Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.
Der menschliche Kosmos #19
Die Fluten weltweiter Medienproduktion halten inzwischen den Vergleich mit Ozeanen aus, und ich frage mich, ob sie nicht ebenso unberechen- wie unbeherrschbar sind. Man mag Quellen und Strömungen kennen, mag messen und berechnen, wie politische, ökonomische, ökologische Topographien beschaffen sind – mehr als Wahrscheinlichkeitsaussagen, Modelle und Simulationen der Dynamik sind dabei nicht zu erlangen. Das meiste scheint bald wieder verschwunden und vergessen wie Spuren an Sandstränden. Gibt es gleichwohl „ewige Wahrheiten“?
Zeit für Dankbarkeit
Mit dem Jahr 2024 geht die Arbeit an „Der menschliche Kosmos“ in seiner dritten Version zuende. Oliver Gorus und Spendern, Sponsoren, allen an „Der Sandwirt“ wirkenden Aktivisten der Meinungsfreiheit verdanke ich, dass sie möglich war, Leser und Hörer halfen, nicht den Mut zu verlieren. Das gilt natürlich besonders für den ersten Leser, Oliver Scheffer. Er gab nicht nur den Podcasts als Tonmeister den letzten Schliff, er übernahm auch redaktionelle Aufgaben. Mit ihm hätte ich sehr gern im professionellen Studio in Radolfzell Sprachaufnahmen „hands on“ produziert; er half mir stattdessen, mich im „Selbstfahren“ in der improvisierten Sprecherkabine zu Hause zu üben.
Nein, ich wünsche mir bestens ausgestattete Studios des SWR nicht zurück, nicht einmal die freundlichen Kollegen von der Tontechnik; beim Sandwirt habe ich Gründe dafür beschrieben. Nur soviel: Ohne Freiheit des Denkens gibt’s für mich keine Kreativität.
Das Produzieren im „Homeoffice“ war nicht immer reines Vergnügen: Solange der Regen aufs Dach trommelte, im Wettkampf zwischen Verbrennern und Elektromotoren jahreszeitlich wechselnde Geräte in Gärten und auf Wegen lärmten, dazu Baustellen und Verkehr, war ans Aufzeichnen nicht zu denken. Nachts, wenn sie ruhten, zwangen Bellmaschinen aller Rassen, bisweilen Partygäste und andere fröhliche Spätheimkehrer zum Wiederholen ganzer Passagen – natürlich just der gelungensten. Und ebenso natürlich trieben „Tückische Objekte“ mich gelegentlich an den Rand der Verzweiflung. Unbarmherzig vermerkte das Mikrofon meine Magengeräusche, im Studio sind sie für einen Lacher gut, dem „Selbstfahrer“ eine schwer beherrschbare Qual. Andererseits war der „Kosmos“ die passende Arznei gegen schlimmere Übel, insofern empfehle ich auch die letzten Seiten gerne weiter.
Schreiben ist und bleibt ein Abenteuer. Wer sich hinein begibt, sollte einigermaßen trainiert sein – die Ausrüstung kann zwischen Handschrift, alter Reiseschreibmaschine und modernster IT variieren, sie ist fürs Erreichen von Gipfeln eher Nebensache. Das wird mir immer wieder bewusst, wenn ich vor meinen Bücherschränken stehe: zutiefst dankbar. Denn dort ist versammelt, was nicht nur das Verfassen von Texten geschult, sondern mein Leben mitgeprägt hat. Begierig lesend erwarb ich mehr als Wissen, schon früh gefiel mir der Satz „Literatur stimmt die Saiten, auf denen das Leben spielt“.
Fernweh und Nahkampf
Unvermeidlich fallen mir dann die Bücherberge ein, die vor dem Laden einer namhaften Kette in der Innenstadt auf Käufer harren, Ramschware, verbilligt als Mängelexemplare oder aus anderen Gründen aus der Preisbindung entlassen. Es sind ehemalige Bestseller dabei, auch ungezählte namenlose Debütanten, die auf den Ruhm, die Verfilmung, wenigstens viele positive Rezensionen bei Amazon oder sonstwo hoffen. Vorm Regen schützen die Unverkauften, Ungelesenen, Zelte aus Plastikfolie, vorm Weg ins Altpapier nur der Zufall: Irgendwer muss sich auf sie – mindestens zeitweise – einlassen. Auch die Bücher zu Hause werden, wenn ich ihnen für immer Ade sage, in einem großen Container zur stofflichen oder energetischen Nutzung verfrachtet. An die meisten Verfasser wird sich kaum mehr jemand erinnern, aber alles überlebende Gedanken, Erkenntnisse und Einsichten machten manche unsterblich.
