Protokolle der Aufklärung #40
Den Geldbegriff hatte ich Schritt für Schritt entwickelt über die Erklärung der Phänomene „Bilateralität des Tausches“ > „unvollendeter Tausch“ >„Tilgungsversprechen“ >„Gutschein“ > „Handelswechsel“ > „Wertschrift“ > Geld (siehe Protokolle der Aufklärung #35, #37, #38 und #39). Die am Ende dieses Weges stehende Definition lautet:
Geld ist die Gesamtheit der Zahlungsmittel in Form symbolisch materialisierter, numerisch bewerteter Tilgungsversprechen, die gedeckt sind durch das Tilgungspotential hochbonider Emittenten.
Zu den hochboniden Emittenten geldkonstituierender Tilgungsversprechen zählen die Banken. Banken sind dahingehend speziell, dass sie ihre eigene Bonität, die in die endogene Geldschöpfung einfließt, via Vertrag durch das Tilgungspotential ihrer Kunden ersetzen, also durch die Bonität der Kreditnehmer (Protokolle der Aufklärung #39).
Zwar nicht die klassische, funktionale Gelddefinition (Geld als Zahlungsmittel, Wertaufbewahrungsmittel, Wertmaßstab und Rechenhilfe), aber die soeben zitierte essentiale enthält unter anderen auch, und zwar vorrangig, das Merkmal Deckung. Essentiale Definitionen, also Erklärungen, die das Wesen einer Sache offenlegen, haben die Eigenart, fundierte Ausblicke in die Zukunft zu gestatten. Das gilt auch für die Wirtschaft.
Die Bonität als Handelsgut
Es stellt sich nun die Frage: Wenn man die Deckung (Bonität des Kreditnehmers) ohnehin benötigt, um Tilgungsversprechen zu Geld zu machen, warum macht man sie dann nicht direkt zum Handelsgut? Warum bringt man sie nicht als solche auf den Markt? Warum kann man die Kaufkraft eines Menschen nicht unmittelbar an seine Bonität binden? Weshalb der Umweg über Geld – als einem Etwas, das auf Bonität beruht? Braucht man überhaupt Geld zur Bezahlung von Sachgütern? – Die „nackte“ Bonität, also das Güterlieferpotential und nicht erst das auf ihm basierte Tilgungsversprechen, könnte doch genauso gut zum Handelsgut werden.
Ein Handel ohne Geld wäre dann nicht mehr der Tausch Güterlieferung (etwa eines Küchengeräts) gegen Güterlieferung (etwa eines Geldbetrags), sondern der Tausch Güterlieferung gegen Güterlieferpotential. Wir befänden uns in einer Welt, in der nicht Güter inkl. Geld gehandelt (getauscht und geliehen) werden, sondern Güter und Güterlieferpotentiale (Bonitäten). Diese Potentiale gelangen bisher immer vermittelt über einen Kreditvertrag in den Tausch, sollten aber auch ohne solche Vermittlung auf den Markt kommen können.
Auf den folgenden Seiten wollen wir uns in eine Wirtschaft ohne Geld so hineinversetzen, als wäre sie bereits Realität. Dann zeigt sich:
Liquidisierung und Deliquidisierung von Bonität
Das Güterlieferpotential erscheint ohne Zwischenschaltung von Geld als Kaufkraft des Wirtschaftssubjekts. Der Mensch kauft also mit einer seiner Eigenschaften: der Bonität. Nicht das Geld, sondern die Deckung des Geldes (Bonität) geht in den Gütererwerb (Tausch) ein. Geld und Bankensystem haben auf dem Markt keine Funktion mehr und verschwinden. Mit ihnen verschwindet auch der theoretische Schwachsinn, der sich um diese Institutionen inzwischen rankt. Der Handel zwischen einer Währung und einer anderen (Finanzspekulation) entfällt. Und der Traum von der sogenannten „reinen Wirtschaft“ des Franz Oppenheimer, des Lehrers von Ludwig Erhard, nimmt Gestalt an.
