Protokolle der Aufklärung #14
Der dreitägige Festtagshype um die deutsche Bundesverfassung ist inzwischen aus dem Lichtkreis der öffentlichen Aufmerksamkeit heraus. Alle sahen sich veranlasst, am 24. Mai und den Tagen danach „ihr Bestes zu geben.“ – Es war peinlich, peinlich, peinlich.
Im Rückblick auf meine beiden vorigen Sandwirt-Beiträge zum Thema (Protokolle der Aufklärung #12 und #13) stelle ich jetzt eine grundsätzliche Frage: Braucht eine Gesellschaft überhaupt so etwas wie „Verfassung“?
Schon mit dieser simplen Frage kann man heutzutage Reaktionen auslösen, wie sie nur bei groben Tabuverletzungen zu beobachten sind, von einer hinreichend kritischen Antwort ganz zu schweigen.
Euphorische, aber auch kritische Stimmen
Alle Betriebe – auch die, welche die kollektiven („öffentlichen“) Güter anbieten – benötigen Aufbau- und Funktionspläne für ihre Aktivitäten. Die müssen sie sich schaffen. Das sind zwar auch Verfassungen – als Statuten für Güter liefernde Unternehmen –, aber nicht jene vergötterten Gebilde, die diesen Namen gewöhnlich tragen.
Was heute ausdrücklich Verfassung (constitution) heißt, ist das politische Ordnungsgefüge eines Staates. Es besteht im Wesentlichen aus einer Entstehungs- und einer Organisationsregel, d. h. aus einer Wahlordnung und einem Gestaltungsplan. Oft ist noch eine Menschenrechtsdeklaration vorgeschaltet.
Vor einigen Monaten verlangte der ehemals langjährige Präsident des Deutschen Bundestags (Norbert Lammert) von seinen Untertanen, sie sollten ihre Staatsverfassung „noch wichtiger erachten als die Durchsetzung der eigenen Ziele“ (Welt am Sonntag 21/2023).
Ähnlich äußerte sich vor vielen Jahren Gustav Heinemann, der ehemalige Bundespräsident. Kann es einen klareren Beweis für den Anspruch der Obrigkeit geben, dass das Ordnungsgefüge, welches ihre Existenz sichert, für etwas Heiliges zu halten sei?
„Das Ziel von Verfassungen ist gewesen, alles willkürliche Handeln zu verhindern. Aber keiner Verfassung ist es bisher gelungen, dieses Ziel zu erreichen. Der Glaube jedoch, dass es ihnen gelungen sei, hat die Leute dazu verführt, die Ausdrücke ‚willkürlich’ und ‚verfassungswidrig’ als äquivalent zu betrachten.“ – „Der erste Versuch [bei der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika], die individuelle Freiheit durch Verfassungen zu sichern, ist offensichtlich fehlgeschlagen“, so sieht es Friedrich August von Hayek.
James Buchanan stellt fest, dass angesichts der Idee einer freien Gesellschaft „alle existierenden Verfassungen gescheitert“ seien. Sie mussten scheitern, weil sie „die romantische Vorstellung eines … wohlwollenden Staates“ voraussetzten.
Für Murray Rothbard erweist sich die Verfassungsbildung als „ehrenwertes Experiment …, das fehlgeschlagen ist“.
Hans-Hermann Hoppe meint, die Erstellung der amerikanischen Verfassung – Vorbild für viele andere – sei ein Missgriff gewesen. Alle auf das amerikanische Experiment nachfolgenden Bemühungen um die Errichtung von Staatsverfassungen seien nur gequälte und verwirrte Versuche, dem freiheitsbegabten Individuum Schutz zu versprechen.
Für Bürger einer freien Gesellschaft ist es ein unhaltbarer Zustand, dass mit einer festgeschriebenen politischen Verfassung ein Dokument Verbindlichkeit erheischt, für das niemand eine Verbindlichkeit eingegangen ist. Auf diesen Missstand hat schon vor ca. 170 Jahren der amerikanische Jurist Lysander Spooner hingewiesen. Gegen den Verbindlichkeitsanspruch einer Verfassung wendet er ein, dass „ein schriftliches Dokument niemanden binden kann, solange der Betroffene es nicht unterzeichnet hat.“ Von einer Verfassung gehe „keine Autorität oder Verbindlichkeit aus, solange sie kein Vertrag zwischen Mensch und Mensch ist“.
Ein untaugliches Produkt
Nun wird von einigen Gesellschaftstheoretikern die Auffassung vertreten, es gebe sehr wohl eine von der Verfassung ausgehende Verbindlichkeit. Die Verfassung schreibe unter anderem auch Pflichten für die Obrigkeit fest. Die soll sich vor allem an die darin formulierten Menschenrechte halten. Sie sei mit der Verfassungsgebung gewissermaßen gegenüber sich selbst eine Verbindlichkeit eingegangen.