Alltägliches notiere ich wie in den Anfängen mit Papier und Feder. Handgeschriebene Tagebücher füllen Schub- und Regalfächer, dazu die aus dem Altdeutschen transkribierten Aufzeichnungen meiner Ur-Urgroßmutter aus dem 19. Jahrhundert. Veröffentlichen konnte ich freilich erst, als ich dem Berufsverbot und der Stasi-Überwachung entkommen war – ein Vierteljahrhundert später. Mich bedrückt, dass sowohl die Literatur wie journalistisches Schreiben heute wieder feindselige Meinungskontrolleure auf den Plan ruft. Welche gewaltigen Flotten von Aufsehern, Zensoren, Zerstörern werden künftig die digitalen Gewässer überwachen müssen, um den Mächtigen die Hoheit zu sichern? Falls die KI das übernehmen soll: Wird die elektrische Energie reichen?
Trotz allgegenwärtiger Stasi war in der sozialistischen Planwirtschaft die Produktion von Papier- und Schreibgeräten nie perfekt beaufsichtigt. Manch dissidentische Publikation schlüpfte durch. Zwei Kommilitonen von der Physikalischen Fakultät der Humboldt-Uni bewiesen das 1969 mit dem „Teuersten Flugblatt der Welt“. Es beschäftigte die Stasi jahrelang, Fahndungen nach der Schreibmaschine und ihren Nutzern verschlangen Unsummen, blieben ergebnislos und trieben die Chefs zur Weißglut. Die Geschichte von Rainer Schottländer und Michael Müller „Allein gegen die Stasi“ wurde 2008 vom RBB verfilmt, findet sich noch bei YouTube.
Freiheitsgedanken – unzerstörbar ?
Wozu habe ich diese Anekdote ausgegraben? Sie belegt, dass selbst an einer noch so rigide politisch ausgerichteten Hochschule sich Intentionalität und Mut genug finden, freiheitlich zu denken. Das steckt an. Die Geschwister Scholl taten es im Nationalsozialismus aus christlicher Motivation, die Ostberliner Physikstudenten aus Abscheu gegen die Staatsdoktrin. Mögen die Herrschenden dem Prinzip „Mehr desselben!“ oder „Strafe einen – erziehe hundert!“ folgen und die Freiheit der Meinungen, des Redens, Denkens, Forschens bis hin zu Akten physischer Vernichtung einschränken – Sie werden scheitern. Denn ausgerechnet die scheinbar flüchtige informelle Dimension in der Gleichung Leben = Materie + Information erweist sich im irreversiblen Weltgeschehen als unzerstörbar. Und deshalb sind Gedanken, Erlebtes und Erfahrenes aus der Vergangenheit sowenig zu eskamotieren wie Gesetze des Universums.
Literatur liegt in einem seltsamen Zwischenreich: Immer wenn ich mich dort lesend hineinbegebe, verwandelt sich zuvor Gelesenes: Situationen und Gestalten changieren. Nichts anderes ist zu erwarten, da ja der Leser jedes Mal ein anderer ist: Begriffe sind anders aufgeladen, neue Zusammenhänge erkannt, auch hat sich seine Erfahrung in einer Realität verändert, deren Wandel durch keine Form von Wahrnehmung, Auswertung, Simulation geistig zu fassen, geschweige zu beherrschen ist. All diese Vorgänge, das gesamte Geschehen ist im Mikrokosmos der Neuronen ebenso irreversibel – also unumkehrbar – wie das Geschehen im Universum. Das ist einerseits beruhigend, andererseits irritiert es, kann zur Verzweiflung treiben, weil sich nichts ungeschehen machen lässt. Eine Millisekunde unaufmerksamer Bewegung, die Teetasse kippt ihren Inhalt ins Notebook, es verröchelt. Die Millisekunde lässt sich nicht zurückdrehen, mit keinem noch so gewaltigen Energieaufwand. Das gilt auch im Universum der Gedanken.
