Protokolle der Aufklärung #32
Im Zuge seiner radikalen Kritik am klassischen Liberalismus schreibt der Freiheitsphilosoph Max Stirner: „Dass der Mensch frei sein müsse, daran glauben Alle; darum sind auch Alle liberal. Aber der Unmensch, der doch in jedem Menschen steckt, wie dämmt man den? Wie stellt man’s an, dass man nicht mit dem Menschen zugleich auch den Unmenschen freilässt?“
Die Freiheitsromantik der deutschen Vorrevolutionszeit hatte diese Fragen in den Hintergrund gedrängt. – Mit den Inhalten meiner drei Sandwirt- Protokolle „Die zwei Seiten des Ich“, „Die Freiheit des Ich“ und „Die Gesellschaftlichkeit des Ich“ sind wir gut darauf vorbereitet, eine Antwort zu finden.
Die Goldene Regel
Friedrich II von Preußen, der sich offenbar auch über seinen interpersonalen Kontakt und den Umgangsstil seiner Untertanen Gedanken gemacht hatte, erklärte in einem seiner philosophischen Essays, dass Moral auf Dauer keine Chance habe, wenn sie nicht im Ich und seiner „Eigenliebe“ fundiert sei („Die Eigenliebe als Moralprinzip“, Werke Bd. 8).
In dieser Schrift rückt er die altehrwürdige Goldene Regel in den Mittelpunkt seiner Argumentation: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Diese Regel befindet sich später dann auch in der Erstausgabe der französischen Revolutionsverfassung. Friedrich benennt die wichtigsten Folgerungen, die sich aus dieser Regel für ein normgerechtes Handeln ergeben.
Ist mit der These Friedrichs unwidersprechlich festgeschrieben, dass die Goldene Regel die Moralität im strengen und eigentlichen Sinne begründen kann? Immanuel Kant verneint das. Denn die Goldene Regel verlangt nur: Wenn ich nicht will, dass mir jemand Schaden an meinem Eigentum zufügt (auch an meinem Leib-Eigentum), dann soll ich Gleiches diesem auch nicht antun.
Die Satzkonstruktion „Wenn …, dann“ deutet an: Die Goldenen Regel benennt einen hypothetischen Imperativ. Kant vertritt zurecht die Ansicht, dass Moralität – verstanden als grundsätzliche innere Einstellung eines Menschen – nicht auf einem hypothetischen, sondern auf einem kategorischen Imperativ gegründet sein muss. Das ist unabhängig davon, in welcher Form sich dieser Ausdruck verschafft. (In den Schriften Kants befinden sich ca. 20 verschiedene Fassungen seines Imperativs, die nur leicht voneinander abweichen – mit einer Ausnahme; siehe unten)
Die Goldene Regel setzt bei allen Handlungen die Überlegung voraus, ob es für mich nützlich sei, bestimmte Verhaltensweisen mit Schädigungspotential zu vermeiden. Sie beruht offensichtlich auf dem Utilitaritätsprinzip. Deshalb weigert sich Kant, sie zum Moralfundament zu machen. Ihm zufolge geht es bei der Moralität nicht um eine nützliche oder sozial akzeptable Handlungsweise, also um moralkonformes Verhalten, sondern um eine innere Haltung.
Aus der Ablehnung der Goldenen Regel als Moralprinzip kann nun aber nicht gefolgert werden, dass die friederizianische Verkoppelung von Eigenliebe und Moral zu verwerfen sei. Warum lag der preußische König mit seinen Thesen nicht so weit weg von der Wahrheit als man Kant zufolge annehmen müsste? – Erinnern wir uns an die Inhalte der oben genannten Sandwirt-Beiträge!
Das Bekenntnis zum Ich
Mit dem Bewusstwerden unserer Spontaneität geht unser Ich-Erleben über das Sinnliche hinaus. Für unser Spontanzentrum haben wir kein Sinnesorgan. Deshalb ist es für uns physisch nicht fassbar. Das Erleben unserer Spontaneität kann nur im Wort „Ich“, also nur symbolisch, für uns zum Objekt werden.
