Heureka! Einfälle und Zufälle

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Der menschliche Kosmos #15

Wie verlässlich ist Geschichtsschreibung? Welchen erkennbaren Mustern ist zu trauen? Es heißt, aus Geschichte ließe sich nichts lernen, außer dass sich nichts lernen lässt, aber das würde wohl kaum jemand von seiner eigenen Biograpie sagen. Gleichwohl hängen Erfahrung und Erinnern von Individuen ebenso von subjektiven Strategien ab, wie historische Artefakte von Machtverhältnissen.

Heureka! Einfälle und Zufälle  

Sie erinnern sich vielleicht an Teil 2: „Zeitmaschinen und Perpetuum mobile“, also daran, dass mit Vergangenem niemand interagieren kann, wohl aber mit „trägen Spuren“ der Vergangenheit. Wir sind umgeben von Systemen, die sehr träge interagieren; sie sind „dauerhaft“ und weisen Merkmale früherer Interaktionen auf. Was „Geschichte“ genannt wird, ist das Konstruieren von Modellen und Narrativen aus solchen Spuren – also aus Daten, Objekten, Aussagen. Geschichte soll möglichst plausibel sein und Muster erkennen lassen.

Mustererkennung ist eine elementare Funktion des Gehirns. Auch sie arbeitet meist unbewusst. Beim Simulieren, ebenso beim Zusammenbau und Erzählen von Geschichte wirken Wünsche und Ängste mit – folglich Strategien des Vermeidens und Erlangens. Sie entgehen sehr oft der Kontrolle des Bewusstsein

Ein Beispiel für unbewusstes Antizipieren – auch als „Intuition“ bekannt – ist, wenn Mathematiker oder Physiker die passende Formel zur Lösung einer Aufgabe „intuitiv“ erkennen. Heisenberg hat beschrieben, wie er für seine Quantentheorie Wesentliches fand, nachdem er bei Sonnenaufgang einen Felsen auf Helgoland erklettert hatte. 

Mir fiel der entscheidende mathematische Kunstgriff zum Abschluss meiner Arbeit über das „Verhalten von Laserstrahlen in dünn geschichteten Materialien“ in den Armen meiner Liebsten ein. Sie verstand nicht, wieso ich der wundersam entspannten Zweisamkeit entsprang, um Formeln aufzuschreiben. Andere schwören, die besten Ideen seien ihnen an jenem Ort zugefallen, wohin auch der Kaiser zu Fuß muss. Ob es eine Korrelation zwischen Verdauungsbeschwerden und Einfallslosigkeit gibt?

Die verstopfte Zukunft

„Geschichte“ setzt eine Simulation historischen Geschehens in Gang, deren Muster allzu oft im Vorhinein erwünschten Ergebnissen entsprechen. Die „Lehren der Geschichte“ bestätigen dann vorgefasste Meinungen.

Indessen hat jedes dynamische System eine gemäße Zeit für seine inneren und äußeren Verhältnisse; mechanische Raster schaffen bestenfalls eine Relation zwischen  Nutzanwendungen und gemessenen Systemen. Noch immer werden Äpfel eben zu ihrer Zeit reif und nicht, wenn es der Konservenfabrik passt. Erfahrene Gärtner freilich erkennen, wann das bevorsteht. Und die Zeit eines Menschen hat eine eigenartige Relation zu kosmischen Dimensionen und zu den Dimensionen der Elementarteilchen, die sich kaum vorstellen, geschweige beherrschen lassen. 

Dennoch träumen Menschen angesichts sterbender Sonnen von der Unsterblichkeit und ziehen an allen Hebeln der Dominanz, sie zu erreichen. Sie akzeptieren gerade eben, dass die Vergangenheit eine Struktur hat, die sie nicht ändern können; dass auch die Zukunft unbeherrschbar ist, wollen sie nicht hinnehmen. Planung – seit Neuestem gestützt auf „Künstliche Intelligenz“ – soll das Dominanzprinzip perpetuieren. 