Unberechenbar, unhintergehbar, unüberwindlich – Zeit
Vielleicht ist das unter den „Kränkungen“, die der Mensch während seiner Interaktion in der physischen, sozialen, psychischen Sphäre erlebt, die ärgste: dem Lauf der Zeit gegenüber ist er ohnmächtig. Er kommt von der verschütteten Tasse nicht los, einmal abgesehen davon, dass er sich mit dem Schaden befassen muss, wird er noch eine Weile – je nach Temperament – über die fatale Millisekunde stolpern, ihre Ursachen, Vermeidbarkeit, mögliche Mitschuldige…
Das Leben besteht aus einer astronomischen Anzahl solcher Momente der Entscheidung. Die wenigsten fallen bewusst. Und selbst vermeintlich bewusst getroffene beinhalten unbewusste Impulse. Im Tiefsten treffen sie sich mit den Überlebens-Algorithmen von Viren, mit der Dynamik von Elementarteilchen und Galaxien. Jeder Versuch, aus naturwissenschaftlicher Sicht daraus auf menschliches Verhalten zu schließen, geht fehl, weil in Jahrmilliarden irreversibler Prozesse eine Komplexität gewachsen ist, die sich nicht „nachrechnen“ lässt.
Mit nichts anderem beschäftigt sich aber der Mensch, wenn er Mathematik, Physik, Chemie, Biologie erforscht, um Muster zu entdecken, nach denen sich Komplexität entwickelt. Er konstruiert Modelle, Apparaturen und Gebrauchsgegenstände, mit denen er sie zu beherrschen sucht. Dabei hat er es erstaunlich weit gebracht, womit ich mich aber nicht weiter aufhalten will, denn ein Ziel – das Äußerste, in der Mythologie, Kunst, Literatur, im Film, in den Labors immer wieder anvisierte – hat er bis heute nicht erreicht: sich selbst zu erschaffen, oder einen Zwilling, ein Gegenüber, welches ihm vollständig durchschaubar, also steuerbar wäre, zugleich die Schwelle der Unsterblichkeit überschritte, wäre nur der genetische Code samt Umgebungsbedingungen zu reproduzieren.
Das freilich gelänge nur, wenn er nicht weniger als das ganze Universum neu erschüfe. Alle anderen Versuche brachten bisher nichts als Chimären, mechanische Ungetüme, kurzlebige Missgeburten und Alpträume hervor. Und doch…
Bisweilen begegnet einer Figuren und Verhaltensweisen, Ritualen, Redensarten, Konflikten, Gewalttaten einer längst vergangenen Zeit ganz direkt. Sie laufen ihm über den Weg, sie rücken ihm buchstäblich auf den Leib, sie schüchtern ihn ein oder bringen ihn zum Lachen, und das mit einer körperlich verstörenden Vertrautheit, wie sie aus Büchern, historischen Abhandlungen, niemals zu gewinnen wäre, nicht einmal aus Filmen. Nur ausnahmsweise treten ihm Personen noch einmal gegenüber, bei denen der Ausspruch „hat sich überhaupt nicht verändert“ passen würde. Vielmehr sind es Charaktermasken und Handlungen, bei denen nur die Kostüme gewechselt haben. So als ereignete sich Erlebtes – zumindest Erinnertes oder auch Geträumtes – ein zweites Mal.
Enzyklopädische Erklärungen tun das Phänomen als Täuschung des Gedächtnisses ab. Was dabei genau geschieht ist einschlägiger Wissenschaft nicht klar; sie sieht eine Korrelation zu Erkrankungen. Mystiker verweisen auf Begebenheiten „in einem früheren Leben“. Ich bliebe lieber bei real auffindbaren Zusammenhängen. Cees Nooteboom, niederländischer Autor, sagt, Erinnerung sei „wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will“. Unzählige Beispiele für optische, akustische und kognitive Täuschungen belegen, wie uns das Gehirn irreleitet.