Mit dem Ich-Sagen hat der Mensch sein Ich, sein Ego ausdrücklich, wenn auch nicht als real zu verortendes Phänomen. Mit dem Ich-Bewusstsein wird er – so könnte man diesen Sachverhalt dem Wort getreu ausdrücken – zum Ego-Isten.
Wer mit dem Wort „Egoismus“ etwas Unerwünschtes oder gar moralisch Bösartiges benennen will (das Ich, dieser dunkle Despot!), dem bleibt dies unbenommen. Er muss aber zugestehen, dass er sich damit vom ursprünglichen Wortsinn weit entfernt hat. Dieser Sinn ist schlicht und wertfrei „Eigenbezogenheit“, „Ichgerichtetheit“, „Beisichselbstsein“, und nicht etwa Rücksichtslosigkeit, Ellenbogengebrauch, Egomanie, Überleichengehen oder Ähnliches. Jedes Individuum präsentiert schlicht und unverdeckt sein Spontanzentrum, wenn es „ich“ sagt.
Die Frage ist nun, ob der Mensch zu seinem Spontanzentrum, seinem Ego steht, oder ob er es verdeckt. Der kindliche Egoismus ist unverdeckt. Die Ich-Offenheit des Kindes erscheint als überaus sympathisch. Diese Offenheit geht in unserem Kulturkreis im Laufe des Älterwerdens verloren. Der Egoismus wird zum ungeständigen Egoismus. Vor dem Hintergrund heutiger Moralvorstellungen wird er zum Wahrhaftigkeits-Problem.
„Es gibt zwei Arten von Egoisten: diejenigen, die ihren Egoismus zugeben – und wir anderen“ (Walter Mathau in dem Film „Extrablatt“). Dieses Bonmot sagt treffend, was Sache ist: Das Ich als Spontanzentrum menschlichen Lebens ist keine Angelegenheit des Erkennens, sondern des Bekennens. Das Ich hat kein Sein im Sinne einer Naturgegebenheit. Es verdankt seine Existenz dem Dazu-Stehen.
Das Bekenntnis zum Du und zum Wir
Das Bekenntnis zum Ich ist zugleich das Bekenntnis zum Du – und damit zum Wir. Inwiefern? – Aufgrund der bewussten Du-Konstitution nimmt der Mensch das andere Ich gewissermaßen in sich auf. Aus dem Anderen, dem bloßen Alter, wird das Alter-Ego. Auf diese Weise macht das einzelne Ich, von Natur aus selbst Ego-Ist, auch das Alter (den Anderen) zum Ego-Isten. Die bewusste Du-Konstitution erlaubt, sich dem Egoismus des Anderen voll zuzuwenden. Der Egoismus des Ich wird zum Altruismus. So ist der intelligible Egoismus die Voraussetzung für den Altruismus.
Gedopt durch überkommene Moralvorstellungen übersehen wir leicht, dass erst die bereinigte Beziehung des Ich zu sich selbst, also der pure Egoismus, die Plattform abgibt für einen unverfälschten Altruismus. Weil Papier geduldig ist, hat es nicht gegen das viele Geschreibsel rebelliert, das es bisher über „den Egoismus“ auf sich laden musste, der angeblich zum Altruismus konträr steht.
Auf nichtphysischer, also rein geistiger Ebene sind Ich, Du und Wir identisch. Alle drei Personalpronomen bezeichnen in gleicher Weise das Spontanzentrum des Menschen. Deshalb schließt das Bekenntnis zum „reinen“ (intelligiblen) Ich das Bekenntnis zum Du und damit zum Wir ein. Das Bekenntnis zum Du und zum Wir ist mit dem Bekenntnis zum Ich eng verbunden, weil beide ihre Existenz als Person einem „Ich-Transfer“ (anlässlich der Du-Konstitution) verdankten. So ist das Bekenntnis des Ego zu sich selbst der Ausgangspunkt, sich zum Du und zum Wir zu bekennen.
Das Ich muss derart uneingeschränkt zu sich selbst stehen, dass es sich voll und ganz als intelligible Instanz erfassen kann. Dann kann es aufgrund der eigentümlichen Art der Du-Konstitution – in Gestalt eines Ich-Transfers – auch das Du als intelligible Instanz erfassen, und zwar nicht als Persönlichkeit, sondern als Person. Ist die Du-Konstitution nicht mit vollem Bewusstsein erfolgt, dann hat das Ich das Du, das Alter-Ego, noch nicht voll und ganz in sich aufgenommen. Der Altruismus ist noch nicht Teil des Egoismus.