Aber Zukunft ist kein leerer Zeit-Raum, in den sich hineinhantieren lässt. Die Plätze sind besetzt: von Erdbeben, Klimaveränderungen, kosmischen Katastrophen. Vor allem aber von nie gleichzeitig beherrschbaren individuellen und kollektiven Zielen und ihrer Antizipation, von den Kraftfeldern mit den wesentlichen Mustern der menschlichen Existenz, von den gleichzeitig wirkenden, die ganze Geschichte der Menschheit wie des einzelnen bewegenden Strategien. Viktor E. Frankl, 1905 in Wien geboren, war Arzt,  Psychiater und Philosoph mit naturwissenschaftlichem Denken. Er überlebte als einziger seiner Familie die Shoah. Danach überzeugte er in den USA, Deutschland und seiner Heimatstadt Wien mit Schriften und Vorträgen. Mit der von ihm entwickelten „Logotherapie“ wurde er weltweit bekannt. Darin gebraucht Frankl den Begriff „Intentionalität“: Nur der Mensch sei imstande, über sich selbst hinauszugehen – nicht nur wenn er Schwimmen, Fliegen, Tauchen lernt, Polregionen und Achttausender bezwingt, den Mond betritt…, sondern vor allem in seinen schöpferischen Werken und seinen zivilisatorischen Leistungen.    

Dabei zeigt sich: Gefährlicher für die Menschheit als Killerviren, Klimakatastrophen oder Energiemangel sind mechanische, reduktionistische Strategien. Und natürlich die zugehörigen Rituale und Verhaltensmuster. Menschen sind nicht besser als die Igel, nur anders. Sie rollen sich nicht vor Vierzigtonnern zusammen – nicht in jedem Fall – sie fahren sie. Sie könnten sich sogar fragen, wie viele Joghurtbecher darin unbedingt von Polen nach Spanien gekarrt werden müssen.

Seuchenangst und Kriegsgewinne

In die schier endlose Folge besinnungslos bis zur Katastrophe durchgehaltener Verhaltensmuster reiht sich würdig „Möglichst viel möglichst billig“ ein. Sie erinnern sich bestimmt noch an die „BSE- Seuche“: Ob Fleischverbraucher, Viehzüchter, Futterhersteller, Einzelhandel: Alle hatten’s gern billig,  allzu viele scherte es wenig, wenn Tierkadaver,  Abwässer samt Fäkalien verfüttert wurden, Hauptsache der Gewinn war möglichst groß. Dann tauchten auch im „Musterland“ infizierte Tiere auf und alsbald begann die Hatz auf Sündenböcke. Am Ende war es der Staat, der „Verbraucher nicht genug geschützt“ haben soll. Vor wem, wenn nicht vor sich selbst und ihrer Geiz-ist-geil-Strategie? Vor wem, wenn nicht vor der eigenen Habgier? Nein, habgierig, neidisch, verantwortungslos sind ja immer nur die anderen.

Die Folge waren mehr Kontrollmaßnahmen und ein bürokratische Kompromisse zur Kennzeichnung von Fleisch. Die Bürokratie sah sich in ihrer bevormundenden Fürsorge bestätigt, wuchs und wächst weiter. Inwiefern das Verantwortungsbewusstsein von Verbrauchern gestärkt wird, wenn der Staat dafür immer tiefer in ihre Taschen greift, können Sie sich vorstellen. Mit derartigen Beispielen lassen sich Bibliotheken füllen. Und es lässt sich vor allem eines verdeutlichen: Mit äußeren, geschriebenen Regeln, Gesetzen und Verordnungen, mit Kontrollen und Strafen ist tödlichen Strategien sowenig beizukommen, wie den Viren, Bakterien, Malariamücken dieser Welt mit Ausrottungsfeldzügen. Die Jahre 2020 bis 2023 haben bewiesen: „No Covid“ war ein Irrweg, ein milliardenteures Menschenexperiment mit rigiden Maßnahmen der Isolation, Maskenpflicht, Lockdowns, digitaler Überwachung, Testorgien, Einsatz eines gentechnischen Medikaments mit „Notzulassung“ ohne erkennbaren Erfolg.  Die quer durch alle öffentlichen Bereiche getriebene Dauerwerbung, das Androhen einer zwangsweisen – und nutzlosen – „Impfung“ änderte nichts daran, dass das Corona-Virus blieb, was es war: ein saisonal auftauchender Erreger respiratorischer Krankheit wie die Grippe und andere „Erkältungs“-Infekte.