Inseln im Chaos rauschender Eindrücke
Déjà vu erscheint weniger rätselhaft, wenn man dem Gedanken folgt, dass „Gedächtnis“ keine Ablage von Erinnerungen ist wie ein Archiv, eine Bibliothek oder irgendein Datenspeicher, sondern die ununterbrochene Bewegung eines ganzen Universums von Möglichkeiten, das sich dem realen Geschehen überlagert. Ich stelle mir eine riesigen Menschenmenge vor, darin jeder einzelne mit Reden und Handeln beschäftigt, die ich durchquere. Die ganze Zeit über empfängt mein „leibliches Gedächtnis“ – Körper und Geist untrennbar miteinander verbunden – chaotisch Eindrücke aus dem Geschehen um mich herum; aber nur bei bestimmten, musterhaften, verdichten sich die Signale zum Impuls des Erkennens. Und dieses „Erkennen“ ist nicht zwangsläufig an vorausgegangenes eigenes Erleben gebunden, sondern an die – genetisch bedingte – Kompositionsweise der Mustererkennung, an eine unüberschaubare Menge von Antizipation strategischer Wendungen, deren sich niemand bewusst sein könnte, die sich nie kausal und nach Kategorien ordnen, geschweige beherrschen ließen.
So gesehen wäre erklärbar, weshalb und wie einer träumt. Manche reden davon, etwas sei ihnen „in einem früheren Leben“ widerfahren. Tatsächlich unterscheidet das Gedächtnis nicht immer scharf zwischen real oder nur im Film, im Traum, beim Lesen oder aus dem Hörensagen empfangenen Inhalten – allerdings trennt es wichtig und unwichtig in existenziellen Situationen viel schneller als es das Bewusstsein könnte. Das kann auch schief gehen, denn die antizipierte Gefahr ist womöglich gar keine – aber Schnelligkeit geht vor, antizipiert wird „quick’n dirty“.
Weshalb schreibe ich diesen Text? Weil die enormen Informationsmengen, mit denen Menschen hier und heute überflutet werden, fast ausschließlich auf ihre Inhalte hin und auf ihren vermeintlichen Gehalt an Realität betrachtet werden. Das Wort „Fakten“ wurde zu einer Monstranz, die all diejenigen vor sich hertragen, die ihre Form der Informationsvermittlung gern unangreifbar machen möchten. In den herkömmlichen ebenso wie in den neuen, „sozialen“ Medien toben unerbittliche Kriege um Wahrheit oder Lüge, redliche Information oder „manipulierte“, um die Deutungshoheit zwischen Gut und Böse, falsch und wahr.
So weit, so ubiquitär und anthropologisch konstant. Begleiten Sie mich nun einmal – spaßeshalber – in die Welt der Träume. Dort sind Regeln der Logik und Kognition weitgehend außer Kraft. Nicht so die Antizipation, nicht die Antriebe zum Erlangen und Vermeiden, weder Ängste noch Lüste: Dort finden sich Konflikte ebenso wie Erlösendes, Beglückendes. Ich erlebe immer wieder einmal Schwerelosigkeit, kann schweben, stürze auch ab ins Leere, ohne Furcht vorm Aufprall übrigens.
Wie kostbar diese imaginären, jenseitigen Welten sind! Das Gehirn befasst sich dort nur noch eingeschränkt mit unmittelbaren Reizen; es wird vom Unbewussten, vom Erinnern, von Wünschen und Ängsten bewegt. Es muss ihnen folgen in gegenstandslose, phantastische, manchmal furchterregende Geschehnisse. Was im Alltag nicht zu merken ist – dass hinter Entscheidungen nur selten vernünftiges Abwägen steht – wird hier und jetzt universelles Programm. Alles ist möglich. Es muss nur einen Kondensationskeim geben, an den sich chaotisch schweifende Erinnerungen anheften können, egal ob sie frühkindlichem Erleben oder einer Fernsehserie entspringen. Von diesem Keim aus vernetzen und verweben sich Landschaften, Figuren, Situationen innerhalb von Hundertstelsekunden. Sie sind flüchtig, aber sie können ebenso stark wirken wie real Erlebtes.
