Sind Gesetzbücher notwendig?

Protokolle der Aufklärung #47

Das Allerheiligste in den „Rechtsstaaten“ ist der Raum, in dem die Werke aufbewahrt sind, die die gesellschaftlichen Regulative und ihre Exegesen enthalten. Dort ist festgelegt, was wir tun sollen und was nicht. 

Gewöhnlich ist eine auf dem Weg der kandidatengebundenen Listenwahl auserkorene Obrigkeit für die Schöpfung der Handlungsnormen zuständig (mehr dazu hier). 

Das Arbeitsergebnis der Obrigkeit ist kodifiziert in sogenannten „Gesetzbüchern“. Zweck der Kodifikation sollte sein, den Normen eine gewisse Durchsichtigkeit und Dauerhaftigkeit zu geben. 

Nun stellt sich die Frage: Wie müsste ein freiheitskonformer Kodex von Handlungsnormen beschaffen sein?  

Schöpfung der Handlungsnormen

Neben den Regulativen für bestimmtes Handeln, den Geboten, gibt es noch solche dagegen: die Verbote. Gebote schaffen Eigentum (und damit positives Recht), Verbote schützen es. Es sind also keine „abstrakten Regeln …, die den Bereich der Mittel abgrenzen, die jeder für seine Zwecke verwenden darf“, wie der Jurist Friedrich von Hayek noch glaubte. Es sind die ganz konkreten Handlungsnormen Gebot und Verbot. Sie sichern das Nutzungsmonopol bei Gütern, die sich im Eigentum befinden (dazu mehr in meinen Sandwirt-Beiträgen „Das Gewähren und das Dürfen“ und „Die Handlungsnormen“).

In den beiden Sandwirt-Beiträgen „Rechtsschöpfung als Selbstgesetzgebung“ und „Der Schutz des positiven Rechts“ habe ich gezeigt: Gebote und Verbote müssen nicht in einem zentralen Institut erzeugt werden, sondern können aus der „sozialen Basis“ herauswachsen. In einer wahrhaft freien Rechtsgemeinschaft müssen sie das sogar. Im ersten Fall kann das via Geschenk (Erbschaft) und Vertrag geschehen, im zweiten durch Ableitung aus dem Rechtsschutzaxiom „Schädigung von Fremdeigentum ist verboten“. Ein Beweis dafür, dass es positive Rechte geben kann, die nicht aus Geschenken oder Verträgen entstehen, fehlt bis heute. Genauso steht es mit dem Beweis, dass es rechtsschützende Regeln geben kann, die nicht aus dem Rechtsschutzaxiom (der „Goldenen Regel“, siehe unten) ableitbar sind.

Der Gerechtigkeitsanspruch verlangt: Sowohl Gebote als auch Verbote müssen eingehalten werden. Und die Unvollkommenheit im Umgang mit der menschlichen Freiheitsbegabung verlangt: Verbote müssen erzwungen werden können. Nur gewaltbewehrte Abwehrrechte (Verbote) können das Recht auf freie Lebensentfaltung (lesen Sie dazu auch meinen Sandwirt-Beitrag „Das Naturrecht der Freiheit“) in dem Rahmen sichern, in dem es geboten wurde und ausgelebt werden darf. 

Die Vertragsmuster

Für die Inanspruchnahme eines positiven Rechts durch ein Ich bedarf es der Zustimmung eines Du, und zwar immer desjenigen Du, dem aus dem Ich-Recht eine Pflicht erwächst. Mit der Zustimmung des pflichtbelasteten Du ist nur zu rechnen, wenn die Pflichtübernahme (etwa als Gegenleistung für etwas Geleistetes) auf der Basis eines frei geschaffenen Gebots erfolgt. Das Gebot ist die Domäne positiver Rechtsschöpfung.

Über die individuell über Verträge und Geschenke zustande gekommenen Gebote hinaus gibt es in einer freien Rechtsgemeinschaft keine positiven Handlungsnormen. Sie entstehen insgesamt an der „Basis“ der Gesellschaft. Kodizes dafür dürfen deshalb nur Zusammenstellungen von unverbindlichen Empfehlungen sein – als Hilfe für die Rechtsschöpfer an der „Basis“. Die können dann aufgrund dieser Empfehlungen in eigener Regie und eigener Verantwortung ihre Rechte und Pflichten festlegen. Idealer Satrap ist deshalb, wer positive Handlungsregeln nur vorschlägt, niemals aber vorschreibt. 