Die weltweite Panikmache mit einem tödlichen Monster erreichte allerdings einen politischen Zweck: Es konnte „durchregiert“ werden, und große Teile der Bevölkerung ließen sich widerstandslos gängeln – in China, Australien und Neuseeland, Israel, vielen Staaten Europas und der USA. Wo sich Bürger zur Wehr setzten, wurden sie gnadenlos als Straftäter verfolgt – selbst in einem als liberal geltenden Land wie Kanada. Noch viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte werden wirtschaftliche, soziale, moralische Folgeschäden der Attacke auf Menschen- und Bürgerrechte die Welt beschäftigen, während ihre Urheber in den nationalen und supranationalen Korporationen mit erkennbarem Eifer ihr Versagen kaschieren, verdrängen, bagatellisieren, schön reden, obwohl ein Desaster totalitärer Herrschaft samt dienstbaren Wissenschaftlern, Konzernführungen und Medien selten so offensichtlich war.

Alle jagen nach dem Glück

Jede Regel, jedes Gesetz, jede Verordnung gebiert, sobald nur kundgetan, eine Vielzahl von Ausweichmanövern, Schlupflöchern, Methoden, sie zu umgehen oder zu unterlaufen und – notfalls kriminelle – Abwehr. Liao Yiwu hat in seinem Dokumentar-Roman „Wuhan“ nicht nur unbekannte Details zur Herkunft des Virus, Geschehnisse der Corona-Zeit in China aufgedeckt und mit spannenden Geschichten verbunden. Wie überall in seinen Büchern zeigt er widerständige, im Untergrund des totalitären kommunistischen Staatswesens zähe überlebende Netzwerke. 

Wer imstande ist, tödliche Strategien zu erkennen, tut gut daran, sein Verhalten zu befragen: Braucht es neue oder geänderte Routinen und Rituale? 

„Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muß auch tun“, sagt Goethe in seinen Maximen und Reflexionen, ein mahnender Hinweis insbesondere an alle, die sich daran gewöhnt haben, Konflikte aus Bequemlichkeit auszublenden. Nur wo eigenverantwortlich handelnde Subjekte sie benennen, Alternativen suchen, dabei auch unbewusst wirksamen Intentionen Platz und Entfaltung zubilligen, entsteht ein schöpferisches Wechselspiel aus Versuch und Irrtum, Lernen und Gestalten. Wie bei Kindern – wenn sie Glück haben.

Richten Sie mit mir wieder den Blick auf die verfügbare Zeit. Es geht um ein Energieverhältnis. Keinem bekannten dynamischen System – egal ob „belebt“ oder „unbelebt“ – steht für seine Interaktionen unbegrenzt viel Energie zur Verfügung. Das biologische Energiepaket eines Menschen hat im Allgemeinen eine Größenordnung von einigen zehn (heute durchschnittlich fast achtzig) Jahren. Wie weit dieses Reservoir in den Interaktionen mit der Umgebung ausgeschöpft wird, hängt von Anfangs- und Randbedingungen ab; katastrophale Verläufe blende ich hier einmal aus. 

Die Reichweiten unserer Interaktionen liegen alle in einer bestimmten Größenordnung und unsere gesamte Wahrnehmung ist  auf diese Größenordnung „geeicht“. Die biologische Uhr des Menschen bezieht sich vollkommen auf seine Energieaustauschprozesse. Sie registriert während heftiger seelischer und körperlicher Aktivität einen anderen „Zeitverbrauch“ als in passiven Phasen. 

„Was, soviel Zeit ist schon vergangen?“, fragen sich die Liebenden, wenn sie zur Uhr schauen. „So wenig erst!“,  denkt zur gleichen Zeit der Nachtwächter. Das mechanische Bewusstsein würde hieraus schließen, dass die Lebenserwartung von Nachtwächtern wegen des geringeren Energieaustauschs mit der Umgebung länger ist als die von Erotomanen. Das ist schon deshalb Unsinn, weil beide die Rollen tauschen können.