Imaginäres trifft Realität
Jeder, der Katzen oder Hunde hält, kann sie ab und zu beim Träumen beobachten, und jeder Neurophysiologe kann Ihnen erklären, um was für eine wichtige Lebensfunktion es sich handelt. Gleichwohl rätseln Wissenschaftler immer noch daran herum, was Menschen in Morpheus‘ Umarmung geschieht. Interessant wird es, wenn das Bewusstsein für einen kurzen Moment in den Traum „hineinspringt“ – etwa um zu sagen „Du träumst ja nur!“ Man weiß heute, das manche Menschen in sogenannten Klarträumen Inhalte sogar beeinflussen können. Zweifellos existieren Übergänge zwischen Traum und Kognition, sonst kämen keine Gesprächsfetzen, gar Dialoge (allerdings meist von der schrägen Sorte) vor. Sich daran erinnern zu wollen, produziert wieder nur Bruchstücke, und bisher war nie jemand in der Lage zu überprüfen, inwieweit sie mit dem Geträumten tatsächlich übereinstimmen.
Hirnforscher wollen aufklären, was da “wirklich” geschieht. Sie wollen mittels hochpräziser Apparaturen elektromagnetische, hormonelle, zellbiologische Abläufe in Traum- und Gedankenwelten vermessen. Aber dieses “wirklich” bedeutet doch immer nur, dass mit apparativ begrenzten Methoden Daten erfasst und Modelle konstruiert werden. Diese Modelle müssten in irgendeiner Form überprüfbar sein – etwa indem man aus mit ihrer Hilfe entworfenem elektromagnetischen Geschehen einen vorhersagbaren Traum entstehen ließe, also – wie im Film „Inception“ – bewegte Bilder ins Traumgeschehen einspielte, dem der Träumer nicht entfliehen kann.
So etwas ist Wunschvorstellung aller Despoten, Geheimdienste, vieler Produzenten mehr oder weniger schlechter Sci-Fi-Texte, Filme, Spiele. Vermutlich steckt schon viel Geld in einschlägigen Forschungen. Ihre Konsequenzen gehen – was ökonomische und politische Macht anlangt – über Kernkraft, Gentechnik, IT und Internet hinaus. Sie verschärfen alle Fragen nach menschlicher Verantwortung bis tief ins Persönlichste. Aber stirbt infolge solcher “digitaler Transparenz” des Individuums nicht jedes Vertrauen, sogar das zu sich selbst?
Grenzen der KI
Damit bin ich bei einem ganz eigenen déjà vu, beim Wiedererkennen einer sehr erfolgreichen Methode der Stasi: dem „Zersetzen“ von Oppositionellen – im Sprachgebrauch des Mielkeschen Liebesministeriums „Personen mit feindlich-negativer Einstellung“. Familien, Freundeskreise, Arbeitsumgebungen wurden von Spitzeln unterwandert. Angeleitet von speziell geschulten Führungsoffizieren inszenierten sie ein Wechselspiel von Aufmerksamkeit und Fürsorge einer-, Drohung und Entzug des Vertrauens andererseits, sie streuten Gerüchte, ermunterten Denunzianten, nutzten Abhängigkeiten, erzeugten Misstrauen, erschlichen Auskünfte und Kontakte. Im Wechsel von Drohen und Versprechen, mittels Erpressung, Verführung, Einschwören auf Feindbilder, Gesinnungskitsch, kurz: einer breiten Palette psychosozialer Instrumente zermürbten sie Delinquenten, um sie seelisch zu brechen.
Das alles findet sich im Alltag heutiger Kämpfe um die Deutungshoheit, also die informelle Macht wieder; dass auch KI staatliche wie terroristische Gewalt aufrüsten kann, ist wohl unstrittig. Aber es gibt eine absolute Schranke: KI hat keinen Körper. Gefühle, „innere“ Konflikte, das komplexe psychische Geschehen fortwährender, lebenslang an genetische Voraussetzungen, Lernprozesse, Krankheit und Altern gebundener Interaktionen lässt sich nicht simulieren, schon gar nicht reproduzieren. Das Konfliktgeschehen der Welt lässt sich nicht in Körperlosigkeit auflösen – das kann nur eine Katastrophe kosmischer Ausmaße. Lebende Personen und deren Verhalten werden niemals vollständig determinier- und steuerbar sein; das gelingt nur zeitweise und durch Ziele begrenzt.
Roboter, die dank KI zu Menschen werden, sollten Sie und mich also viel weniger beunruhigen als Menschen, die zu Robotern werden. Déjà vu.
