Mythos „geistige Krankheit”

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts und im Televisor des Sandwirts: Hier.

„Geistige Krankheiten” sind ein verbreitetes Phänomen unserer heutigen Zeit. Sie sind nicht nur die Ursache zahlreicher Krankschreibungen, sondern dienen beispielsweise auch als Begründung, um Gewalttätern nicht die „übliche” Vergeltung zukommen zu lassen, sondern diese in einer Klinik unterzubringen. 

In dieser Kolumne will ich der Frage nachgehen, was es mit „geistigen Krankheiten” aus handlungslogischer Sicht auf sich hat und wieso der US-amerikanische Psychiater Thomas Szasz (1920 – 2012) sie in seinem Buch „The Myth of Mental Illness“ als ‚Mythos‘ bezeichnete.

Dantes Commedia und Kants „Gängelwagen“

Die Psychologie beginnt keineswegs mit Sigmund Freud (1856 – 1939), sondern bereits Dante Alighieri (1265 – 1321) hat die Dimensionen der menschlichen Seelen in seiner „Göttlichen Komödie“ (Originaltitel: „Commedia“) in 100 Gesängen von der Hölle über den Läuterungsberg bis hin zu den himmlischen Sphären fein säuberlich aufgedröselt und bildreich beschrieben. 

Aus der Handlungslogik wissen wir, dass es die tiefsitzenden, oft unbewussten und vor allem häufig unreflektierten Einstellungen und Überzeugungen sind, aus denen das Denken-und-Fühlen folgt und in der Folge das Handeln der Menschen. 

Grafik: „Von den Einstellungen und Überzeugungen“ zum Handeln; aus „Der Kompass zum lebendigen Leben

In Dantes Commedia macht sich der Held Dante mit seinem Reiseführer Vergil auf, den Einstellungen und Überzeugungen der Menschen auf den Grund zu gehen. Allegorisch steigt er hinab in die seelischen Höllen der Menschen, um die Qualen, die sie sich und anderen zufügen, distanziert und von Vergil kommentiert zu betrachten. Dabei beschreibt er bildreich die Haltungen zu sich und der Welt, die ursächlich sind für diese Qualen: Wollust, Geiz, Verschwendungssucht, Trübsinnigkeit und dergleichen in den oberen Höllenkreisen, ein „beschnittenes” bis nicht vorhandenes Mitgefühl in den unteren und ganz oder teilweise in Eis gefrorene Seelen im untersten. 

Ist man sich dieser Haltungen, dieser grundlegenden Einstellungen und Überzeugungen zum eigenen Ego und zu den anderen erst einmal bewusst, kann der Aufstieg auf den Läuterungsberg folgen, wo die alten, „schädlichen” Haltungen zu sich und der Welt durch neue, günstige ersetzt werden – in vielen, vielen Umläufen um die Galerien des Läuterungsberges.

Die seelischen Höllenqualen, das ist der geistige „Gängelwagen“, von dem Immanuel Kant (1724 – 1804) gesprochen hat, in den die Menschen „eingesperrt” sind. Die Menschen machen sich und/oder anderen das Leben im wahrsten Sinne des Wortes zur Hölle, weil sie ungünstige Einstellungen und Überzeugungen hegen, die mit der Lebenswirklichkeit handelnder Menschen nicht im Einklang stehen. Diese Haltungen sind deshalb ungünstig, aber sind sie wirklich ‚krankhaft‘?

Der Mythos geistiger Krankheit

Der US-amerikanische Psychiater Thomas Szasz kritisierte an der Psychoanalyse Sigmund Freuds und an der modernen Psychotherapie und Psychiatrie, dass diese mit der Metapher „geistige Krankheit” eine unzweckmäßige Metapher verwenden. Ich zitiere im Folgenden aus meinem Buch „Der Kompass zum lebendigen Leben“ (S. 119 f.):