Biographie oder Lebenslauf?

Jede Biographie hat ihren charakteristischen Energieverlauf; die Bilanz aber liegt bei allen Menschen in der gleichen Größenordnung (wie gesagt: von katastrophalen Verläufen sehe ich ab). Um es noch einmal ganz klar herauszustreichen: die mechanische Ticktack-Uhr ist nur Mittel,  Unvergleichbares zu vergleichen. Sie ist ein Instrument unserer technischen Zivilisation und ausschließlich für deren Zwecke wird sie an Genauigkeit immer weiter vervollkommnet, ohne je die mechanische Abfolge des „eins nach dem anderen“ zu verlassen. 

Ich würde gern vom Rätsel des „Symmetriebruches“ sprechen. Zeit läuft nur in eine Richtung, eine Umkehr ist nicht möglich. Nicht nur Physiker und Philosophen grübeln darüber. Keine Angst, ich werde mich diesen Grübeleien nicht anschließen, sondern noch einmal – nehmen Sie’s mir bitte nicht übel – auf der Forderung bestehen, Zeit nicht als absolute und „wertneutrale“ Größe zu sehen, sondern vom Standpunkt des dynamischen Systems aus als an Wechselwirkungen gebunden. 

Schauen Sie also einmal auf Ihre Biographie, als hätten alle Interaktionen Jahresringe hinterlassen. So gesehen wird klar, dass jede spätere Interaktion auf dem Holz des Erlebten, Verarbeiteten, aber nur noch eingeschränkt Verfügbaren aufbaut. Menschen können nicht das Gedächtnis wie eine Festplatte oder ein Magnetband „löschen“ und neu beschreiben und ihren Körper – also die gesamte Wahrnehmung – immer aufs Neue „neutralisieren“, oder Neudeutsch „resetten“. Die innere Matrix gestaltet sich, genau wie ein Baum, kumulativ. Deshalb haben Kinder ein ganz anderes Zeitempfinden als Erwachsene, und die Zeit scheint mit dem älter Werden schneller zu verrinnen. Jede Bewegung erfasst den ganzen Baum und nicht nur die im letzten Jahr neu gewachsenen Äste, jede Wahrnehmung kann den gesamten Erfahrungsschatz mobilisieren, nicht nur die der letzten Sekunden oder 24 Stunden. Mögliche Antizipationen variieren in entsprechend großer Zahl. Es sei denn, sie sind blockiert oder verstellt.

In  komplexen und bis heute nicht erkannten Prozessen werden „Langzeit-“ und „Kurzzeiterinnerungen“ mit einer Fülle von Strategien abgeglichen. Die Routinen und Rituale sind dabei gewissermaßen das feste Holz, das den Energieaufwand in Grenzen hält. Sie verleihen Gestalt – oder den „Charakter“ – in den Interaktionen und Selbstinteraktionen. Vertrauen Sie ruhig dem Zeitempfinden und lösen sie sich von der technisch- zivilisatorischen Fiktion einer abstrakt und gleichmäßig ablaufenden Zeit. Sie gaukelt vor, in einen amorphen und unbestimmten Raum hineinrennen, -planen, -bauen und –regieren zu können, in der die Sonne morgens auf- und abends untergeht. Die Zukunft jedes Einzelnen aber hat eine Struktur, so wie die Zukunft eines Baumes sich nicht ohne Ringe „auswächst“. Sie wird bestimmt durch die Anfangsbedingungen und das Wechselspiel aus Umgebungseinflüssen, intendierten – also antizipierten – Zielen und Handlungsimpulsen. 

Das Beharren auf mechanisch-kausalen Strategien läuft auf den Versuch eines Kindes hinaus, nachdem es erfolgreich eine Schleife in einen Schnürsenkels gemacht hat, dasselbe auch bei einer Giftschlange zu probieren.

