Rechtsschöpfung als Selbstgesetzgebung

Protokolle der Aufklärung #45

Aus meinem Sandwirt-Beitrag „Das Gewähren und das Dürfen“ geht hervor: Jeder Eigentümer hat ein uneingeschränktes Nutzungsrecht an seinem Besitz, sofern er anderen nicht schadet. Er hat das Nutzungsmonopol. 

Aus den Überlegungen des Sandwirt-Beitrags „Der Vertrag als Dreh und Angelpunkt des Statuarischen Rechts“ konnten wir lernen: Ein solches Monopol wird aus Schenkungen, vor allem aber aus Verträgen gewährt. Diesen Sachverhalt gilt es – zumindest hinsichtlich des Vertrags – zu vertiefen. Denn die eigentums- und rechtsstiftende Rolle vor allem des Vertrags kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Pflicht als Anweisung für künftiges Handeln

Derjenige, der per Vertrag einem Anderen eine Güternutzung gewährt, schafft für sich eine Pflicht und daraus ein Handlungsgebot. Das im Vertrag Gebotene zu tun oder zu lassen, ist Pflicht. Aus den gebotenen Pflichten eines Vertragspartners erwachsen für den anderen Vertragspartner Rechte. Vor jedem Vertragsabschluss geben die Vertragspartner An-Gebote ab, die danach zu Geboten für das Anbieterverhalten werden. Sie sind dann Anweisungen für künftiges Handeln, d. h. Pflichten. Das Recht aus einem Vertrag ist also nichts anderes als „das Vermögen, andere zu verpflichten“ (Kant).

Bei jedem Tausch von Rechten per Vertrag kommt nicht nur mein Recht, sondern auch meine Pflicht ins Spiel. Meine Vertragspartner räumen mir Rechte ein, damit sie selber Rechte durch mich erhalten. Ihr Recht bürdet mir Pflichten auf und mein Recht ihnen. Recht- und Pflichtsetzung ist also ein und derselbe Vorgang. Nur die Personen, zwischen denen der Vorgang stattfindet, unterscheiden sich.

Ob beim Familien- oder Erbrecht, beim Arbeits-, Ehe-, Handels-, Kredit-, Miet-, Grund- und Wohnungseigentumsrecht, es geht immer nur um das eine: den recht- und pflichtsetzenden Vertrag. 

Bei einem schlüssig-human organisierten Recht entstehen alle positiven Rechte aus frei geschöpften An-Geboten auf der Basis frei gestalteter Verträge. Die verlangen dem Bietenden reales Handeln ab – in Form einer Pflichterfüllung. Damit sind für die durch die Gebote Be-Rechtigten (Pflicht-Begünstigten) neue Wege der Lebensentfaltung geschaffen. Das, was sie an positivem Recht ausleben dürfen, gewähren ihnen andere, indem sie Pflichten übernehmen und erfüllen. Damit ermöglichen sie den Genuss der Rechte. 

Eine Win-Win-Situation

Ein Recht wird in der Regel nicht gratis gewährt. Ein Mensch will, wenn er die dafür erforderlichen Pflichten anbietet, im Gegenzug Rechte haben, die ihm wertvoller dünken, als die dafür in Kauf zu nehmenden Pflichten. Vertragliche Versprechen werden abgegeben mit dem Ziel, eine für beide Vertragspartner günstigere Lebenslage zu schaffen, eine sogenannte Win Win-Situation. Das Motiv gegenseitiger Rechtsetzung ist das Vorteilsstreben. Dabei muss jede Vertragspartei zum Vorteil und zur Zufriedenheit der anderen leisten bzw. liefern.

Die durch einen Vertrag bewirkte Rechtsumschichtung ist einerseits eine Rechtsminderung, andererseits eine Rechtsmehrung. Die bisherige Rechtsverteilung hatte bei den Vertragspartnern Unzufriedenheit ausgelöst. Alle am Vertrag Beteiligten erhoffen sich über die Rechtsumschichtung eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse (s. o.: Win-Win-Situation). 

Rechtsgleichheit

Die Pflichtbelasteten verschaffen ihren Vertragspartnern Rechte. Sie schaffen sich damit zugleich ein Soll für ihr künftiges Verhalten eine Handlungsnorm in Form eines Gebots. Das Gleiche vollzieht sich umgekehrt: Die durch die Pflicht ihrer Vertragspartner Begünstigten bieten ihrerseits auf dem Wege einer Pflichtübernahme ihren Vertragspartnern ein Recht. Sie setzen sich damit ebenfalls ein Soll für ihr künftiges Verhalten. 