Das mag wohl sein. Aber in meinen Protokollen der Aufklärung #5 bis #12 im Sandwirt habe ich gezeigt, wie die Obrigkeit sowohl bei der Entstehungsregel, als auch bei der Organisationsregel, die sie sich geschaffen hat, mit sich selbst in Widerstreit gerät. Sie bekennt sich zwar offiziell zum Menschenrecht, schafft aber einen Verfassungstext, der ihm in vielerlei Hinsicht widerspricht.
Weder die amerikanische noch die französische Revolution konnten eine freie Bürgergesellschaft hervorbringen. Ihre Initiatoren glaubten, im Namen der Freiheit Verfassungen erfinden zu müssen. Oft verfügten sie nicht über das gesellschaftstheoretische Know-how, das ermöglicht hätte, den Rahmenentwurf für eine schlüssig-human organisierte Gesellschaft zu erstellen.
Die heute existierenden Verfassungen wurden von Menschen gemacht, die offensichtlich auf die Beantwortung grundsätzlicher gesellschaftsrelevanter Fragen nicht vorbereitet waren. Bestes Beispiel ist das deutsche „Grundgesetz“. Eine Gesellschaft, die auf einem Fundament in der Art des „Grundgesetzes“ errichtet ist, kann gar nichts anderes sein als eine soziale Fehlkonstruktion.
Auf dem Humus skurriler Verfassungstexte treiben die Blüten, die auf uns so abstoßend wirken. Die meisten Verzerrungen in der Wirtschaft und die meisten Verfälschungen beim Recht haben ihren Grund nachweislich in Staatsverfassungen. Die real existierenden Staatsverfassungen sind zur Sicherung der freien Lebensentfaltung der Individuen nicht nur untauglich, sondern sogar schädlich. Sie schreiben eine Obrigkeiten-Untertanen-Struktur in der Gesellschaft fest.
Ein Aufbau einer freien Gesellschaft kann durch Dokumente dieser Art nicht bewirkt werden. Sie sind, wie schon Lysander Spooner im Anschluss an das oben Zitierte bemerkt, „reinste Papierverschwendung“, „nur als Brennmaterial brauchbar“.
Verfassung und Verfasstheit
Kein Grund ist ersichtlich, weshalb das Leben in einer Gesellschaft auf der Basis einer sogenannten „Verfassung“ stattfinden soll. Worauf freiheitsbegabte Menschen jedoch nicht verzichten können, sind vernünftige Strategien, Wucher, Ausbeutung, Willkür und Tyrannei zu vereiteln. Solche Erscheinungen drohen stets durch Monopole. Die Menschen brauchen also Einrichtungen, welche die sonst nicht zu bändigende Autokratie des Monopolismus effektiv in Schach halten.
Eine bürgergerechte Verfassung muss ihr Fundament in wirklich gelebter Gesellschaftlichkeit haben (Karl Jaspers, Ernst Cassirer). Dann ist sie nichts anderes als deren soziale Verfasstheit. Nur ihre Verfasstheit wäre etwas, das „sich das Volk selbst gibt“ (gemäß Präambel des deutschen „Grundgesetzes“). Ihr ideologisches Fundament ist ein einziger Grundsatz: Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung (siehe meinen Sandwirt-Beitrag „Das Naturrecht der Freiheit“).
Die Verfasstheit einer Gesellschaft ist ablesbar einerseits an ihrer spontanen Ordnung. Das ist die Wirtschaftsordnung, die auf dem Fundament frei abgeschlossener Verträge zwischen tauschenden Individuen immer wieder neu entsteht und vergeht. Sie ist ein variables Gebotssystem.
Andererseits ist sie ablesbar an einer fixen Ordnung. Das ist das System des sogenannten „negativen Rechts“. (F. A. von Hayek). Dieses Recht schützt Leben und Eigentum und ist gekennzeichnet durch ein invariables Verbotssystem. Real gelebte Gesellschaftlichkeit ist immer in der Verfassung, in welcher die Individuen ihr Leben sowohl wirtschaftlich, als auch rechtlich selber gestalten.
Eine soziale Verfasstheit (zusammengehalten durch private, frei geschaffene Gebote und durch öffentliche, zwangsbewehrte Verbote) ist die einzig menschenrechtlich begründbare Form von Verfassung. Und sie ist auch die Einzige, die sich eine Gesellschaft (ein „Volk“) selbst geben kann. Eine Staatsverfassung hingegen ist für jeden, der der Staatsfrömmelei (so übersetze ich „Etatismus“) ledig ist, ein Unding.
Es ist der Fleiß und die gegenseitige Achtung der produzierenden Klassen, die eine Gesellschaft am Leben erhalten und zum Erblühen bringen und nicht eine noch so gut ausgetüftelte Staatsverfassung. Emanzipierte Bürger brauchen so etwas wie „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ nicht. Was sie allerdings brauchen, ist eine Ordnung, welche die individuelle Freiheit – eingeschränkt nur durch die Freiheit der Anderen – unbedingt sichert.
Freiheit bringt aus heutiger Sicht eher Unordnung in das Zusammenleben der Menschen. Aber das muss nicht so bleiben. Sie kann die emanzipierte Mutter der Ordnung sein. Sie muss nicht die störrische Tochter sein, die ständig gegen die Mutter rebelliert.