Der Handelsverkehr hat sich wieder an die „ökonomische Basis“ verlagert, ohne Mitwirkung von Banken und Behörden. Die Vorgänge verlaufen ähnlich wie beim elementaren und ursprünglichen Sachgütertausch. Der Unterschied zu diesem ist: Die Wirtschaftssubjekte tauschen nicht mehr nur mit realen Gütern, sondern mit Güterlieferpotentialen (Bonitäten). Monetisierung und Demonetisierung von Lieferversprechen entfallen. Sie werden ersetzt durch Liquidisierung und Deliquidisierung von Liefervermögen (Bonität).
Schenkung, Kredit, Erwerb und Zins
Alle Güterliefervermögen des Wirtschaftssubjekts, die einen Nutzwert haben und deshalb marktgängig sind, werden liquidisiert. Die Liquidisierung wird neben dem Liefervermögen von bereits existierenden Gütern („Besitztümern“) auch solche umfassen, mit denen Güter erst hergestellt werden. Sie erstreckt sich mithin auch über das Gütererzeugungsvermögen, z. B. eine Berufsqualifikation. Die Gütererzeugungsvermögen erweitern das Güterliefervermögen.
Auch die Deliquidisierung bezieht sich auf individuelle Güterliefervermögen. Sie erfolgt immer dann, wenn die Marktteilnehmer Güter erwerben oder wenn sie Bonität delegieren, etwa in Form von Schenkungen oder Krediten.
Beim Erwerb eines werthaltigen Gutes erleiden die Marktteilnehmer einen wertgleichen Abschlag ihrer Bonität. Der Mensch erfährt also – allerdings nur in seiner Rolle als homo oeconomicus – eine Wertminderung seiner Person! Sein Güterhort hingegen gewinnt an Wert. Ähnliches geschieht bei einer Schenkung oder einer Kreditvergabe. Auch Kreditoren erfahren eine persönliche Wertminderung. Sie erhalten an dessen Stelle eine gleichwertige Forderung gegenüber dem Kreditnehmer – als Ausgleich für ihren vormals eigenen personalen Wert. Für den numerischen Umgang mit Werten muss man allerdings weg von der „Geldrechnung“ des Ludwig von Mises und zurück auf die ursprüngliche „Wertherechnung“ des Friedrich von Wieser.
Liquidisierung und Deliquidisierung werden dokumentiert in Auf- bzw. Abnotierungen von Wertmaßeinheiten in einem zentralen Register. Das Register befindet sich bei einer Clearingstelle. Sie ist für allfällige Bonitätstransfers zuständig und deshalb die organisatorische Voraussetzung für die Funktionstüchtigkeit eines geldfreien Marktverkehrs. Für ihre Registrierungs- und Transferarbeit erhalten ihre Betreiber ein Honorar, d. h. ein Bonitätszuschlag zulasten der jeweiligen Auftragsgeber.
Der Interbankenverkehr, bei dem die Geldtransfers zwischen den Wirtschaftssubjekten auf einem (gegenseitigen) Befehlsweg zwischen den Banken stattfinden, entfällt. Stattdessen gibt es einen Direkttransfer zwischen den Marktteilnehmern. Der Transfer schlägt sich nieder als elektronisches Datum im Register der Clearingstelle. Aufgrund dieser Einrichtung und dieses Verfahrens ist die Wirtschaft ein in sich geschlossenes System – ohne das Subsystem „Finanzwirtschaft“.
Transfers von Werteinheiten zwischen Wirtschaftssubjekten finden ausschließlich innerhalb der Wirtschaft statt: als direkte Übertragung von Subjekt zu Subjekt. Auch jede Schenkung oder jede Kreditierung erfolgt zwischen den Wirtschaftssubjekten unmittelbar. Schuldverhältnisse gibt es nur noch an der „Basis“ der Wirtschaftsgemeinschaft, also zwischen den einzelnen Wirten. Sie können sich auf die Lieferung von Sachgütern beziehen oder auf Arbeitsleistungen.
Die Analyseergebnisse in den Aufklärungsprotokollen #37 und #38 zeigen, dass das Kreditieren Geld zwar hervorbringt, aber der prämonetären Sphäre des Handels angehört. Bleibt also Handel erhalten, wird auch das Kreditieren erhalten bleiben. Besondere Bedeutung hat es für die Erzeugung einer Anfangsbonität bei Marktneulingen.
Die Vergabe eines Kredits mutiert zu einer speziellen Form von Bonitätstransfer. Sie ist ein privater Akt zwischen zwei Wirten, ein Geschäft auf der Basis einer individuellen Vereinbarung. Die im Geldverkehr notwendige Unterscheidung zwischen Kredit ersten und Kredit zweiten Grades entfällt.