Es ist wohl möglich, und das geschieht gewöhnlich auch, dass eine irgendwann einmal entstandene positive Handlungsnorm zur Sitte wird. Vor aller gegenwärtigen Neuschöpfung von Recht gibt es überall einen tradierten Sittenkodex. Der stammt meist aus mündlicher Überlieferung und ist fest im Allgemeinbewusstsein verankert. Freiheitskonform ist er aber nur, wenn darin ausschließlich abdingbare Gebote enthalten sind. Andernfalls wird Sitte schnell zum Zwangsapparat. 

Beruht private Rechtsschöpfung auf der ungezwungenen Anerkenntnis der Normen, die als Sitte bereits bestehen, bleibt das Freiheitsprinzip „Gesetzgebung nur an der sozialen Basis“ gewahrt. Eine Sitte muss der Rechtsfreiheit nicht entgegenstehen. Diesbezüglich relevant wird sie erst, wenn mit ihr fremdbewirkter Zwang ins Spiel kommt, sie insofern ein oktroyiertes Gebot ist.

Aus der exakt begründbaren Forderung, dass es bei einem freiheitlichen positiven Recht keinen anderen Gesetzgeber geben darf als das jeweils Recht setzende Individuum, folgt, dass es bei der Kodifizierung dieses Rechts keine erzwingbaren Normvorgaben geben darf, sondern nur solche, die zur freien Disposition gestellt sind. Man nennt diese daher gewöhnlich „dispositiv“. Sie sind quasi nur Ratschläge. Und die besten Ratschläge sind die, welche man auch ausschlagen darf. 

Die heutigen „Zivilgesetze“ sind nur zum Teil dispositiv. Hier finden wir viele Regeln, die z. B. durch Bußgelder oder durch Beugehaft erzwungen werden können. 

Sofern die positiven Verhaltensnormen (Gebote) nur aus Geschenkurkunden und Verträgen stammen, enthält ein vernunftgerechter Rechtskodex nur Anregungen dazu. Eine Sammlung positiver Normvorgaben wird daher kein Kanon in der Art eines „Gesetzbuchs“ sein können. Sie ist das Reflexionsprodukt erfahrener Fachleute. Vielleicht könnten Richter diese Arbeit als Nebenbeschäftigung zusätzlich zu ihrer angestammten Profession leisten. Sie würden damit ein tradierbares Kulturgut des Rechts schaffen, einen allgemein verfügbaren Gestaltungsrahmen, der sich weiterentwickeln und optimieren ließe. 

Mit einem von jeder Vorbestimmung unabhängigen Kodex des Rechts sind bestimmte Vertragsformen zur freien Verfügung gestellt. Die Vertragspartner müssen sich nicht für jeden Einzelfall den Kopf zerbrechen. Sie ersparen sich Neuschöpfungen. Kompetente Fachleute haben für sie nachgedacht. 

In einem verbindlichkeitsfreien Rechtskodex wären demzufolge nur Muster aufzulisten. Es wäre der freien Entscheidung der Rechtsparteien überlassen, sich eines solchen Musters oder Teilen daraus zu bedienen. Dann stellte der Rechtskodex eine Normensammlung dar, die genutzt werden kann, nicht aber genutzt werden muss. 

Die sogenannten „Heidelberger Musterverträge“ sind ein Beispiel für eine Kodifizierung dieser Art. In der heutigen (Heidelberger) Form sind sie jedoch für die freie Rechtsgemeinschaft untauglich. Dies deshalb, weil sich ihre Autoren an den zentral geschaffenen und zum großen Teil verbindlichen Rechtskodex der Obrigkeit halten müssen. Und dieser ist streckenweise obligatorisch und kann erzwungen werden. Er lässt keine Gestaltungsfreiheit – auch nicht für die Autoren der Heidelberger Verträge.

Rechtsfreiheit gibt es nur, wo das Ich beim Setzen seiner positiven Handlungsnormen ganz und gar unabhängig ist. Alles andere artet aus in mehr oder weniger ausgeprägtes „Befehlsrecht“ (Hans Kelsen). Von Dritten erzwungene Normen positiven Verhaltens kennzeichnen eine Diktatur (mehr dazu in meinem Sandwirt-Beitrag „Das Diktatorische in der Gesellschaft“). 