Sie halten das für eine blödsinnige Übertreibung? Dann fragen Sie doch ruhig einmal etwas genauer nach, zu welchem Ergebnis es führen soll, die Lebensdauer des Menschen um eine Größenordnung – nicht um ein paar Monate oder Jahre – zu verlängern. Geben Sie Ihrer Phantasie Zucker und gehen Sie durch eine Stadt New York, in der hundert Millionen Menschen in einer Alterspyramide zwischen einem und tausend Jahren leben. Bevölkern Sie Ihre Wohnung mit der zehnfachen Mannschaft. Denken Sie über den Preis gar nicht nach. Stellen Sie sich nur vor, dass alle diese reizenden, gutaussehenden, gesunden und wohlgenährten Menschen ihre Konflikte genauso austragen, wie es heute üblich ist. Denn von deren realem Verhalten schweigen all die grandiosen Utopien der technischen Zivilisation und des „Transhumanismus“. Sie wissen nicht warum, sie ahnen es nur.  

Die Zeit ist ein merkwürdig Ding

Erleben Sie die Kriege, Migrationsströme, Finanz- und Wirtschaftskrisen und damit verbundene staatliche Übergriffe nicht auch als Schübe jenes Größenwahns, der sich in dem Gedanken gefällt, die Zukunft zu beherrschen? Solche Schübe treten interessanterweise immer dann auf, wenn neue Instrumentarien mehr Aufmerksamkeit erregen und fesseln als die Konflikte menschlichen Zusammenlebens.

Weltreiche verdanken ihren Aufstieg neuen zivilisatorischen Techniken. Metallurgie, Landwirtschaft, Seefahrt, Buchdruck, Maschinenzeitalter, Atom- und Informationszeitalter: Sie alle gingen mit Verlagerungen der politischen und kulturellen Dominanz einher. Zwischen den breiten Wachstumsschüben liegen die dunklen Zonen der Dekadenzen, Kriege und Agonien. Die Verfallsdaten der Weltreiche wurden umso kürzer, je radikaler ihr Herrschaftsanspruch war, und die Kriege umso grausiger, je imposanter das Instrumentarium. Es grenzt an ein Wunder, dass die Dominanzwünsche des Kalten Krieges nicht im Energieblitz der Wasserstoffbomben aufgingen.

Immerhin haben das atomare Patt, Überbevölkerung und unstillbarer Hunger nach Rohstoffen und Energie zu neuem Nachdenken über Konfliktstrategien geführt und möglicherweise befindet sich die Menschheit gerade in der Situation eines Übergangs zwischen Systemphasen: Nachdem sie sich explosiv auf dem Planeten ausgebreitet hat, kann sie nur noch überleben, wenn sie sich als Ganzes neu strukturiert: nicht zentralistisch in die Höhe eines „Transhumanismus“, sondern dezentral, subsidiär in die Breite und Tiefe individueller Freiheit und Verantwortung. Unvermeidlich müssen das Dominanzprinzip, das mechanisch-kausale Denken samt seiner Zeitfiktion und folglich all jene Rituale der Macht in Frage gestellt werden, aus deren Stoff die menschlichen Katastrophen gemacht sind. 

Damit bin ich wieder beim Problem der verfügbaren Zeit. Die Arbeitswelt des mechanischen Zeitalters brauchte die Zergliederung von Produktionsvorgängen auf einfachste Handgriffe, sie brauchte den Sekundentakt, um das Regime der mechanischen Dominanz durchzusetzen. Es entstanden Heere von An-Gestell-ten, sie waren höchst effektiv zu kommandieren, zu kontrollieren und zu korrigieren, wenn sie die Rolle von Walzen, Hebeln und Rädchen in einer Maschine einzunehmen bereit waren. Darüber habe ich in „Die Erschaffung des Angestellten“ einiges gesagt – vielleicht mögen Sie darauf jetzt zurückgreifen.