Ein Kreditgeschäft wird nach seinem endgültigen Abschluss meistens einen Wertaufschlag bei der Bonität des Kreditgebers bewirken. Dieser wird weiterhin „Zins“ (= Gebühr für die Nutzung fremder Bonität!) heißen können. Bei der Erörterung des Zinses (#37) hatten wir gesehen, dass der Zins in keinem Wesenszusammenhang mit Geld steht. Insofern muss er mit dem Geld auch nicht vom Markt verschwinden.
Bonitätsprüfung und Analysten
Die Kreditierung erfolgt aufgrund einer Bonitätsprüfung. Ohne das Vorhandensein eines Erbes oder zumindest einer Berufs- bzw. Arbeitsfähigkeit ergibt solche Prüfung keinen Sinn. Wer z. B. als Kreditor die Prüfung nicht selbst vornehmen will, delegiert sie an eigens dafür ausgebildete Fachleute, die man mit gutem Grund Analysten nennen könnte. Eine Gesellschaft kann bankenfrei wirtschaften, aber nicht ohne exquisite Analysten. Diese erhalten für ihre Arbeit ein Honorar von den Kreditoren (auch hier als Zuwachs ihrer persönlichen Bonität). Das Honorar wird von den Kreditoren meist weiterverrechnet.
An der Professionalität ihrer Arbeit haben die Analysten größtes Interesse. Denn sie müssen für Fehlentscheidungen bei ihrer Tätigkeit persönlich haften. Sie bürgen gewissermaßen für die ökonomische Güte der Kreditnehmer. Durch die Selbsthaftung kann die Gefahr gebannt werden, dass individuelles Versagen einen Schaden bei anderen erzeugt. Also muss es bei den Analysten eine ihrem Risiko angemessene Haftungsreserve geben, die entweder individuell (durch vorhandene, äußerst hohe Bonität) oder per Assekuranz zu gewährleisten ist.
Analysten sind exquisite Ökonomen. Aber nicht nur das. Sie müssen auch über ein enormes technisches Wissen verfügen. Dies vor allem deshalb, weil die Bonitätsprüfung auch die Ermittlung und Bewertung der Güterproduktionspotentiale eines Wirtschaftssubjekts umfasst. Die Analysten sitzen deshalb nicht in irgendwelchen Bankhäusern und studieren an Akten oder Computern, sondern bewegen sich überall dort, wo Wirtschaft wirklich stattfindet und wo man die Dinge unmittelbar beobachten kann. Nur vor Ort gewinnen sie einen genauen Einblick in das Markt- und Produktionsgeschehen. Diesen benötigen sie insbesondere für die Beurteilung eines Marktneulings.
Übrigens: Die Analysten dürften die rührigsten und effektivsten Kreditoren sein. Denn sie kennen ihre „Schäfchen“ am besten und können deshalb mit dem Kreditieren bei relativ geringem Aufwand gute eigene Bonitätszuwächse erzielen.
Evaluation und Quantifikation
Für die numerische Bewertung benötigt man auch in der geldfreien Wirtschaft die Evaluation und die Quantifikation, also einen Wertmaßstab und ein Zahlensystem. Der Wertmaßstab wird nicht nur zur Bewertung real vorhandener Güter, sondern auch zur Bewertung jener Vermögen genutzt, welche Güter herstellen, also zur Bewertung der Gütererzeugungspotentiale. Der Maßstab sollte global verwendbar sein. Die Bonität eines Wirtschaftssubjekts kann ja nicht an einer x-beliebigen Stelle der Welt eine andere sein. Sie ist kein nationengebundener Status.
Das Anbieten von Geld ist ersetzt durch das Angebot, ein Teil der eigenen Bonität zu opfern und in die Bonität eines anderen Handelspartners zu übertragen. Dadurch wird dessen persönlicher ökonomischer Wert erhöht. Der Liquiditätsminderung beim Sachguterwerber korrespondiert ein Liquiditätszuwachs beim Sachgutlieferanten. Der Zuwachs muss stattgefunden haben, bevor das Sachgut ausgeliefert wird. Damit ist vorab erwiesen, dass die Bonität des Käufers ausreicht, um das Sachgut zu erwerben. Insofern macht der Erwerb und die Auslieferung eines Sachguts erneute Bonitätsprüfungen überflüssig.