Zu guter Letzt
Viel Tröstlicheres habe ich nicht anzubieten. Immerhin komme ich am – Sie wissen schon: „vorläufigen“ – Schluss meines Nachdenkens auf zwei unverzichtbare Qualitäten: Vertrauen und Verantwortung. Gäbe es sie nicht, wäre dann ein Leben in Freiheit möglich?
Ich habe Kommunen – also Gemeinschaften in Wohnungen, Häusern, Dörfern, Stadtteilen erlebt, in denen jederzeit Schlüssel außen an der Haus- oder Wohnungstür steckten. Hilfsbereitschaft war ziemlich selbstverständlich. Mit den Worten der Praxeologie gesprochen: feindliches Handeln war in den Austauschprozessen – den Interaktionen – sehr unwahrscheinlich. Das bedeutet nicht, dass es keine Konflikte gab. Aber es galt nicht als feindselig, sie zu benennen. Fast alle vertrauten darauf, sie – nötigenfalls mit Hilfe vertrauenswürdiger Dritter – durch Verhandeln wenigstens zu entschärfen. Zweifler ließen sich meist anhand von Erfolgen überzeugen. An Sympathien, auch Antipathien änderten solche Prozesse wenig oder nichts, aber die Schlüssel blieben stecken.
Was ist das Geheimnis solcher Kommunen? Ich weiß es nicht, aber es lohnt, darüber nachzudenken. Ich vermute, dass es mit einem Phänomen menschlichen Zusammenlebens zu tun hat, das in aller Munde ist: dem Respekt. Damit meine ich die Einsicht, dass der Wert eines Menschen nicht nur von sozialen Rangordnungen – also seiner informellen Macht, seiner Reputation – abhängt. Ist es nicht auch egal, über wieviel materielle, quantifizierbare Macht er verfügt? Ist nicht vielmehr entscheidend, ob er Interessen anderer erkennt und gegen eigene abwägt, ohne sich auf Rangordnungen à la Feudalismus zu berufen, aufs bandenmäßige „wir sind mehr“ oder mit seinem Geld zu imponieren? Respekt und Vertrauen lassen sich weder erzwingen noch erkaufen.
Mit der Position des mechanischen, rechnenden, objektivierenden Subjektivismus habe ich begonnen: „Der einzelne Mensch ist ein Nichts“. Wo sie dominiert, sind feindliche Handlungen gegen jede und jeden bewehrt und gerechtfertigt durch Ideologie und Moral. Machthaber kollektivistischer, korporatistischer, etatistischer Ordnungen planen und entwickeln Feindseligkeiten aller Art – der Begriff „hybride Kriegsführung“ ist dafür geläufig. Während Stammeskriege meist spontan begannen, brachen die Weltkriege ebenso wie Waffengänge des 21. Jahrhunderts mit ihren unvorstellbare Schlächtereien wohlvorbereitet über ganze Völker herein. Jeden Tag kann sich das wiederholen.
„Der einzelne Mensch ist alles“ habe ich dagegen gehalten, und wollte mit Ihnen, verehrte Leser, gemeinsam über jenen grundlegenden Respekt nachdenken, den wir jedem Menschen schulden. Er ist als „Würde des Menschen“ in Grundrechte von Verfassungen zivilisierter Staaten eingeflossen, und er ist nur zu verstehen, wenn er die Interaktionen des Menschen mit seiner Umgebung, auch mit der Natur, umfasst. „Ehrfurcht vor dem Leben“ hat Albert Schweizer das einmal genannt. Selbst staatenbildende Insekten kennen sie anscheinend – für ihre Überlebensfähigkeit ist Kooperation unerlässlich. Ich sehe Respekt als unentbehrliche Gegenkraft zum Dominanzimpuls. In der Notwehr kann es tödlich sein, ihr nachzugeben, in anderen Konflikten hilft sie, Lösungen zu finden. Die Geschichte der Diplomatie belegt es eindrucksvoll. Zeit, einen kurzen Blick darauf zu werfen.