Die Zergliederung ermöglichte, Leistung in einem riesigen Markt fast vollkommen zu quantifizieren. Sie ermöglichte natürlich auch die Kapitalismuskritik von Marx und Engels und irrlichtert in allen möglichen Wertschöpfungsutopien bis heute durch die Köpfe von Sozialisten und Börsianern. Das Elend und die Massaker in ihrer Gefolgschaft werden beharrlich ignoriert. Was die Zivilisation der mechanischen Dominanz auszeichnet ist, dass sie die verfügbare Zeit enteignet. Das Maß des Lebens ist nicht mehr der Reichtum der ausgeschöpften Interaktionsmöglichkeiten, sondern die allgemeinen Zeit- und Geldwerten entsprechenden Surrogate. Nicht „Wieviel Zeit verbringst Du spielend mit Deinen Kindern?“ und „Ist dieser Umgang herzlich und beglückend?“ wird gefragt, sondern: „Was kannst Du Deinen Kindern bieten?“ In immer kürzeren Abständen rudern hilflose Eltern gegen die nächste anbrandende Welle des Merchandising: Dinos, Pocket Monster, Panels für Spiele, Smartphones, Tablets, E-Scooter… 

Wem gehört die Zukunft?

Der Fremdverfügung über den Zeitfonds entspricht die panische Gier nach Freizeit, die sich dann in Zerstreuungen aller Art auflöst. Wo ein quengelndes Kind stört, wird es mit Unterhaltung befriedet: Video- und Computergames, Modeartikel, Amüsierbetriebe à la Disney… Natürlich: auch dabei wird „interagiert“, auch dabei gib es Rituale, aber sie entfernen sich von klassischen Rollenbeziehungen in Familie, Nachbarschaft, Vereinen immer mehr zugunsten technischer Dominanzen. 

Die Wenigsten bemerken, dass sie von technischen Hilfsmitteln dominiert werden, dass sie über ihre Zeit längst nicht mehr verfügen – nicht einmal die sogenannte Freizeit. Die meisten Kinder wachsen nicht mit mehreren Geschwistern auf. Jahrhunderttausende alte, in einigen Weltgegenden noch selbstverständliche Erfahrungen des Zusammenlebens mehrerer Generationen sind in den „zivilisierten“ Nationen abgestorben und durch die Bemessungsregeln staatlicher Fürsorge ersetzt. Um möglichst viel Zeit für den Arbeitsmarkt verfügbar zu machen, wird Eltern die Verantwortung für Kinder, Kindern die für die alten und hilfsbedürftigen Eltern abgenommen. 

Das ist auch gut so, aber es lohnt, genauer hinzusehen, darüber nachzudenken, wie weit es gehen soll, und zu fragen, was es kostet. Nicht an Geld, sondern an Lebenszeit – und sinnvollen Alternativen.

Es ist gut, dass – wenn schon Geschwister fehlen – Kinder, professionell betreut, mit anderen Kindern zusammentreffen. Dass alte Menschen nicht auf Mildtätigkeit angewiesen und junge nicht mit der Pflege Hilfsbedürftiger überfordert sein sollten, leuchtet auf den ersten Blick ein. Aber wenn Betreuung und Pflege im zeitlichen Rhythmus von Industriebetrieben oder Behörden ablaufen, kommen sie an Grenzen. Ist es wirklich sinnvoll, dass Alte von Kindern, Behinderte von nicht Behinderten separiert und die Verwandten von möglichst jeder Form der persönlichen Fürsorge „entlastet“ werden? Bildung und Pflege stecken seit über dreißig Jahren in einer Krise, und das, während in einschlägigen Berufen mäßig verdient aber Einsatz rund um die Uhr gefordert wird: Der Nachwuchs fehlt. Fehlt nicht auch die Gewöhnung an den alltäglichen Umgang mit Kindern, Alten und Hilfsbedürftigen? Oder erledigen das im vollendeten „Transhumanismus“ Roboter?

Eingeschränkte Interaktionsmöglichkeiten sind es, die Menschen rasch altern, ihre Ängste und psychischen Probleme wachsen lassen. Der Zwang zu mechanischer Dominanz über die Zukunft – nichts anderes ist die allumfassende  „Versicherungsmentalität“ – überwindet Zukunftsängste nicht, er verlagert sie nur. Und er gebiert monströse Ansprüche an soziale Fürsorgesysteme, er nährt Argwohn, Neid und Blockaden in den Umgangsformen. Jeder Psychologe, Arzt oder Altenpfleger, dem am Wohl seiner Patienten liegt, kann darüber Bände erzählen. Jeder Jurist auch – falls ihn nicht nur das eigene Einkommen interessiert.

