Protokolle der Aufklärung #31
Im Sandwirt-Beitrag „Staat als Monopolkonzern mit Einheitskasse“ hatte ich die ökonomische Struktur des Staates beschrieben. Inzwischen sind wir durch meine Sandwirt-Beiträge „Die Handlungsnormen“ und „Das Diktatorische in der Gesellschaft“ darauf vorbereitet, den Staat auch vom juridischen Standpunkt aus kritisch zu betrachten. Hier spricht er von sich selbst zwar von einem freiheitlichen „Rechtsstaat“, erweist sich bei genauerem Hinsehen jedoch als zwangsfixierter Diktator. Inwiefern?
Der Gebotszwang beim Staat
Jede entwickelte Rechtsgemeinschaft ist ein Netzwerk auf der Basis von Vereinbarungen und Verträgen. Das Netzwerk kommt auf dem Rücken der realen individuellen Verkehrsaktivitäten des Marktes zustande. In heutigen Gesellschaften greift hier gewöhnlich eine zentrale Instanz ein. Die Instanz gibt nicht nur die „negativen“ Regeln für das Handeln vor: als zwangsbewehrte Verbote, sondern schreibt auch viele Normen fest, nach denen wir unser Handeln „positiv“ einrichten sollen: als Gebote. Um das gesellschaftliche Verhalten nicht nur „negativ“, sondern in vielerlei Hinsicht auch „positiv“ zu justieren, werden ebenfalls Zwangsmaßnahmen eingesetzt (a. a. O.).
Wie das Verbotsrecht, so ist auch das Gebotsrecht heute Sache des Staates. Die einschlägigen Regulative werden zwar vom Parlament in Kraft gesetzt. Im Zeitalter der „Parteienstaaten“ (Gerhard Leibholz) ist das Parlament jedoch Teil eines allübergreifenden Staatsapparats. Der Apparat als Ganzes muss daher als maßgeblicher Regelgeber für die Gesellschaft angesehen werden. Mit der staatlichen Gesetzgebung hat sich nun das diktatorische Moment Macht verschafft, dass die Gesellschaft ohnehin schon kennzeichnet (a. a. O.).
Der staatsbewirkte Gebotszwang ist nicht zufällig einmal so da. Er ist als Befugnis des Staates in seinem Organisationsplan fest verankert, in Deutschland etwa im Artikel 123/1 des sogenannten „Grundgesetzes“. Dieser Artikel schreibt die Weitergeltung des Statuarischen Rechts fest, und zwar so, wie es seiner Wesensart nach in der Vergangenheit entstanden ist. Aber nicht nur das. Er überträgt auch den feudaloiden Geist, aus dem es ursprünglich stammt, in die heutige Gesellschaft.
Gebotszwänge sind derzeit vorwiegend obrigkeitlich verfügte Handlungsoptionen. Solche Optionen wären an sich nichts Anrüchiges, wenn die Gebote, die das positive Recht begründen, durchgängig in Form freier Angebote das Publikum erreichten, als gute Ratschläge sozusagen, die man auch ausschlagen könnte. So ist es aber nicht. Der Staat in seiner Rolle als Gesetzgeber – auch für das positive Recht – ist dort meistens nicht Anbieter von Vorschlägen, sondern Gebieter von Vorschriften.
Zwangsgebote sind Zwangsvorschriften. Solche braucht eine freiheitliche Rechtsgemeinschaft nicht. Angeblich unabdingbare Zwangsgebote, z. B. das Rechtsfahrgebot in vielen Ländern oder das Linksfahrgebot in anderen, lassen sich jeweils durch ihr Pendant ersetzen, in unserem Fall etwa durch das Linksfahrverbot und das Rechtsfahrverbot. So kann sich eine Gesellschaft allein auf Zwangsverbote beschränken, ohne im Rechtschaos zu versinken. Zwangsgebote hingegen braucht sie nicht.
Gebotszwang als juridischer Interventionismus
Viele „von oben“ geschaffene Gebots-Regulative sind keine unverbindlichen Verhaltensvorschläge oder Formvorlagen für individuelle Vereinbarungen und Verträge, die man annehmen aber auch ausschlagen könnte, sondern ganz massive Zwangseingriffe in die Entscheidungsfreiheit der Menschen. Der fremdbewirkte Gebotszwang ist die juridische Form des staatlichen Interventionismus, im Unterschied zur ökonomischen (dem Subventionismus).
Die obrigkeitlichen Gesetzesschöpfer wollten offenbar nicht abwarten, ob nicht vernünftige, d. h. eigentumsschützende Verbote allein das Gewünschte bewirken könnten: die Erhaltung des Friedens unter den Menschen. So setzen sie auf eine Ideologie, mit der dieser Friede durch die Schematisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens geschaffen werden soll. Die Beschwörungsformel lautet: Es muss auch auf dem Gebotssektor oktroyierten Zwang geben. Den soll zwar nicht ein kaiserlich-königlicher Imperator erzeugen, aber eine zumindest ähnlich fungierende „hoheitliche“ Instanz.