„Geistige Krankheit [so Szasz] gebe es nicht in dem Sinne, wie es Krankheiten im Bereich der ‚klassischen‘ Medizin gebe, also durch Viren oder Bakterien ausgelöste Erkrankungen, Tumore, Knochenbrüche, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und so weiter, die die körperlichen Funktionen beeinträchtigen. Natürlich können auch körperliche Krankheiten Auswirkungen auf die geistigen Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Menschen haben, beispielsweise Gehirntumore, eine Alzheimer-Erkrankung, ein Schädel-Hirn-Trauma oder Meningitis (Hirnhautentzündung), und auch mit körperlich wirkenden Mitteln kann auf die menschliche Psyche eingewirkt werden, beispielsweise mit Betäubungsmitteln. Soweit aber eine körperliche, pharmazeutische oder sonst medizinische Ursache für die Einschränkung der psychischen Möglichkeiten des Einzelnen ausgemacht werden könnte, handelte es sich gerade nicht um eine ‚geistige‘ Krankheit, sondern eben um eine körperliche Erkrankung oder Einwirkung mit Auswirkungen auf die geistigen Fähigkeiten.

Szasz bringt gegenüber Freud und dessen Kollegen vor, dass sie geistige Haltungen von Menschen, also Einstellungen und Überzeugungen, als krankhaft einordnen und damit an sich eine ethische Klassifizierung (Einstufung) vornehmen. Freud bewerte die Einstellungen und Überzeugungen mit dem Prädikat ‚krankhaft‘, und diese Einordnung sei willkürlich, also persönlich. Bei den medizinischen Krankheiten sei unpersönlich (objektiv) feststellbar, dass ein Vorgang die Funktionalität des menschlichen Körpers beeinträchtige. Und sofern es eine medizinisch-physiologische oder pharmazeutische Ursache hierfür gäbe, handele es sich nicht um eine geistige Krankheit. Aber ob eine Einstellung oder Überzeugung eines Menschen ‚krankhaft‘ sei, also ‚schlecht‘ im Hinblick auf die geistige ‚Funktionalität‘, setze voraus, dass jemand in der Lage wäre festzulegen, wann ein Mensch ‚gesunde‘, also gute Einstellungen und Überzeugungen habe. 

Dabei sei es letztlich gleichgültig, ob sich das Leiden, das der Klient beschreibt, als körperliches Gefühl zeige, wie dies etwa bei Kopf- oder Rückenschmerzen der Fall sein könne, ohne dass eine körperlich-medizinische Ursache feststellbar sei, oder ob sich das Leiden psychisch zeige, wie etwa bei einer Depression, die sich letztlich auch auf das körperliche Wohlbefinden auswirken kann, wie etwa Müdigkeit und Antriebslosigkeit. 

Im ersteren Falle (körperliches Gefühl, Schmerz) könne es sich auch um Proto-Sprache handeln, also um einen Ausdruck von Unwohlsein, der körperlich zum Ausdruck komme, etwa weil der Klient sich einen sprachlichen Ausdruck seines Unwohlseins nicht gestatte, wie zum Beispiel wenn ein Mensch Kopfschmerzen gegenüber seinem Partner äußert, weil er sich nicht gestattet zu sagen, dass ihm dies oder jenes unrecht sei. 

Proto-Sprache in dem Sinne, dass sich der Klient dann der früheren Kommunikationsformen bedient, wie etwa das Kind, das wie schmerzerfüllt brüllt, wenn es Hunger hat oder etwas nicht bekommt, womit es spielen möchte. Letztlich können beide Symptome geistigen Unwohlseins, körperlich ausgedrückte und nichtkörperliche, nicht auf medizinisch-körperliche Ursachen zurückgeführt werden, ansonsten käme man überhaupt nicht dazu, eine ‚geistige‘ Krankheit anzunehmen.

Ob ein Verhalten eines Menschen ‚krankhaft‘ sei, bei dem keinerlei körperliche Störungen als Ursachen für psychische Auswirkungen festgestellt werden können, sei letztlich eine normative Frage, keine medizinisch-naturwissenschaftliche. Was ist ‚normales Verhalten‘? Durchschnittliches oder ideales Verhalten? Und da ideales Verhalten eine Bewertung und daher persönlich ist, wer sollte dann festlegen, was das Ideal zu sein hat? Und es ist ebenso willkürlich, durchschnittliches Verhalten als ‚gesundes‘ oder ‚nicht-krankhaftes‘ Verhalten einzuordnen.“

Geistige Krankheiten und Vergeltung von Gewalttaten

Dem heutigen Strafrecht, das stellte schon Immanuel Kant fest und das hat sich seitdem nicht geändert, liegt keine „apriorische Ethik” zu Grunde und es gebe auch kein apriorisches „Strafmaß”, sondern das „staatliche Strafen” sei schlicht die Gewalt des Befehlshabers gegen den Unterworfenen, ihm wegen eines Verstoßes gegen seine Befehle Schaden zuzufügen. 