Daraus folgt unabweisbar, dass es so etwas wie „Gleichberechtigung“ zumindest im Statuarischen Recht nicht geben kann. Das Prinzip „Rechtsgleichheit“ kann nur für das Menschenrecht in Anspruch genommen werden. Dieses ist jedoch ganz anders geartet als das in Verträgen gesetzte (statuierte) positive Recht. – Es gibt gute Gründe, warum sich das Gleichheitsprinzip aus dem Menschenrecht – wie übrigens auch das Prinzip „Allgemeinheit“ – nur auf das negative Recht, also die Verbote, vererben kann.

Gleichheit der Menschen im physischen Sinne kann es nicht geben und wird es auch in Zukunft niemals geben können. Deshalb ist die im Zusammenhang mit dem statuierten Recht oft bemühte und geforderte „Gleichberechtigung“ nichts als eine Fata Morgana. Wie weit der Zeitgeist von dieser Wahrheit entfernt ist, zeigt ein neueres Buch des Thomas Piketty, dem „Karl Marx des 21. Jahrhunderts“ (FAZ), das schon gleich bei seinem ersten Erscheinen zum Bestseller avancierte.

Die Selbstgesetzgebung

Bei der Gewährung von Recht über Verträge geschieht nun genau das, was Gesetzgebung zu nennen wäre. Den Begriff „Gesetz“ fasse ich etwas anders als üblich, nämlich als Resultat eines nicht fremdbestimmten Setzens von Recht. Das geschieht auf der Basis von Handlungsgeboten, die ein Individuum in Vereinbarungen/Verträgen und Schenkungen für sich selbst schafft. Damit leitet es eigenes Handeln zugunsten anderer ein, denen daraus Rechte = Lebensmöglichkeiten erwachsen. 

Bei der selbstbestimmten Erzeugung von Geboten in Verträgen ist ausschließlich die vertragsschließende Person die Gesetzgeberin. Gesetzgebung ist hier insofern immer Selbstgesetzgebung. 

Spätestens seit Thomas Hobbes wissen wir: Der jeweilige Souverän erschafft das Recht. Die Macht der Rechtsschöpfung bezeugt seine Souveränität. Setzt das Individuum an der „sozialen Basis“ über seine Verträge Recht (für Andere), denen es dann in Form von Pflichten unterworfen ist, ist es selbst der Souverän. Hier gilt zwar wie anderswo auch: Der Herr des Lex regiert den Rex. Nur sind bei der Selbstgesetzgebung beide dieselbe Person.

Nur durch Schenkung oder Vertrag ist Freiheit konsequent in die Schöpfung positiven Rechts einzubinden. In beiden Rechtsakten findet originär Selbstgesetzgebung statt. Durch die Selbstgesetzgebung eines Individuums entstehen Recht und Eigentum für das Gegenüber des „Gesetzgebers“. In einer freien Rechtsgemeinschaft gibt es keine andere als die Selbstgesetzgebung der Rechtsgenossen an der „sozialen Basis“. Und genau das ist der Punkt, an dem sich diese von allen heutigen Gesellschaften prinzipiell unterscheidet. 

Den Unterschied hat, soweit ich das rückverfolgen konnte, menschheitsgeschichtlich zuerst Immanuel Kant gesehen, zumindest erahnt. Er konnte dies, weil er den Freiheitsbegriff derart konsequent und radikal herausgearbeitet hatte, dass darauf ein wahrhaft freies Rechtswesen errichtet werden kann. Die Anregung dafür stammt wohl von Jean-Jaques Rousseau, den Kant begeistert studiert hat.

Rechtliche Freiheit ist „die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Zustimmung habe geben können …, woraus dann folgt, dass eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie (entweder allein oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst gibt, unterworfen ist … Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, dass er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Ursache betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muss“ (Kant). 

In der autonomen Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung – und in der Folge davon der achtsamen und selbstverantwortlichen Einhaltung der Gesetze – gründet nach Kant die Würde des Menschen: „Würde eines vernünftigen Wesens“ bestehe darin, meint er, „dass es keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“. 

Daraus folgt: Wer gegen das Prinzip der Selbstgesetzgebung votiert, vergeht sich an der Würde des Menschen. Verstärkt erscheint die innere Verbindung von Selbstgesetzgebung und Würde bei Kant noch dadurch, dass er sie eng an die Moralität knüpft. Moralität, Selbstgesetzgebung und Würde sind unzertrennliche Sujets.