Im verlorenen Paradies

Die Insel Bali galt mir wie zahllosen anderen Touristen im Jahr 2000 als Garten Eden. Sie bezauberte mit ihrem für Pflanzen, Tiere und Menschen gedeihlichen Klima, und die Balinesen selbst wirkten so ausgeglichen und freundlich, als hätten sie die Harmonie ihrer natürlichen Umgebung verinnerlicht. Ihre von den hinduistischen Göttern und Mythen geprägte Kultur ist reich, vielfältig, allgegenwärtig und – obwohl sie viele fremde Einflüsse aufgenommen hat – einzigartig.  

Als Schlange in diesem Paradies machen Romantiker aus den „Industrienationen“ rasch den Kommerz dingfest, das Geld der Touristen. Aus Bauern werden Händler, die traditionellen dörflichen Strukturen brechen auseinander und die Ghettos der Reichen an den Traumstränden wuchern mit jenen armseliger Randexistenzen um die Wette. 

Aus traditioneller Kunst wird billiges Kunstgewerbe, aus Musik und Tanz Belustigungen ohne spirituellen Inhalt. Der freundliche Gruß, das Lächeln richtet sich nicht an das Herz des Besuchers, sondern nur an seinen Geldbeutel. Wohin auch immer er sich begibt, trifft er auf Märkte, Andenken werden verramscht, desgleichen filigran aus kostbarem Holz geschnitzte Masken von Göttern und Dämonen, gefälschte Markenwaren, balinesische Massagen und Sonnenuntergänge in Öl oder Acryl – kurz: die vom Herrgott aus dem Garten Eden zu harter Arbeit unter graue nördliche Himmel verbannten Nachfahren von Adam und Eva finden, „last minute“ durch die touristische Hintertür ins Paradies zurückgekehrt, Unheimliches.

„Det dauernde blöde Jelächle jeht mir uffn Jeist“, knurrt der Berliner, „det machen die doch bloß, weil se eim ihrn Schund uffquasseln wolln“. 

In seiner Weltstadt ist er gewohnt, den um Auskunft oder einen Dienst bittenden Fremden abzufertigen, wenn er stört. „Herz mit Schnauze“ heißt das und beruht auf einem Missverständnis. Der Berliner teilt es mit vielen seiner Landsleute. Nur weil sie „ehrlich“ sind, weisen schlechte Manieren keineswegs auf höhere Moral. Und Handeln und Feilschen sind keine unreinen Tätigkeiten, sondern lebenswichtige und die Kultur prägende soziale Wechselbeziehungen. 

Hierzulande muss Angestellten im Supermarkt meist egal sein, ob der Kunde mit oder ohne Gespräch seine Einkäufe absolviert; für die Preisgestaltung sind sie nicht verantwortlich, sie sollen schnell sein, dürfen keine Fehler machen, und solange der Laden halbwegs läuft, ist relativ egal, wie wechselhaft und barsch sich der Austausch mit Kunden gestaltet. Sie nicht als Störenfriede zu behandeln, kann anstrengen. Das merkt man bisweilen. 

Lob des Feilschens

Tatsächlich handelt es sich um ein tiefgreifendes Problem in den menschlichen Verhältnissen, den „Umgangsformen“. Denn halbwegs friedliches Zusammenleben ist ohne Feilschen, ohne Verhandeln unmöglich. Die natürliche Verschiedenheit oder gar Gegensätzlichkeit von Bedürfnissen lässt sich nämlich in der Regel auf zweierlei Art behandeln: 

  • Indem man die eigene Position brachial durchsetzt – was aggressiv-dominanten Persönlichkeiten bisweilen sadistische Lustgefühle bereitet – oder 
  • indem man die Position des anderen akzeptiert und halt so lange feilscht, bis eine beide Seiten zufriedenstellende Lösung gefunden ist. 