Oben war gesagt worden, dass das volle Ichbewusstsein niemals auf einen Akt der Erkenntnis, sondern auf einen Bekenntnisakt zurückgeht. So kann auch das Erleben des Du – weil es auf einem Ich-Transfer beruht – nur aus einem Bekenntnisakt bestehen, also einem Dazu-stehen. Das eine ist, das Du als real gegenüberstehende Persönlichkeit (habituell) zu erkennen, das andere, sich zum Du als Person (intelligibel) zu bekennen.
Die bewusste Du/Wir-Konstitution
Für den Entschluss, zum Ich zu stehen, also zum Spontanzentrum aller Menschen, ist ein voll entwickeltes Bewusstsein erforderlich. Im kindlichen Ich-sagen meldet sich beim Menschen zwar schon Ich-Bewusstsein. Aber erst das volle Bekenntnis zum Ich ermöglicht den Zugang in jene intelligible Sphäre, in der Ich, Du und Wir identisch sind. Das Ich-Bekenntnis wird zum Du- und Wir-Bekenntnis. Damit ist nicht nur gesichert, dass das Ich will, dass es sich selbst besitze, sich seiner Natur gemäß entwickle, seine eigenen Ziele erkenne und verfolge, dass das Ich will, dass es aus sich und für sich selbst sei. Sondern dass dies alles auch für das Du und das Wir gilt. Es muss gelten aufgrund der in meinem Sandwirt-Beitrag über die Gesellschaftlichkeit (s. o.) herausgearbeiteten Identität von Ego und Alter-Ego.
Fast alle im Abendland aufwachsenden Menschen „sind des Egoismus nicht geständig“, meint Max Stirner. Wir erleben immer nur „den Egoisten, der kein Egoist sein möchte, und sich erniedrigt, d. h. seinen Egoismus bekämpft … um ‚erhöht zu werden‘, den unfreiwilligen Egoisten“.
Aussagen dieser Art haben zu den abstrusesten Missverständnissen geführt, vor allem der Schriften Stirners. Dieser gilt für Viele als der Prophet abgründigster Unmoral und Enthemmung, so etwa für Karl Marx, Friedrich Engels, Carl Schmitt, Jürgen Habermas und viele andere. All diese Menschen glauben, die Philosophie Stirners vernichte die kulturellen Grundlagen des Abendlands und seiner Moral. Dabei verkennen sie völlig, wie streng sie uns zügelt, uns zum eigentlichen Sein und Mit-Sein erhebt. Das tut sie gerade deshalb, weil sie eine „Umwertung aller [der abendländischen] Werte“ einleitet, die dann Friedrich Nietzsche expressis verbis vollzieht.
Selbst in seiner primitivsten und rohesten Form hat der Egoismus etwas Positives. Denn auch dann ist er bestrebt, das menschliche Leben zur größtmöglichen Blüte zu bringen. Dies ist die bemerkenswerte Erkenntnis des großen Pädagogen und Menschenforschers Johann Heinrich Pestalozzi.
Ich will die Motive und die eigentümliche Seelenstruktur jener Propheten, die die Ichbezogenheit des Menschen mit den abgründigsten Worten geißeln, nicht näher unter die Lupe nehmen. Das tut bereits in gebotener Schärfe die Gesellschaftsphilosophin Ayn Rand.
Ich will auch nicht den historischen Gründen nachgehen, durch welche sich die abendländische Geistesgeschichte in den wohl eklatantesten ihrer Widersprüche verwickelt hat, den Widerspruch zwischen Verherrlichung der Selbstfindungsidee einerseits und der Verdammung der Selbstbezogenheit als „unmoralische Selbstsucht“ andererseits.
Die Person als Selbstzweck
Das Bekenntnis zum Ich schließt den Anspruch ein, nicht immer nur Mittel für Andere sein zu sollen, sondern auch für sich selbst. Das ist der Anspruch, Mittel für eigene Zwecke gebrauchen, also Selbstzweck sein zu können.