Konkretes positives Recht ist stets an bestimmte reale Situationen gebunden. Es sollte verschwinden, sobald die Situationen nicht mehr bestehen. Denn dann wird es nicht mehr gebraucht. Mit der restlosen Erfüllung oder Aufkündigung der Verträge, die das Recht hervorgebracht haben, wird es nichtig. Insofern ist das Ich nicht nur Rechtsschöpfer, sondern auch Rechtsvernichter. Das Problem des Sterbens überholter Regulative ist damit auf natürliche Weise gelöst. Ihre Anzahl wächst nicht ins Uferlose, wie in heutigen Gesellschaften. Positives Recht bleibt auf das beschränkt, was von den Individuen privat und temporär vereinbart wurde. 

Der Verbotskanon

Verbote hemmen bzw. unterdrücken unerwünschte Teile menschlichen Verhaltens. Man nennt solche Teile gewöhnlich Rechtsverstöße (siehe meinen Sandwirt-Beitrag „Der Schutz des positiven Rechts“). Rechtsverstöße bewirken in der Regel eine Schädigung von Eigentum und damit die Eliminierung positiven Rechts. Diese Aussage lässt den Begriff „Rechtsverstoß“ jedoch noch inhaltsleer. Er sollte konkretisiert, d. h. durch Tatbestände gefüllt sein. Eine Aufstellung von Tatbeständen würde Akte wie Diebstahl, Raub, Verschmutzung, Störung, Zerstörung, Verwundung, Tötung usw. enthalten. 

Die Gesamtheit der Rechtsverstöße – jeder von ihnen verbunden mit einem Verbot – bildet einen Verbotskanon. Dieser Kanon beinhaltet keine Vorschläge im Sinne der oben beschriebenen Vertragssammlung. Er enthält Vorschriften. Die in ihm aufgeführten Bestimmungen dienen allein der Abwehr unrechten Handelns. 

Um bei der Unterschiedlichkeit der Rechtsverstöße die Übersicht zu wahren, ist es nützlich, ihren Kanon so zu gestalten, dass erstens darin möglichst alle Tatbestände aufgelistet sind. Er sollte zweitens so abgefasst sein, dass kein wild zusammengewürfeltes Konglomerat von Begriffen besteht, sondern ein geordnetes System. Ein System beseitigt das Fragmentarische und Unübersichtliche, das die bloß zufällige Ansammlung von Begriffen kennzeichnet. Und nicht zuletzt: Der Kanon sollte nur Notwendiges enthalten. Denn Überflüssiges schwächt das Notwendige. 

Der Verbotskanon einer schlüssig organisierten Rechtsgemeinschaft kulminiert in einem einzigen Satz: Schädigung fremden Eigentums ist verboten. Inbegriffen ist das menschliche Leib-Eigentum. Der Satz ist das Rechtsschutzaxiom (Murray Rothbard: „Nichtaggressionsaxiom“). 

Im Grunde kommt eine Rechtsgemeinschaft mit dieser einen rechtsschützenden Regel aus. Aus ihr können, falls dies notwendig erscheinen sollte, alle speziellen Verbote per Subsumption erzeugt werden. Deshalb ist bei den Verboten ein umfänglicher Kanon eigentlich überflüssig. Denn diese eine Regel verbietet überall das Gleiche: physische Schädigung bei anderen Menschen. Ihre konsequente Anwendung reicht aus, Eigentum zu schützen. Sie ist auch bestens dazu geeignet, unsinnige Verbote zu entlarven, also Verbote, die nur der Laune des Verbietenden geschuldet sind. 

So reicht das Rechtsschutzaxiom völlig aus, um die Praxis und ihre Beurteilung zu leiten. Sein Inhalt ist dem Inhalt der Goldenen Regel äquivalent: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem Anderen zu.“ Diese Regel steht ebenfalls im Singular und beinhaltet trotzdem den gesamten Rechtsschutz. Die konsequente Anwendung des Rechtsschutzaxioms reicht aus, um der Gesellschaft einen festen Ordnungsrahmen zu schaffen. 

Der Ordnungsrahmen

Der Grundsatz „Schädigung fremden Eigentums ist verboten“ lässt mir die Wahl: Entweder ich verbiete mir die Schädigung, oder die Anderen verbieten sie mir und setzen gegebenenfalls Gewalt gegen mich ein. Sowohl im ersten als auch im zweiten Fall bezieht sich die Handlungsnorm auf das Ich. Im ersten Fall ist es das moralbewusste, im zweiten das furchtsame Ich, also jenes, das vor den Folgen des Rechtsverstoßes zurückschreckt. 