Vor Markteintritt muss ein Wirtschaftssubjekt eine bestimmte Anfangsbonität besitzen. Die kann durch ein Geschenk (Erbschaft) oder durch einen Kredit auf Basis einer Bonitätsprüfung entstehen. Die Bonität wird als numerischer Wert in das Register der Clearingstelle eingetragen, quasi als Startvermögen. In der Folge erhöht sich dieses Vermögen nur durch Bonitätstransfers, d. h. anlässlich einer Schenkung oder eines Kredits, aber auch durch Verkauf von Gütern und Leistungen. Es vermindert sich ebenfalls durch Schenkung oder Kredit, aber auch durch Einkauf von Gütern und Leistungen.
Kaufkraft als Vermögenswert
In einem geldfreien Handelsverkehr kann jedes Wirtschaftssubjekt so viele Güter vom Markt abrufen und zur Eigennutzung in Beschlag nehmen, wie ihm aufgrund seiner geprüften und im Clearingregister verzeichneten Bonität zustehen. Seine jeweilige Bonität ist seine aktuelle Kaufkraft.
Hier wird deutlicher sichtbar als in meinen früheren Sandwirt-Beiträgen: Die Kaufkraft ist kein Merkmal des Geldes, wie viele Geldtheoretiker glauben, z. B. auch Ludwig von Mises, sondern eine persönliche Eigenschaft von Menschen. Sie ist ein Merkmal der Marktteilnehmer. Aus dem bisherigen ergibt sich nämlich: Weil die Substanz des Geldes eine Deckung durch Leistungspotentiale ist, die Deckung aber nichts anderes als ein menschliches Vermögen, ruht eigentlich in diesem Vermögen die Kaufkraft des Geldes. Aus dieser Erkenntnis kann eine Weiterentwicklung des Marktgeschehens profitieren.
Käufer, Kreditoren und Mäzene sind verantwortlich für die Erhöhung der Kaufkraft eines einzelnen Wirtschaftssubjekts. Der persönliche Konsum des Subjekts ist verantwortlich für den Niedergang seiner Kaufkraft.
Alle Marktteilnehmer haben im digitalen Bonitätsregister ihr elektronisches Vermögensfach. Dieses ist zugleich ihr digitales Portemonnaie („Wallet“). Aus ihm kann jede Vergütung als Transfer einer bestimmten Anzahl von Wertmaßeinheiten („Value Tokens“) vorgenommen werden. Die Einheiten sind vergleichbar mit den „Bonitäts-Scores“ von Unternehmen wie Schufa, Bonify und Boniversum. Ihr Symbolismus unterscheidet sich aber von dem der letztgenannten Institute dadurch, dass sie irgendwelche valvative Charakteristika der Marktteilnehmer nicht nur benennen, sondern darüber hinaus handfeste Vermögenswerte („Assets“) darstellen. Diese sind real übertragbar, wenn auch nur in elektronischer Form.
Einloggen in das Clearing-Register erfolgen durch Nachweis der persönlichen Identität. Dabei spielt es keine Rolle, wie dieser Nachweis erbracht wird. Es kann auch ein Fingerabdruck sein. Ein Finger geht in der Regel nicht verloren, anders als z. B. eine Kreditkarte oder eine ID-Nummer.
Vorteile des geldfreien Marktverkehrs
Das aufwendige Rechnungswesen entfällt. Für eventuelle Beweiszwecke speichert die Clearingstelle die Daten aller am Markt vollzogenen Transfers (Smart Contracts).
Die Insolvenz eines Wirtschaftssubjekts ist schon im Gefahrenstadium für alle sichtbar: Die Bonität geht gegen Null. Ist die Null erreicht, kann dieses Subjekt kein Marktteilnehmer mehr sein. Deshalb wird es Konkurse und die damit verbundenen kostenträchtigen und ressourcenvernichtenden Verfahren nicht geben. Sie sind ersetzt durch die Abschaltung der Person im Bonitätsregister. Die Abschaltung ist die Aufforderung (quasi der Befehl), den Markt zu verlassen und gegebenenfalls in ein Leben jenseits des Marktes hinüberzuwechseln.