Als Mao Zedong ans Sterben kam, trat Erwin Wickert sein Amt als Botschafter der Bundesrepublik in Peking an. Er war 61, als Autor bekannt und geschätzt, hatte schon heikle Missionen wie die beim rumänischen Diktator Ceaușescu erfüllt. Neben einem wahrhaft gerüttelten Maß an Lebenserfahrung, Weltläufigkeit, einigem an Stehvermögen und Gerissenheit brachte er Neugier und Abenteuerlust mit. Für seine Arbeit als Diplomat hatte er einen Grundsatz verinnerlicht: „Audiatur et altera pars!“ – Man höre immer auch die andere Seite! Natürlich halfen ihm seine Kenntnisse der chinesischen Kultur und Geschichte, Kontakte zu knüpfen, immerhin in einer Zeit gewaltiger Umbrüche in China. Am Ende seiner Tätigkeit 1980 war Deutschland zu einem wichtigen Partner für Deng Xiao Ping bei dessen Reformen von Wirtschaft und Politik in der Volksrepublik geworden. Wickerts Buch „China von innen gesehen“ ist eine der Empfehlungen zur Lektüre, mit denen ich die „Sandwirt-Serie“ beschließen möchte.
Dafür gibt’s einen Grund. Das „Audiatur“ ist gerade ziemlich aus der Mode gekommen – es ist auch beinahe unmöglich, aus dem alle Sinne betäubenden Dauergeräusch der Medien vertrauenswürdige Stimmen herauszuhören. Freund und Feind reden, eifern, schreien, giften, schimpfen, pöbeln, schmähen, dass es einem die Sprache verschlägt.
Als Wickert verschiedenen Kanzlern und Außenministern diente, war der Ton rauh, Franz Josef Strauß und Herbert Wehner teilten nach Kräften aus, Filmschnipsel werden immer wieder gern gezeigt. Aber in den 80er Jahren verschoben sich die Verhältnisse: ausgerechnet der Kommunistenfresser Strauß stützte das bankrotte SED-Regime mit Milliarden D-Mark, verhandelte mit Honecker und es gab „vertrauensbildende Maßnahmen“, etwa den Abbau von Sprengminen und anderen Todesfallen an der innerdeutschen Grenze. Dabei hatte Strauß ein Jahrzehnt zuvor die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, den „Wandel durch Annäherung“, noch vehement bekämpft. Jetzt schüttelte er Hände von SED- und Stasioberen und lächelte in Kameras. Mit Sympathien hatte das – wenn überhaupt – nur insofern zu tun, dass es beiderseits schmeichelhaft war, für die Geschichte zu posieren.
Der Dritte Weltkrieg, bedrohlich nahe gerückt mit den diesseits und jenseits der Mauer stationierten Raketen mittlerer Reichweite schien – vor allem nach dem Machtantritt Gorbatschows 1985 – abgewendet. Der neue Generalsekretär der KPdSU brach den sinnlosen, opferreichen Feldzug in Afghanistan ab, setzte einige diplomatische Glanzpunkte in Sachen Abrüstung, brachte die unter dem Kürzel KSZE bekannten, sich jahrelang zähe dahin schleppenden Runden von Diplomaten in Bewegung, seine Reformen wanderten als Glasnost und Perestroika in viele Sprachen ein, Osteuropa warf die Fesseln der Moskauer Dominanz ab.
All das kommt einem heute nur noch als Intermezzo vor. Zensur, rigide Überwachung Oppositioneller, Strafrecht als politische Waffe gehören wieder zum politischen Geschäft. Jede Menge Organisationen übernehmen das, getarnt als NGO, von der Regierung oder „Stiftungen“ mit Milliardenvermögen finanziert. Kampfparolen und Kriegslüsternheit – und zwar gegen innere wie äußere Feinde – sind wieder gesellschaftsfähig. Diplomatie? Ein Blick aufs zuständige Personal in deutschen Ministerien sowohl wie in den monströsen bürokratischen Gestellen der EU und der UNO ist so desillusionierend wie der Konsum von Mainstream-Medien diesseits und jenseits der Grenzen.