Herrschaft über sich selbst

Mit Schenkungen und vor allem mit Verträgen geben sich die Menschen die Norm ihres Verhaltens selbst. Deshalb ist zu fragen: Gibt es überhaupt positives Recht, das man nicht aus Schenkung oder Vertrag schöpfen kann? Wer das bejaht, muss klar und deutlich sagen, welches.

In einer wahrhaft freien Rechtsgemeinschaft übt nicht die Gesetzgebung fremder Menschen Herrschaft über das Handeln der Rechtsgenossen aus, sondern nur die von einem Ich selbst vollzogene, eventuell in Absprache mit einem Du bzw. mit einem Wir. Das bedeutet: Das Ich übt Herrschaft nur über sich selbst aus. 

Selbstgesetzgebung ist nicht denkbar, wenn der Mensch immer nur der Naturkausalität unterworfen wäre. Sie setzt voraus, dass er kraft seines Willens selbst Ursache von Geschehnissen sein kann, dass er also hinsichtlich seiner Spontaneität autonom ist. 

Die aus individuellen Vereinbarungen und Verträgen geschöpften positiven Handlungsnormen, also die Gebote, sind immer frei geschaffen. Sie verdanken ihre Existenz den persönlichen Verhandlungen jener Individuen, für die sie geschaffen wurden. Nur die negativen Handlungsnormen, also die Verbote, beruhen nicht auf privaten Vereinbarungen, es sei denn, es verpflichtet sich jemand (schafft sich das entsprechende Gebot!), sich selbst ein bestimmtes Verhalten zu verbieten. 

Selbstgesetzgebung und Menschenrecht

Die Selbstgesetzgebung kann sich auf ein Derivat des Menschenrechtsgrundsatzes berufen (s. mein Sandwirt-Beitrag „Das Naturrecht der Freiheit“). Die in dem Grundsatz ausgesagte freie Lebensentfaltung impliziert freie Normsetzung für eigenes Verhalten. Aus dem Grundsatz lässt sich daher per Subsumption der Satz ableiten: Alle Menschen haben das gleiche Recht, frei Geschenke zu tätigen und frei Verträge abzuschließen. 

Jeder Versuch, dieses Recht zu beschneiden, steht im Widerspruch zum allgemeinen Menschenrecht. Ein solcher Versuch zielt nicht auf eine selbstbewirkte, sondern auf eine fremdbewirkte Form von Pflichtunterwerfung. 

Eine Vereinbarung bzw. ein Vertrag ist vereinigter freier Wille. Wegen der notwendigen Zustimmung eines Du für das Recht eines Ich ist pure Willkür bei der darauf basierten Gesetzgebung grundsätzlich ausgeschlossen. Andere als die über Vereinbarungen geschaffenen Rechte samt der mit ihnen korrespondierenden Pflichten (freiwillig durch den Verpflichteten gesetzte Handlungsnormen) sind in einer schlüssig-human organisierten Rechtsgemeinschaft nicht erforderlich. 

„Die Menschen in einer freien Gesellschaft haben keine anderen Rechte und Pflichten, als die, welche sie freiwillig eingehen“, meint auch der deutsch-schottische Dichter John Henry Mackay. 

Oft ist von Freiheitsfreunden gefordert worden, dass Rechte und Pflichten immer aus individuellen Entscheidungen und Aktivitäten herauswachsen müssen, wenn sie nicht in Widerstreit zum Naturrecht der Freiheit (Menschenrecht) stehen sollen. Aber bisher gibt es, wenn überhaupt, nur skizzenhafte Ansätze für eine Rechtslehre, die dieser Forderung entspricht (z. B. bei Adolf Reinach oder Friedrich von Hayek). 

Ist ein Vertrag endgültig erfüllt oder verzichtet der Rechtsinhaber auf dessen Erfüllung, dann erlischt damit auch das daraus erwachsende Recht. Von da an sind bestimmte Formen der Lebensentfaltung beim Rechtsbegünstigten nicht mehr möglich. In einer freien Rechtsgemeinschaft sterben alle positiven Rechte mit dem Ablauf der Verträge, die mit den jeweiligen Rechtsinhabern abgeschlossen wurden. Mit dem Auslaufen der Verträge und dem Aufbrauch geschenkter Ressourcen verschwinden die daraus gewachsenen Rechte. Dieser ständig sich ereignende Schwund verhindert eine unmäßig sich ausbreitende legalistische Überwucherung der Gesellschaft, so wie wir sie heute beobachten.