Ein Verbotskanon kann also aufgrund eines persönlichen Entschlusses als individuelle Verhaltensnorm dienen. Er ist dann ein Mittel zur Selbstdisziplinierung. Er gibt mir Antwort auf die Frage, was ich an Spontaneität bei mir unterdrücken muss, falls ich das Menschenrecht (Naturrecht der Freiheit), das jedem ein Lebensrecht zugesteht, als Handlungsmaxime für mich akzeptiert habe. Es hilft mir bei der Konkretisierung dessen, was man Imperativ der Fairness nennen könnte. Das ist ein Befehl, den man sich selbst gibt.

Der Verbotskanon kann aber genauso gut ein Regulativ für die Aktivitäten einer Ordnungsmacht sein. Zwischen Ordnungsmacht und Moral gibt es keinen Unterschied in der Zielsetzung. Sie unterscheiden sich lediglich im Gebrauch der Mittel. Wo die eine mit Selbstzwang auskommt, setzt die andere auf den Fremdzwang.

Der Ordnungsrahmen einer Gesellschaft kann, muss aber nicht, in Kodizes festgeschrieben sein. In einer dezidiert freien Rechtsgemeinschaft muss seine Devise jedenfalls lauten: Ordnung ja, Unterordnung nein. Erst dann ist er keine Geheimwaffe einer justiziell aufgerüsteten Obrigkeit gegen ahnungslose Untertanen. 

Die Existenz eines Axioms beim Rechtsschutz erübrigt eine Regelung, die einen Täter schont, weil vielleicht im Verbotskanon zur Tatzeit ein spezieller Verstoß noch nicht aufgelistet war („Rückwirkungsverbot“). Denn jedes Fehlverhalten ist jedem Rechtsgenossen aufgrund der Kenntnis des Axioms von vornherein bekannt. 

Zur Beachtung des Rechts muss man nur wissen, was das Eigene ist und was das der Anderen. Das Bewusstseinsniveau, welches „Mein“ und „Dein“ zu unterscheiden vermag, darf schon bei Kindern und geistig Behinderten vorausgesetzt werden. Weil das Rechtsschutzaxiom der Quell für alle vernunftgerechten Verbote ist, sollte es allen Rechtsgenossen möglichst früh bekannt gegeben werden.

Der Bedarf

In einem schlüssig-human organisierten Rechtswesen gelten keine Gebote, die nicht auf Schenkung oder Vertrag beruhen. Und es gelten keine Verbote, die nicht ausdrücklich Eigentum schützen. 

Freie Rechtsgenossen benötigen lediglich: 1. Ein System unverbindlicher Muster als Vorlagen zur individuellen Vertragsgestaltung – ausgehend von bestimmten Grundsätzen (Handlungsnorm „Gebot“); 2. Die allgemein verbreitete Kenntnis des Rechtsschutzaxioms (Handlungsnorm „Verbot“); 3. Lehrbücher, in denen über die wichtigsten Rechtsbegriffe aufgeklärt wird und die so abgefasst sind, dass ihr Inhalt schon im frühen Alter (vor Eintritt in die Rechtsmündigkeit!) erlernt werden kann. 

In den Lehrbüchern sind einerseits Phänomene wie Kauf, Schenkung, Vertrag, Miete, Fahrzeug, Pflicht, Familie usw., andererseits die oben erwähnten Tatbestände (Raub, Diebstahl, Tötung, Betrug usw.) in klare und deutliche Begriffe gefasst. Als solche disziplinieren sie das Rechtsdenken nicht nur der Justiz, sondern von jedermann. 

Für ein freiheitskonformes Statuarisches Recht benötigt man die derzeit existierenden „Gesetzbücher“ nicht, diese vor Inhaltsfülle berstenden Folianten, deren Texte an Unübersichtlichkeit und Systemlosigkeit kaum zu übertreffen sind. Oft stehen sie ihrem eigentlichen Zweck, den Normen eine gewisse Durchsichtigkeit und Dauerhaftigkeit zu geben, im Wege. Auf ihnen wächst das Advokatentraumland, das wir heute haben. Wir erinnern uns: Auch das spätrömische Reich war ein solches – kurz vor seinem Untergang.Eckardt-Freie-GesellschaftDer Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt die Buchreihe „Die freie Gesellschaft und ihre Entstellung, Band 1-4“ veröffentlicht.

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