Alle Maßnahmen zur gekünstelten Verknappung der Finanzmittel sind überflüssig. „Geldpolitik“ wird ersetzt durch die exquisite Ausbildung der Analysten. „Ewige Schuldner“ mit verschleiertem wirtschaftlichen Explosivpotential gibt es nicht.
In der geldfreien Wirtschaft verlieren Begriffe wie Inflation und Deflation als branchenübergreifende dauerhafte Preisveränderung ihren Sinn. Eine solche Wirtschaft kann jedoch – genau wie ihre Vorgängerin heute – allfällige Konjunkturschwankungen nicht verhindern. Denn z. B. der Kaufwille der Individuen ist eine Größe, die unberechenbar ist und auch in Zukunft unberechenbar bleiben wird. Eine Gesellschaft mit gesunder Wirtschaft wird damit leben müssen und auch damit leben können.
Eine geldfreie Handelspraxis ist erst dann ohne Rückhalt zu etablieren, wenn die Vergütungen sämtlicher Güter, insbesondere der kollektiven (die heute sogenannten „öffentlichen Güter“), einzelleistungs- und verbrauchsbezogen erfolgt und nicht pauschal, z. B. in Form einer Einkommens- oder Vermögensbesteuerung. Dann wird die Frage bedeutungslos, ob die Daten des Systems, die sich in der Clearingstelle befinden, öffentlich oder nur privat zugänglich sein sollen. Nur Eines ist unverzichtbar: Sie müssen abgesichert sein gegen jede Form von Manipulation.
Der heutige Giralverkehr trägt – rein technisch gesehen – schon viele Züge der soeben beschriebenen Wirtschaftspraxis, unterscheidet sich von ihr aber wesentlich. Die Bonität kommt, wenn überhaupt, dabei nur vermittelt ins Spiel, und dann auf dem Wege über ein bescheinigtes Versprechen. Dessen Substanz wird oft nicht oder nicht zureichend geprüft, z. B. beim sog. „Überziehungskredit“.
Ein Markt, auf dem Leistung gegen Leistung getauscht wird, meistens Leistung gegen Leistungspotential (Bonität), kann diesen Missstand ein für alle Mal beheben. Voraussetzung dafür sind strenge Bonitätsprüfungen bei allen Marktteilnehmern und exakte, gesicherte Verrechnungsmechanismen. Mit Geld als Tauschmittel wäre eine Wirtschaft nur dann gesund, wenn es vollständig durch Leistungspotential gedeckt ist. Nur dann hat Geld einen ungetrübten Bezug zur realen Welt und ihren Sachgütern. In Wirtschaftsgemeinschaften, in deren Finanzwelt Bonitäten nicht korrekt ermittelt werden, können sich immer wieder machtbegünstigte Gruppen einschleichen, denen es gelingt, auf Kosten anderer zu leben.
Der Autor dieses Artikels hat in der Edition Sandwirt die Buchreihe „Die freie Gesellschaft und ihre Entstellung, Band 1-4“ veröffentlicht.
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2 Kommentare. Leave new
Der vorliegende Text ist ein erkenntnisreicher, ökonomisch sauber durchkonstruierter Beitrag zum Verständnis der modernen Geldordnung – und darüber hinaus: ein gedanklicher Brückenschlag hin zu einer bonitätsbasierten, geldfreien Wirtschaft.
Dietrich, Dir gelingt es, in systematischer Stringenz die Phänomene des Tauschverhältnisses, der Schuld, der Tilgung, des Gutscheincharakters und der numerischen Bewertung von Leistungsversprechen zu einem neuen Geldbegriff zu synthetisieren, der letztlich die Aufhebung des Geldes selbst nahelegt. Deine Definition von Geld als „symbolisch materialisierte, numerisch bewertete Tilgungsversprechen, gedeckt durch das Tilgungspotential hochbonider Emittenten“ trifft den Kern moderner Kreditgeldwirtschaft präziser als so manche „klassische“ Definition.
Die konsequente Fortführung dieser Logik in eine geldfreie Marktwirtschaft – mit Bonität als unmittelbares Handelsgut, Clearingstellen als Knotenpunkt der Verrechenbarkeit und Analysten als prüfende Instanz – verdient höchste Anerkennung. Die Vorstellung, dass der Markt durch die Liquidisierung und Deliquidisierung von Bonität betrieben werden kann, befreit nicht nur von den institutionellen Pathologien heutiger Banken, sondern entzieht auch der Illusion von „neutralem“ Geld den Boden.