Im Kompass zum lebendigen Leben schrieb ich (S. 123): 

„Im Zusammenhang mit ‚geistigen Krankheiten‘ wird auch die ‚strafrechtliche Verantwortlichkeit‘ von Menschen diskutiert. Wie wir bereits festgestellt haben, ist der Wille eines Menschen nicht ‚frei‘ in dem Sinne, dass er frei von Bedingungen wäre, die in der Vergangenheit liegen. Auch als ‚gesund‘ eingeordnete Menschen haben Einstellungen und Überzeugungen, die sie aufgrund ihrer Entwicklung erworben haben und die die Ursache für ihr Handeln sind. Jede Person, die anderen Schaden zufügt, tut dies aufgrund ihrer Einstellungen und Überzeugungen. Deswegen ist diese Person jedoch nicht ‚krank‘ im medizinischen Sinne – und kann natürlich von den Geschädigten zur Verantwortung gezogen werden für ihr Handeln. Dass eine solche Person nicht anders konnte, als sie tat, hat sie mit allen anderen Personen gemeinsam.“

Gesellschaftlich akzeptierte schädliche Einstellungen und Überzeugungen

Gemäß einer apriorischen Ethik, wären zudem viele weitere Einstellungen und Überzeugungen feindliche Handlungen beziehungsweise Aggressionen.

„Apriorische Ethik“, Grafik aus dem Buch „Der Kompass zum lebendigen Leben“

Menschen, die rücksichtslos und offenbar ohne Mitgefühl handeln oder ein nur auf einen engen persönlichen Kreis beschränktes Mitgefühl haben, werden häufig auch als Psychopathen beziehungsweise Soziopathen bezeichnet. Wenn die Menschen aber vorgeschobene „Ideale” solcher – aus handlungslogischer Sicht – rücksichtslosen Gewalttäter aus persönlichen moralischen Gründen gutheißen, erkennen sie die feindlichen Handlungen nicht mehr und halten selbst in aggressiver Weise ausgeübten Zwang und Gewalt für legitim. 

Aus der apriorischen Ethik wissen wir aber, dass Drohung mit Zwang und Gewalt und Zwang und Gewalt selbst, die nicht ausschließlich Zwecken der Verteidigung, Wiedergutmachung oder – falls diese nicht zu erlangen ist – Vergeltung dienen beziehungsweise der Durchsetzung freiwillig getroffener rechtlicher Vereinbarungen, a priori nicht legitimierbar sind. Sie sind stets illegitim, weil ihnen eine freiwillig vereinbarte Rechtsgrundlage fehlt, und da sie definitorisch weder Verteidigung noch Vergeltung sind, handelt es sich um illegitime Aggressionen.

Nun gibt es beispielsweise Menschen, die die Haltung haben – oft tief verinnerlicht –, dass man andere aggressiv angehen dürfe, ja geradezu sollte, wenn rein formal eine „Mehrheit” dafür ist und es einem Zweck dient, den sie subjektiv für moralisch erstrebenswert halten, wie etwa „Umverteilung” oder die Finanzierung von allen möglichen Gütern und Dienstleistungen, die sie subjektiv für „gemeinwohlförderlich” halten. 

Aber dass aus Zahl Recht nicht folgen kann, habe ich bereits in meiner Kolumne „Eine neue Ethik“ ausführlich beschrieben, und auch vorgeschobene altruistische Motive machen eine feindliche Handlung nicht zu einer freundlichen, wenn ein friedlicher Dritter, auf dessen Kosten beispielsweise die Umverteilung geht, dabei zu Schaden kommt.

Andere Menschen glauben, dass „kapitalistischen Klassenfeinden” Zwang und Gewalt angedroht werden sollte; oder dass Menschen aufgrund einer bestimmten Abstammung erzwungenermaßen bevorzugt oder benachteiligt werden sollten; oder dass man „Ungläubigen” Aggression antun darf oder gar sollte; oder Menschen, die nicht im Militär zur „Verteidigung” der Regierung mitkämpfen möchten – und vieles andere mehr. 