Das Ich muss als erstes auf sich selbst hören, um überhaupt so etwas wie Selbstzweckhaftigkeit zu entdecken. Es kann dies, nachdem es sich konsequent zu seinem Ego bekannt hat. Nur bei mir – in der Position des Ego-Isten – erlebe ich, was es heißt, Zweck für sich selbst zu sein. Und erst dadurch bin ich in der Lage, einen Selbstzweck als solchen zu erfassen.
Die bewusst erlebte Selbstzweckhaftigkeit des Ich ist die Voraussetzung dafür, sich auch der Selbstzweckhaftigkeit des Du bewusst zu werden. Bevor ein Ich alle anderen als Selbstzweck anerkennen kann und diese als eigenständige Ego-Isten behandelt, muss es wissen, was „Selbstzwecksein“ überhaupt bedeutet. Und das lernt es nur bei sich.
Zusammen mit dem „Ich-Transfer“ hin zum Du kann dann auch der Selbstzweckcharakter des Ich in das Du transferiert werden. So wie die bewusste Ich-Habe zugleich das Bekenntnis zum Ich als Selbstzweck ist, ist auch die Du-Habe das Bekenntnis zum Du als Selbstzweck. Von da an verbietet sich jeder Versuch, das Du als Mittel für eigene Zwecke gegen dessen Willen zu gebrauchen. Es verbietet sich jede Manipulation, die ja bekanntlich zugunsten eigener Zwecke und zulasten von Fremdzwecken erfolgt.
Gibt es das Du für das Ich nicht als das andere Ich (als Person), dann wird es nur als Ding unter anderen Dingen angesehen werden können. Dieses Ding ist als Mittel für eigene Zwecke zwar nützlich, an sich selbst aber nicht zweckhaft.
Mit der bewussten Du-Konstitution billigt das Ich das Du mit eigenständiger und besonderer Zweckhaftigkeit, und zwar so, wie es auch sich selbst als Zweck billigt. Es duldet den Egoismus des Du neben seinem eigenen. Es wird den Anderen natürlich auch als Mittel für eigene Zwecke brauchen, aber nur, wenn der sich dafür freiwillig hergibt, z. B. anlässlich eines Vertragsabschlusses (Übernahme von Vertragspflichten, die dann dem Ich Rechte verschaffen).
Egoismus und Altruismus
Nicht nur der Egoismus, sondern auch der Altruismus basiert also, sofern der Andere als intelligibles Du und nicht bloß als Körper erfasst wird, gleichfalls auf einem Bekenntnis: als Anerkenntnis des Egoismus des Du. Moral ist nichts anderes als die „Ethik der Anerkennung des Anderen“, sagt Ulrich Beck. Sie basiert darauf, dass das Du als Du ganz bei mir ist, und zwar auf dem Boden eines unverfälschten Bekenntnisses zum allgemeinen Egoismus.
Damit sind wir wieder bei der These Friedrichs des II.: Moral, soll sie real werden, wird im Egoismus begründet sein müssen. Ob aber die von ihm herangezogene Goldene Regel dazu taugt, ist seit Kant in Zweifel zu ziehen. Sicher ist aber, dass diese Regel als Fundament für die von Hajek sogenannte „negative“ Handlungsnorm dienen kann, nämlich als allgemeines Fundament der Verbote (s. meinen Sandwirt-Beitrag „Die Handlungsnormen“). Für die Begründung der Moral als Gesinnungssache – und darauf kommt es Kant an – taugt sie jedenfalls nicht.
Die noble Einstellung, Andere nicht nur als Mittel, sondern auch als Zweck zu sehen, ist prinzipiell jedem Menschen möglich. Dafür muss er aber sein Ich-Bewusstsein so weit vorangebracht haben, dass er das Du als Ich mit eigenem Sein in sich aufnehmen kann. Dann ist die Du-Konstitution, und damit auch die Wir-Konstitution, nicht nur der soziale Grundakt (s. mein Sandwirt-Beitrag „Die Gesellschaftlichkeit des Ich“), sondern zugleich auch der ethische. In jener Wir-Sphäre, die sich aus dem intelligiblen Ich herausbildet, ist das meta-physische Kollektiv „Menschheit“ zugleich auch ein ethisches Kollektiv. Diesen Ausdruck fand ich zuerst bei Adolf Gasser, dem legendären Verfechter der Kommunalautonomie.