So nahm das Recht im Laufe der Zeit immer mehr Zwangscharakter an, und zwar nicht nur das eigentumsschützende („negative“) Verbotsrecht, was ja vernünftig wäre, sondern auch das eigentumsgewährende („positive“) Gebotsrecht. Infolgedessen dürfen dessen Regulative nun nicht mehr aus freien privaten An-Geboten entstehen, so wie es das Naturrecht der Freiheit verlangen würde, sondern sie werden auf dem Wege der Nötigung in der Gesellschaft durchgedrückt. Das unterscheidet sie nun nicht mehr vom gewaltbewehrten Verbotsrecht, das in seiner vernünftigen Form nicht Nötigung, sondern Schutz bewirkt. Schutz und Nötigung sind zwei völlig gegenläufige Rechtsabsichten. Die erste folgt aus dem Naturrecht der Freiheit, die zweite widerspricht ihm.
In einem früheren SPIEGEL-Artikel („Der Nanny-Staat“; 33/2013) beschreibt Alexander Neubauer das bis ans Absurde grenzende staatliche Gebotszwangswesen: „Schätzungen gehen von mehr als einer Million Vorschriften aus … Die Frage, wie viel Wasser eine öffentliche Toilette maximal verbrauchen darf, ist ebenso geregelt wie das Design von Sonnenschirmen in der Außengastronomie … Einem beliebten Hamburger Fischhändler wurde nach einem Schadensersatzprozess auferlegt, ein Hinweisschild an der Verkaufstheke anzubringen mit der Warnung, dass Fische Fischgräten enthalten können.“
Und Neubauer folgert: „Das Individuum ist in Verruf geraten. Der Staat traut dem Einzelnen nicht mehr viel zu, jedenfalls nichts Gutes. An die Stelle des Homo sapiens tritt der Homo demenz, der betreuungsbedürftige Trottelbürger. Über 200 Jahre nachdem Immanuel Kant den Aufbruch des Menschen aus dessen selbstverschuldeter Unmündigkeit verkündete, schlägt das Pendel jetzt in die Gegenrichtung.“
Der gegängelte Staatsbürger, schreibt Neubauer weiter, zahlt einen hohen Preis. Mit jeder neuen positiven Vorschrift verliert er einen Teil seiner Freiheit und seines Geldes. Er sinkt in eine unwürdige Unmündigkeit herab. „Kann es sein, dass der Staat jene Unmündigkeit, die er seinen Schutzbefohlenen unterstellt, in Wahrheit erst erzeugt?“ (a. a. O.)
Wenn man z. B. in Deutschland irgendetwas Positives tun will, muss man zuerst schauen, ob man es so tun darf, wie man es für richtig hält. Statt sich an einem vernünftigen Verbotskatalog zu orientieren und danach seine Handlungspläne zu erstellen, muss man einen Antrag stellen, den eine Behörde überprüft. Sie vergleicht die Daten des Antrags daraufhin, ob sie mit den gesetzlich vorgeschriebenen positiven Handlungsnormen übereinstimmen. Sonst wird er abgelehnt. Der Antrag kann in manchen Fällen bis zu 18.000 DIN-A4-Seiten umfassen (z. B. bei einem Windparkaufbau).
Dass in Düsseldorf die Fußgänger eine acht Seiten starke Broschüre studieren sollen, bevor sie an der Ampel über die Straße gehen, ist kein Witz. Die durch sogenannte „Wahlen“ bestallten Sozialingenieure (s. meine Sandwirt-Beiträge #5 bis #9) „leiten den Bürger beim Einkaufen und im Straßenverkehr, zu Hause und in der Freizeit, sie behüten, schubsen, motivieren und moralisieren“ (SPIEGEL, 26/2014).
Die internationale Dimension
Das Gebotszwangswesen treibt die buntesten Blüten, sowohl in Deutschland, als auch im Brüssel-Europa. Denn die Regelungsinstitute international verbundener Staaten pflegen das Gebotsdiktat ebenfalls bis zum Exzess. Besonders bezeichnend war die berühmt gewordene „Gurkenkrümmungsverordnung“ der Europäischen Union. Sie wurde denn auch wegen weltweiten Gelächters schnell wieder eingestampft. Daraus wurden aber keine Lehren gezogen. Nach wie vor gilt in Europa die Regelung, dass „eine Pizza Neapolitana einen Durchschnitt von maximal 35 Zentimetern aufzuweisen hat, im Innern 0,4 Zentimeter dick sein und sich wie ein Buch zuklappen lassen muss“ (Bruno Bandulet in der Monatsschrift „eigentümlich frei“ Nr. 141). Mit solchen Beispielen lässt sich ein vielseitiges Konvolut füllen (s. Norbert Golluch, 2014).
Schon im Jahre 2002 produzierte die europäische Kommission zwei Millionen Blatt Papier mit Vorschriften, wie Bandulet recherchiert hat. Dieser Jahresausstoß dürfte seitdem kaum kleiner geworden sein. Die Länge der Liste obrigkeitlicher Eingriffe in die bürgerliche Existenz ist nahezu unendlich. Ob bei der Tierhaltung, bei der Eheschließung, beim Vererben (Verschenken) oder bei Handelsgeschäften – die gebietende Zentralgewalt ist allgegenwärtig.