Werden Menschen mit solchen feindseligen Haltungen heute für „psychisch krank” gehalten, weil sie – scheinbar empathielos – Zwang und Gewalt gegen friedliche Menschen fordern und fördern? Nein, nahezu niemand spricht in den genannten Fällen von einer „psychischen Krankheit”, und die Anhänger der jeweiligen Ideologie heißen solche Haltungen sogar gut. Aber aus praxeologischer Sicht sind ihre Einstellungen und Überzeugungen brandgefährlich, weil aus ihnen ein Denken-und-Fühlen folgt, dass sie Drohung mit Zwang und Gewalt gegen sich friedfertig verhaltende Dritte emotionieren lässt.

Schlussbetrachtung

Jedermann, der Drohung mit Zwang und Gewalt gegen friedliche Menschen emotioniert und auch tatsächlich durchsetzt oder andere aktiv bei der Durchsetzung unterstützt, hat in dem Sinne ungünstige Einstellungen und Überzeugungen, weil es für die Opfer ungünstig ist, wenn sie dadurch zu Schaden kommen. Dante Alighieri hat in seiner „Commedia“ viele Mitglieder des Klerus, des Adels und der Parteien seiner Zeit (Weiße und Schwarze Guelfen) in die tiefsten Höllenkreise gesteckt, den 8. und den 9. Höllenkreis. Denn er hat – ohne Ansehen der Person und unbeeindruckt von Narrativen zur Legitimation von Aggression – beobachtet, wie diese Menschen charakterlich strukturiert sind, wie sie handeln und wie sie ihren Mitmenschen das Leben im wahrsten Sinne des Wortes zur Hölle auf Erden machen.

Viele blicken heute zurück auf vergangene Zeiten und verurteilen die Ideen des Imperialismus, Kolonialismus, Kommunismus, Sozialismus, Nationalsozialismus, Faschismus und dergleichen. Und wegen der begangenen Grausamkeiten völlig zurecht. Aber dass Aggression gegen friedliche Menschen – wenn auch im Ausmaß nicht vergleichbar – ebenso fester Bestandteil des zeitgenössischen Etatismus ist, so, wie er sich seit der französischen Revolution 1789 fast überall auf der Welt etabliert hat, erkennen sie nicht. 

Nicht nur Ludwig von Mises (1881 – 1973) selbst, sondern auch sein Schüler Murray Rothbard (1926 – 1995) und dessen Schüler Hans-Hermann Hoppe oder auch das Staatsoberhaupt Argentiniens, Javier Milei, klären nun schon seit geraumer Zeit darüber auf, dass der Etatismus und sein hauptsächliches Werkzeug, der Interventionismus – also das staatliche fall- und zwangsweise Eingreifen in das menschliche Handeln – nicht nur ökonomisch dysfunktional sind, sondern auch unethisch und ungerecht.

Schließen möchte ich an dieser Stelle jedoch mit einem positiven Ausblick von Joseph T. Salerno aus seinem Artikel „Warum ‚Menschliches Handeln‘ heute aktueller denn je ist“:

„Es gibt jedoch einen gewichtigen Grund für Libertäre, sich von Mises‘ Analyse ermutigen zu lassen. Der Interventionismus ist ein instabiles Regime, das im Schlingerkurs zwischen Sozialismus und reiner Marktwirtschaft hin und her schwankt. … [Wir] können … vorhersagen, dass eine interventionistische Wirtschaft von endlosen Krisen heimgesucht werden wird. Diese Krisen werden die Pläne und den Korpsgeist der herrschenden Eliten zerstören, während die produktiven Klassen verarmen, frustriert werden und verbittert. Dies wird eine „Wir-gegen-sie”-Mentalität fördern und eine Gelegenheit bieten, die von libertären Vordenkern und Meinungsmachern genutzt werden kann. Diese Männer und Frauen, die mit den Lehren von Menschliches Handeln bewaffnet und vom Mises’schen Geist der menschlichen Freiheit durchdrungen sind, werden in der Lage sein, eine kämpferische Massenreaktion zu mobilisieren, die die linken Eliten von der Macht verdrängt und die Wirtschaft in Richtung eines Systems des vollkommen freiwilligen Austauschs vorantreibt.“

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