Und doch möchte ich – in gegenseitigem Respekt und wohlwollender Kritik – einige grundsätzliche Fragen aufwerfen:
1. Wer schützt den Menschen vor der Technik des Marktes?
Wenn Bonität zur marktentscheidenden Größe wird, tritt der Mensch als Person hinter sein Leistungsprofil zurück. Was geschieht mit dem, der scheitert, krank wird, keine Anfangsbonität besitzt? Wird das Scheitern in einem digitalen Bonitätsregister nicht zur endgültigen Exklusion aus der ökonomischen Welt? Wird hier, unbeabsichtigt, das System der Marktteilnahme selbst zum Richter über das Leben?
2. Wer kontrolliert die Clearingstelle?
Auch wenn die Geldschöpfung durch Banken in deinem Modell entfällt – entsteht hier nicht eine neue Machtzentrale? Wer entscheidet über die Sicherheit der Daten? Wer verhindert Missbrauch, Manipulation, Intransparenz? Ist nicht jede Instanz, die alle Bonitäten eines Marktes führt, zwangsläufig ein machtanfälliger Knoten?
3. Wie bleibt Eigentum geistig – nicht nur numerisch?
Du gehst vom Menschen als Wirtschaftssubjekt aus – berechtigt. Doch was ist mit dem Menschen als Geistträger? Als selbstdenkendes Wesen mit Eigentum an sich selbst? Wenn alle Werte durch Analysten bemessen, übertragen und verrechnet werden – bleibt dann noch Raum für Würde außerhalb ökonomischer Bewertbarkeit?
4. Wer vergibt Gnade, wenn Bonität alles ist?
In einer auf Bonität reduzierten Ökonomie verschwindet der Raum für das Nicht-Messbare: für Vertrauen, Fürsorge, Gnade, Verzicht. Doch eine Gesellschaft, die alles verrechnet, aber nichts mehr vergibt, wird effizient – aber erbarmungslos.
Ich halte dein Modell für einen dringend notwendigen Denkanstoß – eine reale Alternative zur gegenwärtigen Entwertung durch inflationiertes Geld. Doch ich glaube: Eine geldfreie Wirtschaft darf nicht bonitätsversessen werden. Sie muss den Menschen über die Bewertung stellen – nicht unter sie.
In diesem Sinne danke ich dir, Dietrich, für diesen hochintelligenten Entwurf. Und ich fordere dich heraus – zum Weiterdenken. Nicht technisch. Sondern existenziell.
Gruß Roberto
Zu Deinen Fragen:
1. Vor der „Technik des Marktes“ muss sich die Menschheit dann schützen, wenn sie kriminell wird.
Wer keine Bonität besitzt, fällt in der Tat aus dem Markt heraus – eigentlich auch heute schon. Er ist auf Geschenke angewiesen, um überleben zu können. Denn welches Leistungspotential könnte er für Andere realisieren? Es ist wichtig, sich endlich über ein schlüssig-human organisiertes Leben außerhalb des Marktes Gedanken zu machen.
2. Es kann sein, dass sich die Wirtschaftssubjekte, die in ihrer Güterabnehmerrolle wettbewerbseuphorisch und in einer freien Gesellschaft sogar wettbewerbsverwöhnt sind, aus rationalen Erwägungen heraus bei der Clieringstelle Monopolismus akzeptieren. Dann müssen sie sich aber auch schauen, wie sie die bei jedem Monopol drohende Autokratie bändigen.
3. In der Ökonomie steht die physische Seite der menschlichen Existenz im Vordergrund. Die meta-physische (Ort der Würde) ist eine andere Baustelle.
4. Auf dem Markt – als Markt! – muss immer „Raum für Vertrauen“ sein, denn z. B. die Hoffnung auf Vertragserfüllung lebt davon. Aber es war dort noch nie Raum für „Fürsorge, Gnade, Verzicht“. Auch hier gilt: Die Menschheit muss schauen, wie sie nicht nur das Leben innerhalb des Marktes, sondern auch ein Leben außerhalb des Marktes vernünftig organisiert.