Der Staat hat sich – um es mit den Worten John Lockes zu sagen – dem Individuum gegenüber „in einen Kriegszustand versetzt“, bei dem er selbst der Angreifende ist. Der allgegenwärtige Gebotszwang lässt ihn als krakenhaftes Ungetüm erscheinen, das mit seinen zahlreichen Fangarmen alle Individuen umschlingt – mit einer umwerfenden Ahnungslosigkeit darüber, dass er mehr lähmt als fördert, mehr tötet als belebt.
„Die Greifarme des Staates reichen in jedermanns Leben hinein. Es gibt Regeln und Vorschriften für alles unter der Sonne“, bemerken die beiden Holländer Frank Karsten und Karel Beckman (2012). „In unserem Leben ist so gut wie alles verrechtlicht … Die Politik … überlastet den Rechtsstaat zunehmend mit immer neuen Regelungen“, stellt 2017 auch der Vorsitzende der Richtervereinigung, Jens Gnisa, fest.
Der „Rechtsstaat“ – ein grandioser Bluff?
Die Umklammerung des Bürgers durch den Staat geschieht vermeintlich in bester Absicht und auf unschuldigste Weise. Keinem anderen als Erich Mielke, dem Sicherheits-Chef der ehemaligen DDR, war es vom Schicksal vorbehalten, anlässlich des Bankrotts seines politischen Systems vor seinen Bürgern öffentlich und allen Ernstes den Ausruf zu tun: „Ich liebe! Ich liebe doch alle!”
Geradezu skandalös ist, dass der Staat sich oft selbst nicht an die Regulative hält, die er schafft. „Der Staat weicht immer öfter seine eigenen Regeln auf … Mit dem Ankauf der Steuer-CDs aus der Schweiz ermöglichen wir zwar die Aufklärung von Straftaten, dies aber auf Kosten des Rechts. Denn wir kaufen Daten an, die ihrerseits durch Straftaten erlangt worden sind“, bemerkt Jens Gnisa (a. a. O). Die Aufkäufer solcher CD’s dürfen sich ganz offensichtlich ungestraft als Hehler betätigen, die ein Diebesgut weiter verwerten. „Hier ist eine Spirale staatlichen Rechtsbruchs in Gang gesetzt“ (Gnisa).
Die Rede vom „Rechtsstaat“ ist ein grandioser Bluff. Denn es gibt dort überall fremdbewirkte und oktroyierte Gebote. Sowohl in den Gebotszwängen des sogenannten „öffentlichen Rechts“ als auch in denen, die sich inzwischen in das Privatrecht eingeschlichen haben, offenbart sich die vom großen Publikum kaum in Frage gestellte Methode, „die Untertanen durch eine einseitige Willenserklärung (Befehl) zu verpflichten.“
Somit ist das Recht der Bürger „zu wesentlichen Teilen Staatswille“, sagt der Rechtsphilosoph Hans Kelsen. „Die staatliche Gesetzgebung ist … eine ‚autokratische Normerzeugung‘ … So wird der Staat … zum Rechtsstaat, der sich dadurch rechtfertigt, dass er das Recht fertigt.“
Da sich Recht stets auf menschliches Handeln bezieht, kann der Rechtsstaat „als nichts anderes erkannt werden, denn als eine Zwangsordnung menschlichen Verhaltens“ (2008).
„Das Wesen der Staatstätigkeit ist, die Menschen durch Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zu zwingen, sich anders zu verhalten, als sie sich aus freiem Antriebe verhalten würden“, meint auch Hans-Hermann Hoppe (2012).
Das heute sogenannte „öffentliche Recht“ ist ein besonders markantes Beispiel für den Herrschaftsanspruch einer Obrigkeit gegenüber ihren Untergebenen. Es spaltet die Gesellschaft. Bei einem freien Privatrecht sind die Rechtssubjekte von gleichem Rang. Ein Untergebenen-Verhältnis gibt es nicht. Auf dem Fundament des sogenannten „öffentlichen Rechts“ hingegen bildet sich automatisch eine soziale Obrigkeiten-Untertanen-Struktur heraus. Es beinhaltet vorwiegend positive Handlungsnormen, die durch Fremdzwang bewirkt werden können. Eine Balance zwischen Herrschaft und Knechtschaft z. B. zwischen den Rechtsparteien Bürger und Staat, gibt es nicht.
Bei aller berechtigten Wüterei gegen den sogenannten „Rechtsstaat“ – es gilt auch: Jede Macht ist letztlich anerkannte Macht, jedes im Publikum durchgesetztes Diktat anerkanntes Diktat. Im großen Publikum besteht seltsamerweise weitgehender Konsens darüber, dass eine Obrigkeit das Recht, ja sogar die Pflicht haben müsse, dem Einzelnen zu sagen, wo es lang geht, und sei es auf dem Wege der Nötigung.
„Den Gebietenden macht nur der Gehorchende groß“ (Friedrich Schiller). – „Wer sich … zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird“ (Immanuel Kant).
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