Das muss auch so sein. Wären die Defizite nicht so offensichtlich, bestimmte jenes Mittelmaß, das Politbürokraten zur Macht verhalf, auf unabsehbare Zeit die Geschicke der Völker. So aber breitet sich – sehr zum Missfallen der Politbürokratie – der Wunsch nach Wandel und Neubeginn von ganz alleine aus. Und weil jetzt schon Persönlichkeiten auftreten, denen die intellektuelle und moralische Stärke dafür zuzutrauen ist, schlage ich Ihnen zum Schluss – über die im Text erwähnten hinaus – noch ein paar Bücher vor. Sie waren für mich wichtig in Konflikten und Krisen, sie stärken das Vertrauen und Selbstvertrauen der Leser, ohne ihnen Honig ums Maul zu schmieren, sie wollen es fast niemandem recht machen: Ihre Autoren sind gescheite, eigensinnige Leute, bisweilen mit schrägem Humor. Um Ihnen die Auswahl zu erleichtern, habe ich im Text ein paar Rezensionen und Artikel verlinkt:
- Beim „Sandwirt“ lese ich besonders gern die Anfang 2024 begonnenen „Protokolle der Aufklärung“ von Dietrich Eckardt. Mit Klarheit und Eloquenz klärt der Autor Begriffe und Zusammenhänge von Recht, Philosophie und Semantik. Ich halte seine Texte für eine ausgezeichnete Vorbereitung auf Debatten, die sich nicht in Polemiken um schwammige Schlagworte und moralisches Posieren erschöpfen. Nachschlagen lohnt sich.
- Einen umwerfend komischen Blick in die Zukunft wirft der seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine in Berlin lebende Wladimir Georijewitsch Sorokin. Seine surreal wuchernde Phantasie entführt nach „Telluria“, in eine schräge Welt, bevölkert von allerlei Chimären, Zwergen, Riesen, Abenteurern. Dort tun die Menschen, was sie schon immer taten und zweifellos auch in hundert Jahren „im richtigen Leben“ noch tun werden. Sie tun es mit phantastischen Gadgets, einer Art Zauberschwämmen etwa, die “Grips” heißen und das Smartphone in holographische Dimensionen erweitern, sie tun es in verwahrlosten Vierteln oder einsam im Wald. Sorokin erzählt das in mannigfachen Stilformen und Redeweisen, etwa der eines Kentauren, und ich gestehe, selten in meinem Leben bei einer Lektüre mehr gelacht, den Schmerz hinterm Sarkasmus intensiver gespürt und mich einem eigentlich Fremden näher gefühlt zu haben: „Glücklich – mit dem Nagel im Kopf“.
- Durch verständige Texte und Interviews wird Ihnen mein Kollege Klaus-Rüdiger Mai bekannt sein. Weil es für die politische Entwicklung interessant werden könnte, habe ich sein Buch über Sahra Wagenknecht gelesen und mit ihm einige Fragen dazu erörtert. Vielleicht mögen Sie ja anhand dieses Gesprächs entscheiden, ob Sie mehr über den Medienliebling des Jahres 2024 wissen wollen: „Die Kommunistin“.
- Politische Entscheidungen der Corona-Jahre sind spätestens durch die veröffentlichten RKI-Protokolle immer dubioser geworden. Der Eifer, mit dem sich Verantwortliche – die seinerzeitigen Gesundheitsminister Spahn und Lauterbach zumal – ums Verschleiern und Verharmlosen bemühen, erinnert sehr daran, wie die chinesische Führung die Hintergründe und den Verlauf des Ausbruchs von Covid-19 unter der Decke halten wollte. Liau Yiwu, der seit 2011 ins deutsche Exil flüchtete, hier schon seit vielen Jahren als Romancier bekannt ist, chinesische Gefängnisse und Straflager buchstäblich am eigenen Leib erduldete, beleuchtet sie in seinem „Dokumentar-Roman“ „WUHAN“. Ich finde ihn äußerst lesenswert, sehr spannend und ernüchternd.
- Schließlich empfehle ich Ulli Kulkes Biographie des Weltenbummlers, Diplomaten und Schriftstellers Erwin Wickert. Noch im hohen Alter stellte er sich dem Amtsverständnis des grünen Außenministers Fischer entgegen – das Buch besichtigt gleich drei Zeitalter der Diplomatie im Gelingen und Versagen. Ulli Kulke: „Erwin Wickert“
Damit verabschiede ich mich von Ihnen, Danke fürs Lesen und Zuhören – auf ein Neues.
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