Immanuel Kants Imperativ
Kant hat – und das ist im Zusammenhang mit der vorliegenden Problematik äußerst wichtig – seinen kategorischen Imperativ unter anderem auch so formuliert: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“
Diese Version seines Imperativs enthält den Begriff „Allgemeinheit“ nicht. Deshalb ist sie für die Begründung einer Ethik bei weitem tauglicher als die vielzitierten anderen Versionen. Diese sind, weil sie allgemeine Legalität beanspruchen, nur als Fundament für das Verbotsrecht zu gebrauchen (s. o.). Das Gebotsrecht hingegen, das aus Geschenken und Verträgen entsteht, ist nicht allgemein!
Bei einem Imperativ der soeben zitierten Lesart ist nicht einzusehen, warum es nach Kant einer so genannten „moralischen Pflicht“ bedarf. Und man wundert sich, dass Kant eine solche in sein System einbaut. Die Notwendigkeit dafür besteht nicht. Unabdingbar hingegen ist das bewusst vollzogene Bekenntnis zum Ich – und damit zum Du bzw. zum Wir. Es schließt das Bekenntnis zur Selbstzweckhaftigkeit eines jeden Menschen ein.
In Kants Werken findet sich der Begriff „Bekenntnis zur Moralität“ nicht, obwohl er auf der Basis seiner Ethik heraus entwickelt werden kann. Offenbar konnte er sich nicht dazu durchringen, einen Bekenntnisakt zum Fundament der Moral zu machen. An dessen Stelle setzt er seine „moralische Pflicht“. Damit zeigt er keinen Weg, der zu dem oben zitierten Imperativ führt, der ja von ihm selbst so formuliert wurde.
Moral und Wille
Unser Handeln bemessen wir an den Normen „moralisch gut“ oder „moralisch böse“. Als gut oder böse erscheint das Ich sowohl in Berührung mit der Welt, als auch – und vor allem – bei der Begegnung mit anderen Menschen. Das Ich mag zwar – veranlasst durch irgendwelche Nützlichkeitserwägungen – dem Selbstzweck eines Anderen ab und zu Genüge tun. Aber das macht es nicht zwingend zu einem moralischen, vielleicht zu einem moralkonformen Wesen. Erst ein klares Bekenntnis, also ein freier Willensakt bahnt den Übergang von der Moralkonformität zur Moralität.
Im normal-bürgerlichen Leben muss der Mensch kein Moralapostel sein. Hier muss er nur vermeiden, Gebotenes aufzuzwingen und Verbotenes zu tun, auch im familiär-intimen Bereich. Dafür reicht die Goldene Regel. Sie bemächtigt, bestimmte sozial unerwünschte Ziele, auf die sich der Wille ausrichten könnte, als nichtig zu erklären.
Moral im eigentlichen Sinne geht über die Goldene Regel hinaus. „Der Mensch nämlich ist nicht dazu bestimmt, einzelne sittliche Handlungen zu verrichten [Goldene Regel], sondern ein sittliches Wesen zu sein“, so heißt es bei Friedrich Schiller in seiner Schrift „Anmut und Würde”.
Moral bezieht sich – hier teilt Schiller die Auffassung Kants – auf die innere Einstellung („Gesinnung“) eines Menschen. Und die entsteht aus einem bewusst vollbrachten Willensakt: dem Bekenntnis zum allumfassenden Du und seiner Selbstzweckhaftigkeit.
Die bewusste Du-Konstitution (Ich-Transfer) ist ein aktiv vollzogener Akt. Somit ist das bewusste Bekenntnis zum Du ein willentliches Ereignis. Das Erfassen des Anderen als Du ist eine Angelegenheit des Wollens und nicht des Erkennens. Eine bekenntnisfreie, also eine von Willensakten unabhängige Ethik kann es nur geben, wenn ihr Fundament erkennbar ist.
