies wiederum setzt voraus, dass die Kausalkette der Geschehnisse an einer Stelle unterbrochen ist, nämlich im Ich. Verantwortung ist insofern stets Selbstverantwortung. Sie beginnt, wo keine Naturursache für das eigene Tun auffindbar ist. Verantwortung bedingt, dass das Ich prinzipiell unabhängig ist von Fremdbestimmung jeglicher Art, auch wenn es sich manchmal bewusst einer Fremdbestimmung unterwirft. Denn auch dann liegt die Ursache (der Entscheidung) im Ich selbst.
Verantwortung und „negative“ Freiheit
Erst die bewusste Ich-Habe erlaubt, dass ein Ich sich als Verursacher seiner Handlungen begreift und – in der Folge davon – als schuldiges Ich. Ohne dies wird es sich für sein Tun nicht verantwortlich fühlen können. Ohne das Vermögen, eine Kausalkette von selbst anfangen zu können, sind Freiheit und Verantwortung nicht zusammenzubringen.
Aus all dem ergibt sich: Es ist nicht möglich, Verantwortung und Schuld zusammen mit dem negativen Freiheitsbegriff zu denken. Der Grund: Tatursache und Verantwortung sind eng mit dem Ich und seiner Spontanautonomie verknüpft, also mit dem positiven Freiheitsbegriff. Einen Zusammenhang von Verantwortung und negativer Freiheit zu zeigen, hat bisher auch noch niemand vermocht. Bei der negativen Freiheit wird Kausalität nicht im eigenen Ich festgemacht, sondern bei Anderen. Denn die blockieren die Eigenspontaneität. Hier wird man also „Schuld immer nur bei den Anderen“ suchen.
Mit der negativen Freiheit allein kann eine schlüssig-human organisierte Gesellschaft nichts anfangen. Sie muss auf den umfassenderen Freiheitsbegriff bauen, der die positive Freiheit einschließt und damit den freien Willen ermöglicht. Erst die Freiheit des Willens erlaubt, die Ursache einer Tat beim handelnden Individuum zu verorten und dieses dafür verantwortlich zu machen.
Von „Freiheit und Verantwortung“ zu reden, ist sinnlos, wenn Freiheit – neben dem Freisein von Behinderung der Eigenspontaneität (negative Freiheit) – nicht auch als Autonomie der Eigenspontaneität (positive Freiheit) begriffen wird. Aus der Verursachung einer Tat wächst die Verantwortung für die Tat. Wer Ursache einer Tat ist, der muss auch die Verantwortung für die Folgen tragen. Das schließt z. B. die Wiedergutmachung ein (bei einem eventuellen Schaden). Nur aus dem Ursache-für-etwas-sein ist das Verantwortlich-für-etwas-sein zu rechtfertigen. Und auch nur daraus kann die Tatschuld abgeleitet werden.
Das Gefühl, für sein Tun selbst verantwortlich zu sein, öffnet übrigens auch das Tor zur Moralität. Nicht jene Menschen, die immer sehr nett zueinander sind, verdienen moralisch genannt zu werden, sondern jene, die gelernt haben, ihr Tun selbst zu verantworten. Besser wäre, wenn sie darüber hinaus gelernt hätten, ihr Tun auf den eigenen Verantwortungsbereich zu beschränken. Dann hätten sie auch gelernt, das Tun der Anderen – in deren Verantwortungsbereich – rückhaltlos zu respektieren.
Neurologie und Verantwortung
Von Willensfreiheit und Verantwortung zu sprechen, ist bei vielen Neurowissenschaftlern obsolet. So musste es kommen, dass angesehene Vertreter ihres Faches, z. B. Michael Gazzaniga, Werner Siefer, Eckart Voland und David Eagleman, aus ihren zweifellos interessanten empirischen Untersuchungen den Schluss ziehen: Willensfreiheit und die daraus abgeleitete Selbstverantwortung sind Illusionen.
„Wir sollten den Neurobiologen aber für diese Behauptungen nicht allzu böse sein“, meint dazu Reinhard Sprenger, „sie sind ja nicht selbst dafür verantwortlich, sondern wurden von ihrem Hirn gesteuert … Was macht die Idee, es gebe keinen freien Willen, so attraktiv? … Nun, es ist ein Erlösungsversprechen. Eine Entschuldigungskulisse. Die Annahme … verspricht Entlastung von Verantwortung. Sie schützt uns gegen die Fröste der Freiheit und entbindet uns von der Pflicht zur Autonomie. Man kann sie als Alibi … missbrauchen und so unsere Welt einfacher und dekomplexer machen … Das ist es also, was die Naturwissenschaften bereitstellen: Trost … Sie erklären Schuld und Scheitern, entlasten von Selbstanklage, Entscheidungen verlieren ihr drückendes Gewicht … ‚Tröste dich, du kannst nichts dafür, es war dein Hirn’. – Ein Freispruch erster Klasse“.
Kein Wunder, dass die Ergebnisse der Hirnforschung im großen Publikum so große Resonanz finden. Gazzaniga geht sogar soweit, die gesamte Rechtspraxis in seinem Sinne ummodeln zu wollen: „Unser Rechtssystem bedarf einer neurowissenschaftlichen Reform“. Sollte damit beabsichtigt sein, Rechtsbrecher von der Schuld an ihrer Tat freizusprechen, wäre dies zumindest bedenklich.
Für wen „der freie Wille lediglich eine Illusion“ ist, wie für Gazzaniga, hat in puncto Verantwortung ein großes Problem. Gazzaniga beruhigt sich mit der These, dass „soziale Vorgänge“ den Geist des Einzelnen steuerten, woraus letztlich Selbstverantwortung erwüchse. Die Beobachtungsdaten dazu und die Antwort auf die Frage, wie das funktionieren soll, bleibt er uns schuldig. Jedenfalls gibt es für ihn wie für viele seiner Kollegen kein Einstehen des Ich für sein Tun, schon deshalb nicht, weil es nach ihrer Auffassung ein Ich gar nicht gibt (siehe dazu auch meinen Beitrag „Die zwei Seiten des Ich“).
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Die Texte von Diettrich Eckardt lese ich stets mit besonderen Vergnügen und Gewinn, weil sie in vielem mit dem korrespondieren, was „Der menschliche Kosmos“ zum Inhalt hat. Danke an den Autor, denn er stellt mit großer Sachkenntnis wichtige Fragen – und gibt aus der Sicht von Philosophie und Psychologie bedenkenswerte Antworten mit praktischem Bezug auf den Alltag zwischen Selbst- und Fremdbestimmung.