Dabei wechseln die Rollen von Führendem und Geführtem – wie in der Spiegeletüde, Sie erinnern sich? Man kann sich auch ergebnislos trennen, wenn Gegensätze nicht verhandelbar sind, und dennoch den Respekt voreinander wahren.

Wenn ich also partout das Bündel Ansichtskarten vom Tempel Tanah Lot nicht kaufen will, das mir abwechselnd von Vierjährigen oder Greisinnen – lächelnd – entgegengestreckt wird, dann kann ich bestimmt, aber freundlich, ebenfalls lächelnd, ablehnen und meines Weges gehen. Es tut meinem Respekt vor Kinderaugen und grauem Haar keinen Abbruch, dass tausend Touristen wegen der gleichen Ansichtskarten das gleiche Lächeln gilt. 

Respekt vor allem, weil diese freundlichen Balinesen so vollkommen für sich selbst verantwortlich sind. Sie handeln, um zu überleben. Es gibt für sie auf der paradiesischen Insel kaum eine Aussicht auf Anstellung und „gewerkschaftlich verbriefte Rechte“. Schon gar keine auf Versorgung. Sie konkurrieren auf engstem Raum miteinander um winzige Margen. Morgens stellen sie ihren Göttern und Ahnen aus Bananenblättern geflochtene Schälchen mit Opfergaben hin: Reis, Kekse Räucherwerk, manchmal ein Stück von einem Hamburger und eine Zigarette. Sie beten um einen erfolgreichen Tag und wenden sich erwartungsvoll denjenigen zu, die ihnen etwas von ihren Gütern abhandeln sollen.

„Du musst handeln“, sagte mir eine junge Frau auf dem Markt, sofort nachdem sie ihren Preis für einen Sarong genannt hatte. Ich bot ein Viertel.

„Oh Bankrott! Bankrott!“ sie lachte und ging um 20 Prozent herunter. Wir einigten uns knapp über der Hälfte des Anfangspreises. Mir ist klar, dass der Gewinn gering sein musste, aber der Spaß war groß – auch für die Nachbarn. 

Den deutschen Angestellten aber hat die Freude am Geschäft misstrauisch gemacht. Hätte er nicht womöglich günstiger kaufen können? Wurde er hier übervorteilt? Von den lächelnden Gesichtern getäuscht? Argwohn schwillt auf. Das Lächeln erscheint ihm als Grinsen und das nächste Kind mit Ansichtskartenbündel herrscht er an. Sein Englisch ist ebenso lückenhaft wie das des kleinen Balinesen, aber Ton und Miene sind eindeutig und das Gesicht des Kindes verschließt sich, es wendet sich ab.

„Jetzt komm schon“, sagt seine Frau, der das ganze peinlich ist, und zieht ihn weiter.

„Na ja“, grollt der ehrliche Weltstädter, „is doch wahr. Die sin ja wie Schmeißfliejen!“

Den kleinen Jungen mit den Ansichtskarten erreicht der barsche Ton des Fremden emotional. Er begreift nicht – und kann nicht begreifen – wodurch er ihn verdient haben soll. 

„Nonverbale Missverständnisse“ stehen allzu oft am Anfang katastrophaler Verläufe in den menschlichen Beziehungen. Denn die Signale richten sich sehr direkt an unsere Gefühle und wenn Verletzungen – sei es auch durch falsche Interpretation solcher Signale – erst einmal entstanden sind, lassen sie sich auch mit noch so geduldigem Appell an das verständige Bewusstsein des Gekränkten schwer heilen.

Diesen Beitrag im Wurlitzer anhören:

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von open.spotify.com zu laden.

Inhalt laden

Alternativ können Sie den Podcast auch bei anderen Anbietern wie Apple oder Overcast hören.

– Lesen oder hören Sie die vorherige Episode hier –

Beitrag teilen …

Der nächste Gang …

Michael Klein Blog

SPD: Trümmerfrauen und Ampelmännchen

Dietrich-Eckardt-Blog

Die Handlungsnormen

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fill out this field
Fill out this field
Bitte geben Sie eine gültige E-Mail-Adresse ein.
You need to agree with the terms to proceed