In seinen Spätschriften zeigt Kant ausführlich, dass sich Ethik nicht auf unsere Erkenntnisvermögen, sondern allein auf unseren Willen gründen lässt. Er musste diese Vermögen bis in seine äußersten Winkel hinein ausleuchten, um herauszufinden, wo das Reich des Erkennens aufhört und das Reich des Wollens beginnt.
Kant hat gezeigt, dass die Bewusstseinsentwicklung des Menschen einen großen Sprung tun muss, um zu begreifen, dass es zwei völlig unterschiedliche Aspekte unseres Daseins gibt: zum einen unser Erkenntnisvermögen zum anderen unser freies Willensvermögen.
Der Wille des Menschen ist zweifellos autonom (s. mein Sandwirt-Beitrag „Die Freiheit des Ich“). Er muss sich deshalb zur Moralität klar und deutlich bekennen. Das heißt konkret: aus freien Stücken alle Handlungen unterbinden, welche die angestammten Rechte der Anderen beschneiden bzw. deren Eigentumsnutzung behindern. Anderenfalls bleibt „Moral“ immer nur eine Nützlichkeitserwägung oder die Furcht vor der Gewalt einer höheren Instanz.
Weil das Bekennen ein Akt unseres Willens ist, ist die bewusste Du- und Wir-Konstitution eine freie, durch den analytisch kultivierten Intellekt bewirkte Entscheidung. Dass der Andere erst durch ein Bekenntnis, also durch eine aktive Geistesleistung zu einem mit mir identischen Ego wird, ist von größter Bedeutung für den Umgang mit ihm. Denn der Umgang ist vor allem auch durch die Art und Weise bestimmt, in der das Ich mit sich selbst umgeht (z. B. Selbstachtung als Basis für Fremdachtung).
Moral und Freiheit
Die von Kant begrifflich nicht nur als negativ, sondern auch als positiv herausgearbeitete Freiheit kann – als autonome Spontaneität des Menschen und somit als besondere Form von Kausalität – eine gewaltige und im Grunde nicht zu drosselnde Macht in der realen Welt entfesseln. Und dies, obwohl sie real nicht zu fassen ist. Damit ist klar, dass sie die Menschen nicht nur zum Guten, sondern auch zum Bösen treiben kann. Der Mensch ist aufgrund seiner Freiheit (qua Spontanautonomie) zur größten nur denkbaren Boshaftigkeit fähig, ein Potential, das wir bei anderen Naturwesen nicht beobachten.
Als Kant der Tatsache gegenüberstand, dass diese besondere Form der Kausalität sich in allen gutartigen, aber auch in allen bösartigen Facetten in der Realität auswirken kann, bis hin zur Bestialität, muss ihm das einen gehörigen Schrecken eingejagt haben. Anders ist nicht zu erklären, dass er mit ungewöhnlich großer Eindringlichkeit und hohem emotionalen Engagement neben die schlichte Vertragspflicht eine ganz andere Art von Pflicht setzt, nämlich die moralische. Die moralische Pflicht heiligt er geradezu.
Die positive Freiheit verlangt, dass der moralische Befehl, den man seinem Handeln gibt, „kategorisch“ ist. Das Kategorische kann nirgendwo sonst gründen als in einem klaren und unerschütterlichen Bekenntnis. Sonst kommt man vom Bösen nicht los. In diesem Punkt ist Kant unbedingt zuzustimmen – auch dann, wenn man sich wie einige seiner Nachfolger mit dem moralischen Pflichtbegriff nicht anfreunden kann.
Da die vielen „Freiheitssüchtigen“ (so nennt Max Stirner die Liberalen) den Grund für diese unbedingte (kategorische) Bindung der Freiheit an die Moral nicht erkennen, wird man davon ausgehen müssen, dass sie über den wahren Charakter ihres ideologischen Hauptgegenstands noch nicht allzu viel nachgedacht haben. Da sie die Freiheit immer nur als „negative Freiheit“ verstehen (als Behinderung der Eigenspontaneität), haben sie zwar schnell die Unmoral der Anderen im Blick, die sie beschwert, aber nicht die eigene (als Autonomie der Eigenspontaneität), die die Anderen beschwert.
Diesen Beitrag im Wurlitzer anhören:
Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von open.spotify.com zu laden.
Alternativ können Sie den Podcast auch bei anderen Anbietern wie Apple oder Overcast hören.