Eine Rechtschöpfungszentrale?

Die Befürworter des heutigen Rechtswesens können eine durchgängige, also konsequent auf Selbstgesetzgebung ruhende Rechtslehre nicht zulassen – im Gegenteil: „Das Recht als Ordnung des Zusammenlebens kann nicht den Meinungsverschiedenheiten der Einzelnen überlassen bleiben, es muss eine Ordnung über allen sein“, sagt der angesehene Rechtsphilosoph Gustav Radbruch – stellvertretend für viele seiner Kollegen. Daraus folgert er, dass es in jeder Gesellschaft einen einzigen zentralen Gesetzgeber geben müsse, etwa in Gestalt eines Parlaments. 

Die Existenz eines zentralen gesetzgebenden Instituts ist nicht nur überflüssig, sie kann sogar gefährlich sein, vor allem im Hinblick auf das Naturrecht der Freiheit. Denn es neigt zur Schöpfung von Geboten, die oktroyiert werden, also zur Schaffung von „Befehlsrecht“ (Hans Kelsen; s. auch meinen Sandwirt-Beitrag „Der Staat als Diktator“). Dieser Sachverhalt wird gern übersehen, auch vom Establishment-Liberalismus.

Wer wie Radbruch eine Gesetzgebungszentrale fordert, muss beweisen, dass positives Recht möglich bzw. nötig ist, das nicht durch private Schenkung oder privat abgeschlossenen Vertrag zustande kommt. Es dürfte nicht leicht sein, diesen Beweis zu erbringen. Aber um die oben aufgestellten Thesen entkräften zu können, ist er zwingend.

Weil unter dem Prinzip der Selbstgesetzgebung die Regeln positiven Verhaltens immer an der „Basis“, also zwischen den einzelnen vertragsschließenden Individuen festgelegt werden, ist die kommunale Gesellschaftsebene der wichtigste Ort der Rechtsschöpfung. Ein Parlament in der Funktion eines zentralen gesetzgebenden Instituts ist absolut überflüssig. Ob Parlamente in anderer Funktion nützlich sind, muss an anderer Stelle erörtert werden.

Das Recht einer individuellen und privaten Gesetzgebung überlassen? – Wie kann man solches nur zu denken wagen, geschweige denn institutionalisieren wollen! Auch für radikale Gesellschaftskritiker erscheint dieser aus einem konsequent angesetzten Freiheitsbegriff gewachsene Gedanke abwegig und ungereimt. Eine Rechtsgemeinschaft ohne zentral fungierenden Rechtserzeuger, ohne jemanden, der von oben herab die Verhaltensregeln für alle anderen verbindlich festlegt? Muss eine derart organisierte Gesellschaft nicht im Chaos enden?  

Keineswegs. Die Erfahrung in einigen Rechtsbereichen lehrt: Aus der Selbstgesetzgebung kann eine durch und durch natürliche Ordnung des Zusammenlebens entstehen. Der Glaube an die Notwendigkeit eines Parlaments als Gesetzgeber hat mehr mit fehlgewachsenen Hirnstrukturen zu tun als mit vernünftiger Argumentation. Er zeigt den Grad an, in dem sich in unseren Köpfen Unterwerfungssehnsüchte verfestigt haben (s. meinen Sandwirt-Beitrag „Der Weg in die Knechtschaft“). 

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2 Kommentare. Leave new

  • Andreas Schnebel
    20/09/2025 16:22

    Der Entwurf klingt sauber, aber er springt zu kurz. Verträge können Rechte nicht aus dem Nichts schaffen – sie setzen Eigentum und verbindliche Ordnungen bereits voraus. Selbst-Eigentum, Treueverhältnisse, ja sogar das Verbot von Aggression stehen nicht im Belieben vertraglicher „Selbstgesetzgebung“, sondern sind die Grundlage, auf der Verträge überhaupt erst möglich werden. Wer Recht allein aus Verträgen ableiten will, verliert die Basis, die jedem Vertrag vorausgeht.

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    • Lieber Herr Schnebel, nennen Sie mir nur ein einziges positives Recht, das nicht per Geschenk oder Vertrag zustandekommen kann.
      Ohne beides gibt es kein Eigentum, sondern nur Besitz (s. mein Sandwirt-Beitrag „Das Gewähren und das Dürfen“). Ist Eigentum einmal da (per Geschenk oder Vertrag), kann es weitergereicht werden (per Geschenk oder Vertrag). MfG Eckardt

      Antworten

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